Manuela Schneider

Er ist gegangen

Er ist gegangen
09.04.2004

Ihr Kopf war gegen den kalten Spiegel gelehnt. Sie konnte sich nicht bewegen. Alles war schwer. Ihr Kopf, ihr Körper... sogar die Luft in diesen Raum war mit dämpfender Last erfüllt.
Sie hatte ihn verloren. Er wird nie wieder zurück in ihre Arme kommen, nie wieder sagen „Ich liebe dich“, nie wieder... Er war einfach fort.

Hinter Alexis’ schlanken Körper ging die Tür auf. Das leise Knacken realisierte sie nur kurz, jedoch kümmerte sie sich nicht im geringsten darum. Nicht einmal als die wärmende Stimme ihrer besten Freundin an ihr Ohr klang.
„Alexis?“ Keine Antwort. „Alexis, sage doch bitte was.“, quälte Jordana mit einer ächzenden, gebrochenen Stimme hervor.
Nichts. Alexis hatte sich nicht bewegt, nicht in irgendeiner Art reagiert. Leichenblass stand sie einfach nur da, wie ein toter Körper in einen blutigen Thriller. Das einzigste, was fehlte, ist Blut. Es sollte mehr Blut geben. Blut sollte überall sein. Auf Alexis’ Sachen, auf ihrem Gesicht, auf ihren Händen, auf dem Boden, auf dem Spiegel... überall.

Doch man sah kein Blut. Keinen Tropfen. Nur ein zerbrechliches Mädchen, dass sich an einen Spiegel lehnte. Mund offen, Augen zu, gebrochen.
Jordana schaute sie einfach nur an. Ohne ein Wort, denn es würde nicht helfen. Ihre blutroten Lippen fingen an zu zittern, als sie in Alexis’ Augen eine komplett andere Person sah, ein komplett anderes Bild. In ihren Augen sah sie nicht ihre Freundin, die bemitleidenswert vor ihr stand, nein, Jordana sah ein Bild von einen toten Jungen, einen toten Freund, jemand wichtiges, der für immer gegangen ist. Im Abbild von Alexis’ Augen war ein Gesicht, dass beide über alles liebten. Bewegungslos, emotionslos, liegend im Krankenhausbett. Und dann war ein monotones Piepen... Eine Maschine, die arbeitete bis sie auf einmal...

aufhörte.

Beide wussten, dass man nichts mehr tun kann. Er war gegangen. Für immer. Man wird nie wieder in seine klaren blauen Augen versinken können, man wird nie wieder über seine Witze lachen können, man wird nie wieder die Schönheit dieses jungen Mannes bewundern können.

Jordana tat nichts, außer Alexis fassungslos anzustarren. Ihr ganzes Leben ist fortgerissen worden, die ganze Person ist fortgerissen worden. Auf dieser Erde gibt es nichts mehr, dass dieses gebrochene Ding hätte heilen können. Dieses Mädchen war bis auf die Knochen verwundet. Gerissen aus der Realität, aus den Leben katapultiert.
Alexis schwamm in Leere und Nichts. Nur der Gedanke an ihn war da. Nur die Erinnerung an sein Lächeln, seine Stimme, seinen Geruch.
Sonst hörte sie nichts, sonst sah sie nichts – denn sie wollte es nicht. Jordana hatte unendliche Angst.

Wie kann man essen, wenn du weißt, dass deine Liebe nie wieder Essen brauchen wird? Wie kann man am Abend ins Bett gehen, wenn du weißt, dass du in ein paar unbedeutenden Stunden aufwachen wirst, weil du nicht länger schlafen kannst? Wie kann man denken, wenn man sich sicher ist, dass du immer das selbe nichtssagende Gefühl tragen wirst?
Er war gegangen. Sie hatte ihn verloren. Und er wird nie wieder kommen.

Und so vergingen Tage. Alexis sagte kein Wort, ihre Augen, voller Trauer und undurchschaubar, sagten auch nichts. Verletzt durch die Einsamkeit.
Jordana blickte auf vergangene Tage zurück. Zeiten, an den Alexis noch voller Freude und Sorgenlosigkeit mit ihm lachte, kuschelte und Pferde stahl. Nur ein paar Tage vorher.

Bedrückt schlenderte Jordana durch den abgedunkelten Flur. Seit dem vierten Tag hatte sie aufgehört nach Alexis zu schauen. Sie wollte alleine sein – allein gelassen werden. Alles würde ihr armes Erinnerungsvermögen nur zurück an ihn denken lassen. Obwohl sie es sowieso die ganze Zeit machte.
Nur heute war etwas anders. Beängstigend anders. Als Jordana sich noch einmal die weißgestrichene Tür zu den Badezimmer anschaute, stockte aus einem unerklärlichen Grund ihr Atem. Ihr Bauch schien sich innerlich zusammen zu ziehen.
Erschrocken klopfte sie an die Tür. „Alexis?“, ihre liebliche Stimme war voller Panik, voller Angst.

Jordana atmete tief ein. Ihre sanften Finger umschlossen den Türgriff mit einen festen Druck, dann öffnete sie die Tür.

Diesmal sah man Blut. Überall. Und Alexis lag nur regungslos und blutverschmiert da. Badend in ihren eigenen Blut. Augen geöffnet, jedoch regungslos. Sie starrten.
Ihre Lider warteten. Warteten drauf geschlossen zu werden.
Tot.

Jordanas Augen weiteten sich. Ihre Knie wurden weich. Die Zeit ging nicht mehr weiter. Ihr geschocktes Herz hämmerte im Horror, der sich vor ihr anbot. Das Adrenalin in ihren Adern raste so schnell, dass ihr schwindelig wurde.
Sie konnte nichts weiter als schreien. Schrill und laut schallte das Geräusch durch die Gänge. Die Nachbarn mussten aufgeschreckt sein.
Tränen rannen ihr erbarmungslos über die Wangen. Vollkommen orientierungslos und wackelig steuerte sie auf den diesen toten Körper vor ihr hin. Brennende Flüsse salziges Wasser brachen aus Jordanas Augen aus, ihre Schreie verwischten mit einen schluchzenden „nein, nein, nein“.
Alexis schaute zu ihr. Nur ohne Ausdruck, ohne sein. Alexis war das einzigste, was Jordana noch hatte. Ihr ganzes Leben.

Und sie dachte nicht nach, als sie die Klinge nahm, die in der Hand ihrer besten Freundin weilte...

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Manuela Schneider).
Der Beitrag wurde von Manuela Schneider auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.08.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Manuela Schneider als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Die Gereimtheiten des ganz normalen Lebens von Petra Mönter



Ein kleiner Kurzurlaub vom Ernst des Lebens.

Petra Mönter's Gedichte beschreiben das Leben - auf humorvolle Art und Weise. Herzerfrischend und mit dem Sinn für Pointen. Es ist es ein Genuss Ihre Gedichte, welche alle mit schönen Zeichnungen unterlegt sind, zu lesen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Absurd" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Manuela Schneider

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Engel von Manuela Schneider (Gedanken)
Die Couch von Klaus-D. Heid (Absurd)
Der Augenblick von Klaus-D. Heid (Wie das Leben so spielt)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen