Karin Ernst

Engelsbonbon

**Ein Märchen für Erwachsene**

Engel Elisabeth im Himmel ist mal wieder eingeschlafen. Zwei junge Engelmädchen, die noch nicht lange dort weilen, können sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
„Sieh doch nur! Unsere liebe Elisabeth schläft schon wieder“, flüstert eines dem anderen zu. Kichernd kommt die Antwort:
„Sie braucht mal wieder eine Aufgabe. Dann wäre sie auch nicht immer so müde.“

Elisabeth erwacht, schüttelt ihre Flügel und wirft einen milden Blick auf die beiden. Sie haben ja Recht, überlegt sie. Ich könnte wirklich mal wieder zur Erde fliegen. Vielleicht gibt es etwas für mich zu tun. Sie reckt sich einmal kräftig und macht sich auf den Weg zu Petrus.

Elisabeth hat Glück, Petrus hat gerade nichts zu tun.
„Was gibt es, Elisabeth?“, fragt er.
„Mir ist langweilig. Und häufig bin ich müde. Ich hätte so gerne mal wieder etwas zu tun“, antwortet diese.
„Du hast es doch verdient dich auszuruhen“, antwortet Petrus freundlich. „Aber wenn du möchtest, schicke ich dich hinunter.“
Petrus überlegt und überlegt und überlegt.
„Ich hab’s! Melde dich bitte in der Küche und lass dir von den neuen Bonbons eine kleine Tüte voll mitgeben. Nimm aber das pinkblaugelbe Papier, das auf der Erde momentan total IN ist“, schlägt Petrus vor. „Was damit zu tun ist, wirst du wohl wissen.“
„Aber ja“, entgegnet Elisabeth lachend. „Sooo vergesslich bin ich nun doch noch nicht.“

Sie dankt Petrus und verlässt glücklich das Zuteilungsbüro, um in die Küche zu eilen. Mit fünf in pinkblaugelbes Glitzerpapier eingewickelte Bonbons, verpackt in eine zerknautschte Papiertüte, macht sie sich nach wenigen Minuten voller Vorfreude auf den Weg zur Erde.

*
*
*

Ein Mann joggt den Weg eines Parks entlang. Obwohl er eigentlich keine Zeit mehr hat, läuft er einen Bogen, um kurz Rast auf einer Bank unter einem Baum zu machen. Die Sonne brennt erbarmungslos. Schon von fern sieht er dort jemanden sitzen, aber das ist ihm nun egal. Die Pause wird ihm gut tun.

Als er sich der Parkbank nähert, sieht er eine kleine, alte Frau dort sitzen. Sie ist in einen altmodischen Trenchcoat gekleidet, hat erstaunlich glänzende, weiße Löckchen auf dem Kopf und blickt ihm aus himmelblauen Augen entgegen.
„Guten Tag“, grüßt sie ihn.
„Hmmm“, brummt er zurück und nimmt keuchend neben ihr Platz.
„Wie nett, dass Sie sich ein wenig Zeit nehmen. Vielleicht können wir ein bisschen plaudern“, beginnt sie das Gespräch.
„Keine Zeit, keine Zeit. Ich müsste eigentlich schon in meinem Büro sein. Man erwartet mich zur nächsten Sitzung. Zeit ist für einen Chef Geld“, antwortet er mit einem leichten Seufzer.
„Es ist aber nicht gesund, es immer eilig zu haben“, antwortet die Alte mit leiser Stimme. „Dazu noch Ihr Joggen. Ich weiß nicht ….“
Zweifelnd beobachtet sie ihn von der Seite.
„Einen Bonbon werden Sie aber nehmen, oder?“, fragt sie und reicht ihm eine zerknautschte Papiertüte.
„Eigentlich esse ich während des Laufens nichts. Aber nun, ein Bonbon wird wohl nicht schaden.“
Er greift in die Tüte, nimmt sich einen in pinkblaugelbes Glitzerpapier eingewickelten Bonbon heraus, während die Frau ihm unmerklich zusieht.
„Glauben Sie an Engel?“, fragt sie.
„Nein, dafür habe ich erst recht keine Zeit“, entgegnet er. „Danke für den Bonbon. Nun muss ich aber weiter.“
Er wickelt den Bonbon aus, steckt ihn in den Mund. Plötzlich räkelt er sich genüsslich.
„Eigentlich könnte ich auch langsam zurückgehen, mir ruhig einmal Zeit lassen.“
Die alte Dame lächelt.
Nur sie weiß, welches Wort auf dem Bonbon stand: Zeit.

*

Elisabeth nickt ein wenig ein, als irgendetwas sie aufhorchen lässt. Ein junger Mann kommt des Weges. Nein, er schlurft. Dieses Geräusch lässt sie hellwach werden.

Eine ungepflegte Frisur schmückt sein Haupthaar, obwohl es voll wirkt, lockig. Er mag um die 30 Jahre alt sein, geht aber gebeugt wie ein alter Mann. Sein Gesicht wirkt gräulich, obwohl hübsch. Ungepflegte Kleidung, als sei es ihm egal, was er trägt, umhüllt ihn. Im Mundwinkel eine Zigarette, im Ohr einen Kopfhörer kommt er langsam auf die Bank zu.

Einen Moment lang bleibt er stehen, überlegt, ob er sich setzen soll. Dann geht er müde auf die Bank zu.
„Hallo“.
„Guten Tag, junger Mann. Ist heute nicht ein herrlicher Tag?“, antwortet Elisabeth fröhlich.
„So? Habe ich noch gar nicht bemerkt. Ist mir auch egal. Mir ist alles egal.“
Die Antwort kommt genuschelt, Elisabeth hat sie aber doch gehört.
„Warum ist Ihnen alles egal? Sie sind jung, sollten voller Tatendrang stecken. Die Welt steht Ihnen offen.“
„Ach, was weißt du denn schon, Alte“, antwortet er seufzend und versinkt in brütendes Schweigen.
Elisabeth lässt ihn in Ruhe, schaut den Singvögeln zu, die um die Bank herumtänzeln.

Nach einer Weile beginnt der junge Mann plötzlich zu erzählen. Irgendwas an dieser alten Frau öffnet seine Seele.
„Wissen Sie, es ging mir auch mal anders. Meine Eltern haben mich einen guten Schulabschluss machen lassen. Ich habe sogar studiert. Das Examen habe ich geschafft, obwohl mein Vater inzwischen verstorben war, mir daher keine Unterstützung mehr zukommen lassen konnte. Was ich aber auch anstelle, ich finde einfach keine Arbeit. Lebe jetzt von Sozialunterstützung. Machen andre auch.“

Er unterbricht seine Erzählung, um sich eine weitere Zigarette zu drehen und anzuzünden. Elisabeth zieht den Geruch in ihre Nase. Der Rauch erscheint ihr leicht süßlich. Nach einigen Zügen verklärt sich das Gesicht des jungen Mannes, seine Augen strahlen. Wiederum setzt er zum Sprechen an:
„Dann habe ich Leute kennen gelernt. Jungs wie mich, alle in ähnlicher Situation. Was will man machen? Einer fing an, mir ein Kraut anzudrehen. Jaja, wie das hier in der Zigarette. Es macht das Leben erträglich. Leicht, wie auf Engelsflügeln, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Leicht belustigt betrachtet er den alten Engel von der Seite. Er schweigt, lächelt aber.
„Tja, dann hören wir viel Musik. Besuchen Konzerte. Irgendwie kriegen wir immer das Geld zusammen. Leben in den Tag, wie man das in Ihren Kreisen wohl nennen würde“, fährt der junge Mann fort.
„Irgendwann war der Zug für mich abgefahren. Niemand wollte mich einstellen. Ich hatte keine Berufserfahrung, dabei muss ich sie mir doch erst erarbeiten. Aber Chefs verstehen das wohl nicht. Dabei hatte ich mal so viel Ehrgeiz und Lust, in meinen Beruf als Journalist einzusteigen. Aber es gibt einfach zu viele mit gleicher Ausbildung.“

Wieder schweigt er eine Weile und schaut den blauen Wölkchen nach, die seiner Zigarette entfliehen.
„Meine Freundin ist mir auch davon gelaufen. Sie wollte keinen Schlaffi zum Mann. Allerdings haben ihr die Gedichte gefallen, die ich geschrieben habe.“
Er öffnet seinen zerbeulten Rucksack, zieht einen zerknitterten Block hervor, nimmt einen abgebrochenen Bleistift und fängt an zu schreiben. Elisabeth beobachtet, wie sein Gesicht weich wird, er in eine andere Gedankenwelt versinkt.

Nachdem er mit Schreiben fertig ist, reicht er Elisabeth den Block. Sie liest und …staunt.
„Das ist ja wunderbar. Sie sind ein Dichter. Nein, ein Künstler.“
„Tja, das sagen Sie. Aber wer will so’n Zeug schon lesen. Schließlich bin ich kein Goethe, habe keinen Namen“, antwortet er zynisch.
„Vielleicht sollten Sie versuchen, einen Verlag zu finden. Oder bei mehreren Zeitungen anrufen. Sicher wird es doch vielerlei Möglichkeiten geben. Ich kenne mich leider damit nicht aus. Aber wer so im Schreiben begabt ist, sollte in einem Schreiberberuf doch Fuß fassen können.“
Voller Enthusiasmus hat sie gesprochen.
„Meinen Sie wirklich? Mag sein…“, antwortet er nachdenklich.
„Doch wohin ist sie, meine Hoffnung?“, fragt er mehr zu sich selbst, als zu Elisabeth.

Er packt Block, Stift und Zigaretten in den Rucksack und verschnürt ihn.
„War nett, mit Ihnen geplaudert zu haben.“

„Wie wär’s noch mit einer Wegzehrung, junger Mann“, fragt Elisabeth und raschelt mit ihrer Papiertüte.
„Sehr gerne.“
Er greift tief in die Tüte, nimmt sich einen pinkblaugelben Bonbon heraus. Den Bonbon wickelt er unkonzentriert aus, steckt ihn in den Mund. Das Papier knüllt er zusammen und reicht es Elisabeth.
„Wissen Sie was. Sie haben Recht. Vielleicht sollte ich noch einen Versuch starten. Schaden kann’s ja nicht. Hab ja nix zu verlieren. Wünsche noch einen schönen Tag.“
Fröhlichen Schrittes macht er sich auf seinen weiteren Weg.

Lächeln sieht Elisabeth ihm nach und streicht das Bonbonpapier glatt.
Darauf steht: Zuversicht.
Sie weiß, er wird es schaffen!

*

Fast wäre Elisabeth wieder eingeschlafen. Irgendetwas lässt sie aber die Augen öffnen, und plötzlich ist sie hellwach. Eine junge Mutter schiebt einen Kinderwagen. Sie lässt sich Zeit, und kommt direkt auf ihre Bank zu.

„Darf ich mich setzen?“, fragt eine leise Stimme.
„Aber gerne“, antwortet Elisabeth lächelnd.
Mit einem Blick auf die Mutter erkennt sie ein verhärmtes Gesicht. Die Frau wirkt älter, als sie mit Sicherheit ist. Nun schaut Elisabeth auf das Kind, das in der Sportkarre liegt. Es schläft.

Elisabeth erschrickt. Totenbleich liegt ein etwa vierjähriges Mädchen auf einem weichen Schaffell. Ihre Haut wirkt trocken, die Ärmchen ausgemergelt, die Augen blutunterlaufen. Auf dem Kopf trägt es ein regenbogenfarbengestreiftes Häkelmützchen.

Die Mutter folgt Elisabeth’s Blick, ihre Augen werden feucht. Elisabeth braucht gar nicht zu fragen, die junge Frau fängt von allein an zu erzählen.

„Das ist meine Tochter. Wir nannten sie Celine, nach einer Sängerin, die ich sehr mag.“
Ein liebevoller Blick streift das Gesicht ihres Töchterchens. „Doch das Schicksal hat es nicht gut mit uns gemeint. Vor zwei Jahren starb mein Mann bei einem Verkehrsunfall, Celine war gerade Zwei geworden. Ist das nicht furchtbar ungerecht?“, fragt sie wütend und schaut Elisabeth an.
Sie wartet die Antwort nicht ab und spricht weiter. „Dann wurde Celine krank. Von einem Tag auf den anderen. Einfach so ohne erkennbare Anzeichen.“
Leise kamen die Worte aus ihrem Mund, und wieder schaut sie lächelnd auf ihr Kind, das im Schlaf leise zuckt.
„Heute hat sie einen guten Tag. Oh ja. Dann können wir auch in den Park. Sie mag es sehr, die Vögel zu beobachten. Nur zum Laufen ist sie meistens zu schwach“.

Elisabeth hat stillschweigend zugehört.
„Dass Celine so krank ist, tut mir sehr leid. Was hat sie denn?“
„Die Krankheit heißt Leukämie. Es ist eine Blutkrebsart. Allerdings gibt es eine Chance. Aber … Bisher hat sich kein Knochenmarkspender gefunden. Die Ärzte sagen, es müsste sich bald einer finden, weil Celines Immunsystem sonst überfordert ist.“

Beide sitzen eine Weile ohne zu sprechen nebeneinander und betrachten das schlafende Kind, das plötzlich die Augen aufschlägt.
„Mama, Durst“, spricht es nun mit leiser, krächzender Stimme.
„Aber ja, mein Liebling. Hier hast du etwas zu trinken.“
Die Mutter reicht Celine eine Trinkflasche, die die Kleine durstig an ihre Lippen nimmt. Sie setzt sich dabei hin und beobachtet Elisabeth während des Trinkens.

„Wie heißt du?“, fragt Celine, nachdem sie die Flasche abgesetzt hat.
„Du hast ja weiße Haare. Aber sie sind sooo schön.“
„Ich heiße Elisabeth. So, findest du meine Haare schön? Aber sicherlich sind deine noch viel schöner.“
„Du bist aber dumm. Iss habe doch gar keine Haare“, antwortet lachend Celine und reißt lachend an ihrem hübschen Mützchen. „Guck mal“.

Elisabeth versucht, ihr Erschrecken zu verbergen und lächelt Celine an.
„Dafür hast du aber die schönste Mütze der Welt“, entgegnet sie und schaut sich die wunderschöne Handarbeit an.
„Hat Mama danz delleine demacht“, antwortet Celine und schaut ihre Mutter bewundernd an.
Elisabeth wirft einen anerkennenden Blick auf Celines Mutter und gibt ihr das Mützchen zurück, damit sie es ihrem Kind wieder aufsetzen kann.

„Meinst du, ich werde wieder gesund?“, fragt plötzlich leise Celine mit einem Blick aus großen, dunklen Augen Elisabeth.

„Aber ja, kleine Celine. Der liebe Gott wird schon dafür sorgen, dass sich ein Spender für dein Knochenmark findet“, antwortet Elisabeth zuversichtlich und nickt auch der jungen Mutter zu. Ein Lächeln überzieht deren trauriges Gesicht, während Celine einen neugierigen Blick auf die Papiertüte auf Elisabeths Schoß wirft.
„Was hast du da drin?“, fragt sie.
„Bonbons in knallbuntem Papier. Magst du einen?“
„Mama, darf ich?“
Ihre Mutter überlegt.
„Einer kann dir sicherlich nicht schaden, nimm ruhig.“

Celine greift freudig tief in die Papiertüte, die der alte Engel ihr hinreicht, nachdem er sie ein wenig geschüttelt hat.
Sie strahlt, als sie das glitzernde Papier sieht, müht sich ein wenig beim Auswickeln des pinkblaugelben Bonbons ab, steckt ihn sehnsüchtig in den Mund, und gibt Elisabeth das Papier gewissenhaft zurück.
„Bitte.“
„Danke sehr, Celine. Und lass ihn dir schmecken.“

Mutter und Kind machen sich bald wieder auf den Weg. Celine winkt fröhlich, und ihre Mutter lächelt. Elisabeth winkt lächelnd zurück.

Bevor sie das Bonbonpapier zurück in die Tüte packt, schaut sie drauf.
Sie wusste, dass auf dem Bonbon „Gesundheit“ steht.

*

Elisabeth überprüft den Inhalt ihrer Bonbontüte. 18 Stunden sind seit ihrem Aufenthalt auf der Erde vergangen. Zwei Bonbons befinden sich noch in der Tüte.
Das wird aber knapp, denkt sie und seufzt ein wenig. 24 Stunden hat sie Zeit, ihre Aufgabe auf der Erde zu erfüllen. Wenn sie nur nicht wieder einschläft.

Bei dem Geräusch, das sie nun wahrnimmt, kann sie gar nicht einschlafen. Sie schaut und sieht eine Frau näherkommen. Plumpe Schuhe mit dicken Absätzen hinterlassen auf dem Weg ein lautes Klack-Klack. Kurz vor der Sitzbank bleibt die Frau stehen und wischt sich die Stirn. Erst jetzt sieht sie die Parkbank und möchte drauflos gehen. Als sie jedoch Elisabeth dort sitzen sieht, zögert sie.
„Kommen Sie ruhig näher. Ich beiße nicht“, lädt der alte Engel die leicht übergewichtige Frau zum Platznehmen ein.
„Danke vielmals. Ich möchte aber nicht stören“, kommt es überraschend zaghaft aus dem Mund der unscheinbaren Frau, deren Alter schwer abzuschätzen ist. Sie kann 30, aber auch 50 Jahre alt sein.
Altjüngferlich, ja, das ist das richtige Wort für diese Frau, fällt Elisabeth ein, als sie sie von vorne beobachtet. Sie hat ein klares Gesicht, ihre Augen werden aber von einer altmodischen Brille und viel zu langem Haarpony verdeckt.
Ihre Figur wird von unförmiger, farbloser Kleidung umhüllt. Mühsam setzt sie sich neben Elisabeth, stellt beide Füße nebeneinander, zupft ihren Rock zu Recht und stellt die dunkelbraune Handtasche ordentlich neben sich auf die Bank.
„Ist es nicht ein wunderschöner Tag heute?“, beginnt Elisabeth das Gespräch.
„Oh ja. Wunderschön“, antwortet die Fremde. Errötet sie gar?
Beide Hände im Schoß verkrampft, macht sie einen unsicheren Eindruck. Sie schaut sich in der Parkumgebung um. Auf einer Nachbarbank sitzt schmusend ein junges Paar. Verlegen zieht sie schnell ihren Blick zurück.
„Es ist nett, glückliche Menschen zu beobachten, nicht wahr?“, fragt Elisabeth vorsichtig.
„Schoooon“, kommt zögernd die Antwort. „Aber ich werde nie so auf einer Parkbank sitzen. Mich will ja niemand.“
Traurig beobachtet sie eine Taube, die vor ihren Füßen umherläuft.
„Ich bin eben nichts wert, und viel zu unscheinbar. Meine Eltern haben schon Recht. Ich werde niemals einen Mann abkriegen.“

„Jeder Mensch ist etwas wert, und jeder Frau ist ein Mann vorhergesagt“, antwortet Elisabeth. „Sie dürfen nur den Mut nicht aufgeben. Irgendwann wird einer auftauchen, der Sie so mag, wie Sie sind.“
Beide schweigen ein Weilchen, bevor Elisabeth erneut ansetzt.
„Vielleicht sollten Sie ein wenig an Ihrer Garderobe arbeiten. Fröhliche Farben würden Ihrem hübschen Gesicht gut stehen, sie wirken munter. Wie Sommerblumen.“
„Das Zeugs kann ich mir doch gar nicht leisten. Ich nähe mir das Meiste selbst“, antwortet die Banknachbarin.
„Auch bunte Stoffe sind nicht teuerer, als die, die Sie jetzt tragen“, versucht Elisabeth es wieder.
„Mein Vater sagt, ich bin und bleibe ein Bauerntrampel. Da hilft auch keine Verpackung“, seufzt sie Angesprochene. „Nun ja, vielleicht sollte ich …. Es gäbe da schon jemanden, der mir gefallen könnte“, erzählt sie lächelnd. Ihr Gesicht läuft knallrot an, und sie schlägt die Augen nieder. „Solange ich aber noch zu Hause wohne, wird das sowieso nichts. Doch, vielleicht sollte ich einfach den Anfang machen. Jawohl. Ich werde auch nicht jünger. Ich könnte…“, zögert sie, ehe sie weiterspricht. „Vielleicht endlich mal zu Hause ausziehen.“
Schnell und über sich selbst überrascht, beendet sie ihren Satz

„Das ist doch eine gute Überlegung, und vielleicht öffnen sich Ihnen neue Möglichkeiten, von denen Sie bisher noch gar nichts wissen“, antwortet Elisabeth und lächelt der Frau, deren Augen nun glänzen, freundlich zu.

Sie raschelt ein wenig mit der braunen Papiertüte.
„Möchten Sie vielleicht einen Bonbon?“
„Vielen Dank. Gerne“, antwortet die Frau und greift vorsichtig in die Tüte.
„Ich muss nun auch weiter.“
Sie wickelt sorgfältig einen pinkblaugelben Bonbon aus und steckt ihn in den Mund.

Elisabeth wünscht noch einen schönen Tag und sieht der Frau nach, die plötzlich viel beschwingter weitergeht.

Das Bonbonpapier trägt die Aufschrift: „Glück“.

*
*

Der alte Engel ist müde. Und ein bisschen traurig, denn seine Zeit auf der Erde ist abgelaufen. Er schaut in die braune Papiertüte, es befindet sich noch ein in pinkblaugelbes Glitzerpapier eingewickelter Bonbon darin. Nun ja, ich muss zurück. Es hilft nichts, denkt er und macht sich auf den Heimweg.

Im Himmelreich eingetroffen, hält Elisabeth die Papiertüte fest in der Hand. Es muss doch eine Möglichkeit auch von hieraus geben, überlegt sie.

Sie geht an ein offenes Himmelsfenster, schiebt eine dicke weiße Wolke zur Seite und blickt sich um. Sie schaut und schaut und schaut. Plötzlich lächelt sie übers ganze Gesicht.

In einer Seitenstraße erkennt sie eine alte Frau. Menschen auf der Erde laufen achtlos an ihr vorbei, manche nennen sie eine Pennerin, diese obdachlose Frau. Elisabeth sieht, dass es ihr nicht gut geht. Im Gegenteil, es geht ihr gesundheitlich sehr schlecht. Sie weiß, dass sie sterben muss, aber die Frau hat …Angst. Höllische Angst, weil sie nicht weiß, was sie erwartet. Gerne würde sie einfach nur in Zufriedenheit sterben können, wer aber kann ihr das garantieren? Lieber schleppt sie sich weiter durch ihr hartes Leben auf der Straße, ihr zerfetztes Hab und Gut im Schlepptau. Sie hatte mal ein anderes Leben gehabt, oh ja. Elisabeth weiß es.

Ruhe kehrt in Elisabeth ein, weil sie nun weiß, dass sie auch mit ihrem fünften Bonbon noch Gutes bewirken kann. Hat die Zeit ihres Auftrages auf der Erde auch nicht ausgereicht, so ist diese Notlösung gestattet.

Sie wirft den letzten in pinkblaugelbes Glitzerpapier eingewickelten Bonbon gezielt auf die Erde. In langem Flug beobachtet sie, dass er im Schoß der alten Frau landet.

Diese schaut nach oben, weil ein Bonbon vom Himmel geflogen kommt. Ein in pinkblaugelbes Glitzerpapier eingewickelter. Genüsslich wickelt sie ihn mit ihren klammen Fingern aus und steckt ihn in den Mund. Hmmmm – er schmeckt einfach himmlisch.

Das Papier gleitet der alten Frau aus der Hand, ein Windstoß treibt es hoch hinauf in den Himmel.

Elisabeth kann es greifen und lächelt glücklich.

„Zufriedenheit“ liest sie, schaut noch einmal hinunter und weiß, der alten Frau wird es bald gut gehen.



*****ENDE*****


© Karin Ernst

Bei GESUNDHEIT schwankte ich. Zuerst dachte ich an HOFFNUNG (die die Mutter braucht), ein Kind, das in jungen Jahren so krank wird, weiß, es möchte gesund werden, kennt aber -vermutlich- keine Hoffnung. Hätte die Mutter den Bonbon erhalten, wäre HOFFNUNG passend gewesen. ........... Es heißt EngelsbonbonS. Den kleinen Tippfehler bitte ich zu entschuldigen. Leider kann man ihn nicht selbst ändern.
Gruß, Karin.
Karin Ernst, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.08.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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