Karin Ernst

Glück macht reich

„Kommst du bitte, wir wollen los“, ruft Ann-Cathrins Mutter. Sie steht mit einem Einkaufskorb in der Hand in der geöffneten Wohnungstür, klappert mit dem Hausschlüssel, als ihre Tochter angesaust kommt.
„Mama! Ich kann doch Lilly nicht zu Hause lassen. Sie möchte doch auch mal wieder Rad fahren“, entgegnet lachend ihre Tochter und zeigt auf ihre Puppe. „Auch sie braucht mal wieder frische Luft“, fügt sie hinzu.

Die Mutter schließt die Haustür ab, verstaut den Schlüssel in ihren kleinen Rucksack, und beide machen sich auf den Weg zum Fahrradkeller. Dort holt die fünfjährige Ann-Cathrin allein ihr Kinderfahrrad heraus und schiebt es in den Vorgarten, setzt Lilly vorsichtig in das am Lenkrad befestigte Körbchen und redet ihr ernsthaft ins Gewissen: „Schön still sitzen bleiben. Dass mir keine Klagen kommen.“

Frau Weitz hat inzwischen das eigene Fahrrad aus dem Keller geschoben, den Einkaufskorb auf dem Gepäckträger festgeschnallt und schließt gewissenhaft die Kellertür ab. Mutter und Tochter machen sich auf den Weg zum Supermarkt.
„Bitte! Schön hinter mir bleiben“, hört das Mädchen ihre Mutter sagen.
„Aber ja, Mama. Ich kenne mich doch aus, ich pass schon auf.“

Beide radeln auf dem Radfahrweg neben einer belebten Straße, aber Ann-Cathrin fährt bereits seit einigen Monaten sicher mit ihrer Mutter zum Einkaufen. Sie ist ein selbstbewusstes Mädchen mit lustigen Sommersprossen im schmalen Gesicht. Ihre dunkelbraunen, widerspenstigen Haare sind in zwei Zöpfe geteilt, die von Schmetterlingsspangen zusammengehalten werden.

„Na, ist Lilly auch brav?“
„Aber ja! Sie sitzt schön still und genießt die Aussicht“, antwortet das Mädchen.
Das liebevolle Schmunzeln, welches das Gesicht ihrer Mutter überzieht, kann Ann-Cathrin nicht sehen.

Bald erreichen sie den Supermarkt, stellen ihre Räder in den Fahrradständer und verschließen die Fahrradkettenschlösser. Plötzlich überlegt Ann-Cathrin ängstlich.
„Mama, was mach ich nur mit Lillys Körbchen? Wie schrecklich, wenn es geklaut werden würde.“
„Das sollten wir vermeiden. Wir nehmen es einfach mit in den Laden. Tu’s hier in den Einkaufskorb, so viel haben wir nicht einzukaufen.“
Gesagt getan.

Im Laden darf Lilly im Kindersitz des Einkaufswagens sitzen, den Ann-Cathrin eifrig durch die Wege schiebt. Schnell arbeitet ihre Mutter den Einkaufszettel ab, sodass sie alsbald an der Kasse anstehen können.
Mit geröteten Wangen hilft die Kleine, den Korb zu leeren. Zum Schluss nimmt sie ihr Püppchen aus dem Wagen.
“Jetzt pass mal auf, Lilly, was du machen darfst“, erklärt sie ihr und legt sie hinter dem Einkauf auf das schwarze Band, das genau in diesem Moment anfährt. Als die Puppe an der Kasse ankommt, lächelt die Kassiererin.
„Was kostest du denn?“, fragt sie und zwinkert der Mutter zu.
Ann-Cathrin schnappt sich schnell ihr Puppenkind und nimmt es fest in den Arm.
„Die gehört mir. Sie wollte nur mal Rollband fahren“, antwortet sie.
Als alle Artikel in die Kasse eingetippt sind, seufzt Frau Weitz, nachdem die Kassiererin die Summe genannt hat.
„So viel? Ich hatte eigentlich mit weniger gerechnet“, murmelt sie, während sie Geld aus der Börse nimmt und bezahlt.

Ann-Cathrin hat ihre Mutter beobachtet und sieht ihr verändertes Gesicht. Plötzlich ist das Lächeln daraus verschwunden.
„Mama, bist du traurig?“
„Nein, Kind, ich bin nicht traurig“, antwortet die Mutter, und versucht den Anflug eines neuen Lächelns. „Ich wundere mich nur immer, wo das Geld bleibt.“
„Mama, sind wir arm?“.
Die Antwort kommt nachdenklich, während Mutter und Kind die Waren in den Einkaufskorb packen.
„Nein, arm sind wir nicht. Allerdings müssen wir sparsam mit dem Geld umgehen, das ich bei meiner Arbeit verdiene. Aber anderen Menschen geht es viel schlechter als uns.“
„Aber reich sind wir auch nicht, oder?“, fragt Ann-Cathrin neugierig weiter.
„Nein, das auch nicht“, gibt ihre Mutter, nun wieder lächelnd, Auskunft. „Allerdings können Menschen auch mit wenig Geld reich sein.“

Über diese Antwort muss das Mädchen nachdenken, während sie Lilly in das Fahrradkörbchen setzt und den Einkaufswagen zurück in die dafür vorgesehene Ecke schiebt. Draußen klemmt ihre Mutter den Korb mit Lebensmitteln auf dem Gepäckträger fest, Ann-Cathrin hängt Lilly an ihr Fahrrad, und sie machen sich auf den Heimweg.

Während Frau Weitz zu Hause die Lebensmittel auspackt und in Kühlschrank und Küchenschränke unterbringt, blickt ihre Tochter versonnen aus dem Fenster.
„Du. Mama, was meintest du vorhin damit, dass Menschen trotzdem reich sein können, auch wenn sie nur wenig Geld haben?“
Plötzlich klingelt es an der Haustür. Die Antwort ihrer Mutter nicht abwartend, stürmt Ann-Cathrin los.

Vor der Tür steht ihr Kindergartenfreund, Nikolai.
„Hallo! Wollen wir spielen?“, fragt er. „Kommst du rüber, oder soll ich reinkommen?“
„Mama, darf Nikolai reinkommen, oder kann ich mit rüber zum Spielen?“, ruft sie in die Küche.
Neugierig schaut der Junge ihr über die Schulter.
„Tag, Frau Weitz“, ruft er und geht zielstrebig in die Küche.
„Och, wir können doch hier spielen“, entscheidet er schnell. Er ist gerne bei Mutter und Tochter Weitz zu Besuch. Der Haushalt ist nicht so fein wie bei ihm zu Hause, aber das ist es gerade, was ihm so gefällt.

In der Küche hier hat jeder Stuhl eine andere Farbe, vor dem Fenster hängen buntgeblümte Gardinen mit einer Rüschenkante, und auf dem knallblau angestrichenen Holztisch liegen zwei Sets. Eine mit zwei großen, kräftig-orangefarbenen Apfelsinen drauf, und eine mit dicken, tiefroten Kirschen. Die Dielen des Fußbodens knarren wie in einem alten Bauernhaus, und alles sieht richtig gemütlich aus. Die Küche seiner Mutter sieht sauber aus wie eine Krankenhausküche, erinnert er sich beim Umschauen. Stahl gemischt mit Glas, alles hat seinen festen Platz, nichts darf er berühren, damit keine Fingerabdrücke oder „Tapsen“ auf den Möbeln haften bleiben.

Nikolai löst sich aus seinen Gedanken, als er gefragt wird, ob er ein Glas Apfelsaft möchte.
„Gerne, danke schön“, antwortet er höflich und ergreift das Glas.
Freut Weitz legt ein paar Kekse auf einen kleinen Glasteller, gibt ihn Ann-Cathrin, und beide gehen zum Spielen in ihr kleines Zimmer.

Es wird ein fröhlicher Nachmittag, denn das Mädchen und der Nachbarjunge verstehen sich sehr gut. Selten kommt es zwischen ihnen zum Streit. Von Anfang an besuchen sie den gleichen Kindergarten, wenn auch Nikolai mit seinen Eltern in einem teuren Einfamilienhaus lebt, und Ann-Cathrin mit ihrer alleinerziehenden Mutter in einer einfachen, aber gemütlichen Zweieinhalbzimmermietwohnung.

„Nun ist aber Schluss, ihr beiden“, sagt Frau Weitz am frühen Abend. „Ich denke, du musst jetzt nach Hause, Nikolai.“
„Oooch, schade. Ich würd’ gerne noch bleiben. Aber okay, ich geh ja schon. Wir sehen uns morgen im Kindergarten, ja?“
„Na, logo“, antwortet Ann-Cathrin und bringt ihren Freund zur Haustür. „Tschüß, bis morgen“, ruft sie ihm hinterher, und Mutter und Tochter winken, bis er über den Zebrastreifen vor dem Haus gegangen ist.

Das Mädchen hüpft zurück in ihr Zimmer und fängt an aufzuräumen. Lilly legt sie in ihr kleines Puppenbettchen, das ihre Mutter aus einer leeren Mandarinenkiste selbst gebaut hat. Ihre Mutter kann das gut! Das Kistchen ist mit dem gleichen rot-weiß-karierten Stoff bezogen, aus dem die Übergardinen vor dem Fenster genäht sind, die von einem Stückchen weißer Kordel zusammengehalten werden. Zugedeckt wird das Puppenkind mit Ann-Cathrins rot-weiß-gestreifter Babydecke.

Ihre Mutter kommt herein, und gemeinsam räumen sie Bücher und Spiele in das Regal.
„Du Mama, wie ist das denn nun mit dem Reichsein, wenn man nur wenig Geld hat“, fragt die Tochter ihre Mutter. „Ich hab das nicht verstanden.“

„Okay, dann will ich versuchen, es dir zu erklären. Komm, leg dich hierher.“
Die Mutter setzt sich auf das Bett ihrer Tochter und klopft einladend neben sich. Ann-Cathrin macht es sich gemütlich und kuschelt sich an die Mutter.
„Du weißt, Kind, dass ich in meinem Beruf als Krankenschwester nicht so viel verdiene. Das hab ich dir schon mal erklärt.“
Die Tochter hört nachdenklich zu und nickt bejahend mit dem Kopf.
„Trotzdem haben wir unser Auskommen“, fährt die Mutter fort. „Wir haben ein Dach über dem Kopf, eine hübsche Wohnung und werden satt. Auch laufen wir nicht nackt herum, oder?“
Ann-Cathrin prustet los vor Lachen. „Nee, ich habe einen ganzen Schrank voller Sachen“, antwortet sie.

Die Mutter redet weiter, mehr zu sich selbst, während sie dabei träumerisch aus dem Fenster schaut.
„Es gibt Menschen, die haben nichts zu essen, andere, die wohnen auf der Straße. Viele Kinder in armen Ländern sterben an Hunger. Wir haben mein festes Gehalt. Und noch viel mehr …“, unterbricht sie sich selbst. Ist ihre Tochter gar eingeschlafen? Nein, ihre Augen sind offen, sie lauscht.

„Ein großer Reichtum, den wir besitzen, ist Gesundheit. Wir frieren nicht im Winter. Und auch wenn wir kein Auto haben, so doch jede ein Fahrrad, oder wir können mit dem Bus fahren. Du hast deine Spielsachen, ich meine Nähmaschine. Wenn wir Ausflüge ins Grüne machen, hören wir die Vögel singen, sehen Blumen blühen und auf dem Teich Enten schwimmen.“

Wieder schweigt sie, als plötzlich Ann-Cathrin das Wort ergreift.
„Weißt du noch, Mama, als wir letzte Woche das Picknick gemacht haben? Im Südpark? In unserem Picknickkorb waren ganz viele tolle Sachen, wir haben den ganzen Tag gefuttert.“
Natürlich erinnert sich ihre Mutter noch an diesen schönen Ausflug.

„Wir haben so viel Glück in unserem gemeinsamen Leben, Liebes“, spricht sie weiter und schaut das Mädchen zärtlich an. „Und ich hoffe, dass das noch lange so bleibt. Denn ich habe dich, und du bist mein größtes Glück.“

„Und ich habe dich, Mama. Und hab’ dich gaaaanz doll lieb.“
Kleine Ärmchen umschlingen die Mutter.

Diese lächelt und streicht Ann-Cathrin übers Haar.
„Na, weißt du denn nun, was ich damit meine, dass wir zwar nicht viel Geld haben, und trotzdem reich sind?“, fragt sie.

Ihre Tochter hat sich inzwischen auf den Rücken gedreht, so dass sie aus dem Fenster sehen kann. Sie blickt lange hinaus, als fände sie dort die Antwort auf die Frage ihrer Mutter.

Plötzlich wendet sie sich ab, dreht sich zurück zu ihrer Mutter, und antwortet mit glänzenden Augen:

„Ich glaube, ich weiß, was du damit meinst, Mama! Glück …macht reich.“



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(c) Karin Ernst









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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.08.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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