Holger Gerken

Die Zeit-Spar-Uhr

Bernd stand am Freitag abend im Supermarkt, schaute auf seine Uhr und wippte mit einem Fuß. Nach dem Klausurenstress in der Schule freute er sich auf ein Wochenende mit Chips und Bier vor dem Fernseher. Aber in der Schlange vor der Kasse kam es überhaupt nicht voran. Jetzt stand auch noch die Kassiererin auf und watschelte in die Gemüseabteilung, weil die Oma an der Kasse vergessen hatte, ihre Tomaten abzuwiegen.
"Oh Mann, wird das heute noch mal was!" murmelte Bernd vor sich hin. Da bemerkte er neben sich ein Männlein. Bernd erschrak zutiefst. Das Männlein reichte Bernd etwa bis zur Hüfte, trug einen roten Umhang und grinste ihn aus einem schwarzen Gesicht an.
"Ich glaube, ich habe, was du brauchst", sagte es.
"Woher willst du denn wissen, was ich brauche?"
"Nun, du stehst hier und wartest. Und viel lieber hättest du den Einkauf doch schon hinter dir und würdest dich zu Hause auf dein Sofa legen."
"Stimmt genau", sagte Bernd. "Das ist ja nicht schwer zu erraten. Und wie kannst du mir da helfen?"
"Tja, ich habe hier eine Uhr für dich, mit der du überflüssige Wartezeit überbrücken kannst. Drehe einfach die Zeiger vor, und du hast die Zeit gespart."
Hm, das klang nicht schlecht. Bernd nahm die Uhr in die Hand. Sie sah aus wie eine ganz normale Küchenuhr, schlicht, aus weißem Porzellan und sogar mit einer digitalen Datumsanzeige auf dem Zifferblatt. Die Uhr zeigte die richtige Zeit an, und Bernd drehte die Zeiger um fünf Minuten vor. Ein Zittern ging durch seinen Körper, aber im nächsten Moment stand er mit seinem Einkaufswagen vor dem Supermarkt, und der Kassenbon in seiner Hand sagte ihm, dass er schon bezahlt hatte.
"Siehst du, es funktioniert", sagte das Männlein, das wieder neben Bernd auftauchte.
"Is' ja geil", entfuhr es Bernd. "Was willst du dafür haben?"
"Behalte sie ruhig. Wenn es soweit ist, werde ich mich bei dir melden. Hier ist die Gebrauchsanleitung. Lies sie gut durch, und pass auf: man kann die Uhr nicht zurück..."
"Ja ja, dankeschön!" Bernd packte die Uhr auf den Beifahrersitz seines Golfs und lud den Kasten Bier und die Chips in den Kofferraum.
Moment, am Freitagabend durch die ganze Stadt zu fahren, war die Hölle. Warum nicht einfach... Er nahm die Uhr, drehte die Zeiger eine Dreiviertelstunde weiter und im Handumdrehen lag er bei sich zu Hause auf dem Sofa, in der einen Hand ein kühles Bier, in der anderen die Chipstüte, auf dem Bauch die Fernbedienung. So ähnlich musste das Paradies gewesen sein.
Schließlich las Bernd sich die Gebrauchsanweisung durch, die das Männlein ihm mitgegeben hatte. Das Gerät hatte außer den Zeigern noch eine zusätzliche Datumsfunktion, mit der man sich an jeden beliebigen Zeitpunkt in der Zukunft beamen konnte. Bernd dachte an die öden Vormittage in der Schule, überlegte nicht lange und stellte die Uhr ein halbes Jahr vor. Dann hätte er sein Abi in der Tasche. Das Zittern dauerte jetzt etwas länger, aber als das vorbei war, fand er sich in einem großen Büro wieder. Er trug einen dunklen Anzug mit Krawatte und war offensichtlich Azubi in einer Bank, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Dann könnte er doch gleich die Uhr weiter vorstellen, vielleicht direkt um drei Jahre, dann wäre er mit der Ausbildung fertig. Gesagt, getan. Schwuppdiwupp saß er in der Zentrale seiner Bank an einem viel größeren Schreibtisch. Das klappte ja müheloser als er gedacht hatte.
Ein paar Stunden genoss er dieses neue Gefühl, erwachsen zu sein. Aber so ganz das Wahre war es immer noch nicht. Richtig frei war man doch erst, wenn man nicht mehr zu arbeiten brauchte. Bernd zögerte ein wenig, aber schließlich stellte er die Uhr um ganze vierzig Jahre vor. Dann wäre er schon pensioniert und würde endlich die Früchte seiner Arbeit ernten. Das Zittern schien dieses Mal gar nicht aufzuhören. Endlich aber beruhigte sich alles, und Bernd fand sich wieder in einem bequemen Sessel vor einem brennenden Kamin sitzend. Allmählich kam er wieder zu sich. Er schaute an sich herunter. Gut, um den Bauch herum war er ein wenig dicker geworden. Er stand auf, über dem Kamin hing ein Spiegel. Die Haare, die ihm geblieben waren, waren schon grau. Auch die Falten konnte man nicht übersehen. Was für ein Leben mochte hinter ihm liegen? Auf dem Kaminsims standen ein paar Fotos im Edelholzrahmen. Die Frau auf dem mittleren Bild sah wirklich gut aus. Vielleicht war es seine Frau. Und die Kinder in ihrem Arm... Hastig packte er die Uhr und versuchte, die Zeit zurückzustellen, aber immer leuchtete auf dem Display auf: "Sie haben ein Datum in der Vergangenheit gewählt. Bitte wählen Sie ein anderes Datum aus." Dann blieb die Uhr ganz stehen.
In dem Moment klingelte es an der Haustür. Benommen stand Bernd auf. Wer mochte das sein? Sein Herz raste. Langsam drückte er die Klinke herunter, zog die Tür zu sich heran und schaltete das Licht über der Haustür an.
"Hallo, da bin ich wieder", krächzte das Männlein aus dem Supermarkt.
Bernd lief ein Schauer kalter Schweiß über den Rücken.
"Was willst du?"
"Deine Uhr ist abgelaufen. Nun musst du mit mir mitkommen. Zieh dir was an, es ist kalt draußen."
Das war es dann wohl, das Ende. Bernd schloss sich dem Männlein an, und gemeinsam schlenderten sie durch die Nacht. Das Männlein marschierte voraus, aber weil es nur kleine Schritte machen konnte, kamen sie bloß langsam voran. Sie waren bestimmt schon Stunden unterwegs, als Bernd fragte: "Wie lange brauchen wir denn noch?"
"Sei nicht so ungeduldig, es dauert so lange, wie es dauert."
So wanderten sie weiter. Eine geraume Zeit später hielt das Männlein dann an und sagte: "So, wir sind da."
Bernd sah sich um. Irgendwo weit am Horizont sah er ein helles Licht in der sternenlosen Nacht. Davor standen in einer unendlichen Schlange jede Menge Leute.
"Pass auf", sagte das Männlein. "Wenn du bei dem Licht angekommen bist, wird über dich entschieden werden. Aber davor sind noch all die Menschen vor dir dran. Es wird dir wie eine Ewigkeit vorkommen, solange du hier hinten stehst und die Schlange kaum vorankommt, aber wenn du vorne stehst und es bald soweit ist, würdest du dir wünschen, du hättest noch Zeit."
"Oh Mann, das kann ja wirklich ewig dauern. Was soll ich denn in der Zwischenzeit machen? Das ist wohl wirklich die Hölle."
"Während du wartest, kannst du machen, was du willst. Du hast sehr viel Zeit, also nutze sie. Und das ist nicht die Hölle, sondern das Leben."
Bernd verstand.
Plötzlich spürte er, wie jemand für ihn die Uhr wieder zurück drehte. Schließlich stand er wieder im Supermarkt in der Schlange vor der Kasse und war neunzehn Jahre alt.
"Hallo, junger Mann! Schieben Sie bitte weiter, ich will heute auch noch nach Hause." Bernd drehte sich um. Hinter ihm stand eine ältere Dame mit zwei Dosen Katzenfutter in ihrem Einkaufswagen.
"Entschuldigung", sagte Bernd. "Darf ich Sie vorlassen? Ich habe Zeit."

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.08.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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