Carrie Winter

Kauf mich, besitze mich, benutze mich

“Ich hab nachgedacht.“ sagte ich.
Er reagierte nicht. Den Kopf zwischen den Armen verborgen blieb er bewegungslos sitzen.
“Vielleicht bin ich wirklich rücksichtslos. Vielleicht nehme ich auf deine Gefühle keine Rücksicht. Aber das hat einen Grund. Weißt du, mir hat nie Jemand beigebracht, dass andere Menschen nett sein können. Linda hat mir immer nur erzählt, dass sie alles aus rein egoistischen Gründen tun. Und meistens ist das auch so, oder?“
Ein leises Stöhnen war seine einzige Antwort darauf.
“Ich hab gesehen, was sie mit Linda gemacht haben. Sie hat es mir verboten gehabt, aber ein Mal bin ich trotzdem in der Nacht zu ihr gegangen und...Sie hat mich nicht bemerkt, weil ziemlich viel los war. Sie hat sich mit einem Mann unterhalten und dann hat er...Er hat sie mitten auf der Strasse angefasst. Auf diese widerliche, abartige Weise. Und sie hat ihn gelassen. Sie hat nichts dagegen getan! Sie sah aus, als wäre es ihr egal!“ Ich schwieg einen Moment und versuchte, die Bilder wieder aus meinem Kopf zu vertreiben. “Ich bin nach hause gerannt. Und dann habe ich alle Geschenke, die Linda mir je gemacht hatte, kaputt gemacht. Denn auf einmal hatte ich es begriffen. Sie war eine Nutte...Ihr ganzes Geld hatte sie von Männern...Von widerlichen, gemeinen Männern...“
Er hob seinen Kopf und starrte mich an. Verwirrung lag in seinem Blick.
“Das erkläre ich dir nachher.“ meinte ich. “Erst mal wegen Linda...Sie...Es ist schwer zu erklären, aber ich glaube, dass sie wirklich gedacht hat, sie könnte mich auf ewig davon fern halten. Sie hatte gehofft, dass ich es nie herausfinde. Ich glaube, sie hat sich selbst dafür geschämt. Nach dieser Nacht, in der ich sie mit diesem Mann gesehen hatte, ging ich immer öfters zum Strich. Ich beobachtete sie heimlich. Verfolgte sie auch manchmal, wenn sie mit einem Mann davon ging. Ich habe so viel widerliches Zeug gesehen...Kannst du dir vorstellen, wie das für ein kleines Kind ist, wenn es sieht, wie seine Mutter ausgepeitscht wird? Und dabei noch zu wissen, dass sie es freiwillig mit sich machen lässt...Manchmal dachte ich, ich müsste sterben...“
“Aber warum hast du es dir dann immer wieder angesehen? Warum bist du nicht einfach zu hause geblieben und hast versucht, es zu vergessen?“ fragte er.
Ich verzog meine Lippen zu einem gequälten Lächeln. “Ich war abhängig davon. Ich musste es jedes Mal aufs Neue sehen. Am Ende...Am Ende hat es mir bewiesen, dass ich noch am Leben bin. Vielleicht war ich genauso pervers wie die Kunden von Linda.“
Er schüttelte den Kopf. Aber nicht verneinend, sondern ungläubig.
“Irgendwann hab ich es nicht mehr ausgehalten. Es war an meinem 14ten Geburtstag. Sie gab mir all diese schönen Geschenke und ich wusste, dass ich sie nur bekam, weil sie in den Nächten davor doppelt so viele Männer wie sonst an sich rangelassen hatte. Ich fing an zu weinen und sie fragte mich, was los ist. Ich habs ihr gesagt. Das ich alles weiß und das ich sie hasse und verabscheue. Ich hatte damals keine Ahnung, wie sehr sie das verletzte. Aber sie versuchte trotzdem, es mir zu erklären. Sie hat gemeint, sie würde zwar ihren Körper verkaufen, aber nicht ihre Seele. Und manche Menschen, die ich so toll finde, haben ihre Seele verkauft. Und das fände sie viel schlimmer. Außerdem würden ihr die Männer leid tun, weil sie für die Erfüllung ihrer Träume bezahlen müssten.“ Ich starrte die Wand an. Linda hatte nichts weiter als Ausreden benutzt. Sie hatte sich selbst gehasst. Aber das hatte sie nicht zugeben wollen. “Carrie...“
Ich wollte ihn nicht ansehen. In diesem Moment war in mir eine Verzweiflung, die ich nicht mehr kontrollieren konnte. Und das konnte gefährlich werden.
“Wenn du das, was Linda getan hat, so sehr verabscheust...Warum tust du es dann auch?“
Ich betrachtete meinen Arm. Die Narben, die ich mir als Teenager zugefügt hatte, waren kaum noch zu sehen. Ich brauchte keine Rasierklingen mehr. Ich hatte jetzt meine Kunden.
“Ich hasse mich selbst. Vielleicht brauch ich es einfach, dass ich gedemütigt werde. Vielleicht ist es einfach die Gewissheit, dass ich es nicht besser verdient habe. Ich bin eine Schlampe. Und werde so behandelt. Vielleicht ist es wirklich nur das...“
“Ich liebe dich.“ sagte er. “Willst du deswegen nicht mit mir zusammen sein? Weil ich dich nicht wie den letzten Dreck behandle?“ Mittlerweile schrie er.
“Du verstehst das nicht! Wenn du sagst, dass du mich liebst, dann ist das nur ein Beweis dafür, dass du mich nicht kennst. Denn wenn du wüsstest, wie ich wirklich bin, dann würdest du mich nicht lieben! So was wie mich kann man nicht lieben! Nur benutzen...“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.08.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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