Klaus Eylmann

Shirley und Geri

Greenville, South Carolina. Feierabend bei Ford Fairway. Die Männer stanken nach Öl, Schmiere, Auspuff und Schweiß. Sie standen in einer Schlange vor dem Waschbecken und wollten nach Hause. Rod besah sich im Spiegel und rieb einen Schmutzfleck aus dem stoppelbärtigen Gesicht.
“Nun mach mal!”, rief einer. Ein anderer fragte: “Warum sind Badezimmerwaagen so flach?” Jemand brüllte: “Weil Rods Frau draufgestanden hat! Har har har!”
Rod verzog sein Gesicht zu einem schiefen Grinsen.
“Dann bis morgen”, sagte er, setzte sich in seinen Pickup und fuhr los. Die Wohnung befand sich im Erdgeschoss. Shirley hasste Treppen. Im Briefkasten lag ein Prospekt der Weight Watchers. Neben den Briefkästen stand ein Papierkorb.

“R-o-o-h-o-o-d”, hörte er Shirley aus dem Wohnzimmer. “Hast du an die Kartoffelchips gedacht?” Natürlich hatte er. Unter der Plane seines Kleinlasters lagen sechzig Familienpackungen.
Shirley war ein rosiges Ereignis. Wohin er seine Hand auch ausstreckte, sie war schon da. Ihre Figur hatte weder Ecken noch Kanten, desgleichen ihre Persönlichkeit. Sie war das personifizierte Schlaraffenland. Rod übertrieb bisweilen, doch Shirley reizte zu waghalsigen Vergleichen. Sie kam ihm wie eine große Birne vor, in die man herzhaft hineinbeißen konnte. Ihre hundertfünfzig Kilo gehörten ihm. Sie liebte ihn. Das zählte.
Auf dem Country-Kanal tanzten dickbäuchige Männer mit spindeldürren Frauen. Garth Brooks sang ‘Burning Bridges’ und Shirley riss eine Tüte auf.
“Rod, komm zu mir auf die Couch.” Shirleys Nähe, ihre Fülle, ihr süßes Gesicht. Rod versuchte seinen Arm um sie zu legen.
“O Rod”, quietschte sie und strahlte ihn aus himmelblauen Augen an.
“Fahren wir zu Burger King”, schlug er vor. Das tat er jeden Abend.

Gäste mäanderten zur Kasse. “Möchtest du zwei oder drei Double Whopper?”
“Ach, gib mir lieber vier.” Das schelmische Lächeln zauberte Grübchen in ihre Wangen. Shirley war ein Wonneproppen. Es gab so viel von ihr. Sie passte nicht mehr zwischen die Absperrstangen, die zur Kasse führten und andere Leute hielten sie für fett. Was bedeutete das schon.
Sie bissen in ihre Whopper und sahen sich mit lachenden Augen an.

Zu Hause duschte Rod und zog sich um. Cowboystiefel, Jeans, farbiges Cowboyhemd und schwarzen Cowboyhut.
“Rod, bleib bei mir. Ich seh dich den ganzen Tag nicht und abends bist du auch weg.”
“Doch nur eine halbe Woche.” Rod gab ihr einen Kuss und machte die Tür hinter sich zu.

Vor dem ‘Blind Horse Saloon’ stand ein Polizeiwagen. Jeden Tanzabend war der dort, vom Mittwoch bis Sonntag. Musik dröhnte auf die Straße. Rod war ein Bär von einem Mann. Geri mit ihrem seelenvollen Blick, dünn wie Nancy Reagan, kam von den Billardtischen und warf sich ihm an den Hals. Auf der Tanzfläche schienen sie füreinander geschaffen. Geri wusste, welche Figur Rod tanzen wollte. Sie bewegte sich um ihn herum, unter seinem Arm hindurch, drehte sich wie ein Kreisel. Ihr leuchtender Blick ein Pulsar. Rod fühlte, dass sie ihn liebte. Es war ihm nicht unangenehm. Er tanzte seine Whopper-Kalorien weg und zog sich danach mit ihr in seinen Kleinlaster zurück.

Als Rod und Shirley am nächsten Abend auf dem Weg vom Burger King an den Briefkästen vorbei kamen, rief Shirley: “Was ist das?”, und zeigte auf einen Prospekt im Papierkorb.
“Reklame.” Rod ging weiter.
“Weight Watchers.” Rod drehte sich um und erschrak. Sie hielt diesen farbigen Zettel in der Hand.

Am Tag darauf studierte Shirley Kalorientabellen und verließ die Wohnung zu einem Power-Walk.
“Sie haben sie umgedreht”, sagte Rod später zu Geri und starrte in sein Bier. “Gehirnwäsche nennt man das.”
“Wer und womit?”
“Die Weight Watchers. Mit einem Prospekt. Ich glaube, die kommen vom Mars. Zuerst verändern sie das Gehirn und dann den Körper.” Die große Projektionswand zeigte einen Cowboy, der von einem Bullen fiel, Linedancer tanzten den ‘Electric Slide’, ein Mann torkelte über die Tanzfläche.
“Entschuldigen Sie, wenn ich mich einmische”, rief ein Mann vom Nebentisch. “Weight Watchers, diese Gewichtskontrolleure, was bilden die sich ein. Das ist eine geheime Regierungsorganisation.” Sein feistes Gesicht glänzte unter dem Cowboyhut. Auf der Rückseite des Hemdes prangte die Südstaatenflagge.
“Diese verdammten Yankees. Erst eröffnen sie bei uns ihre Abtreibungskliniken, und nun dies. Haben die uns nicht genug geschurigelt? Konspirieren gegen unsere Individualität. Dick sein ist freie Meinungsäußerung, und die steht in unserer Verfassung. Ich lasse mich nicht mit anderen gleichschalten, mein Bauch gehört mir!” Rod gab ihm Recht. Nun hatten sie Shirley im Kreuzfeuer.
Zu Haus war die Couch verwaist. Seine Frau saß am Küchentisch und las den Katalog der Mahlzeiten mit ihren Bonuspunkten.
“Fahren wir zu Burger King”, schlug Rod vor. Stattdessen fuhren sie zum YMCA. Die hatten preiswerte Fitness-Center. Eine halbe Stunde später saß Rod an einer dieser teuflischen Maschinen. Shirley zwängte sich zwischen die Haltestangen eines Laufbandes.
‘Die Weight Watchers, was haben die aus meiner Frau gemacht?’ Die Verbissenheit, mit der sich Shirley quälte, hatte in Rods Augen Unmenschliches. Sie war besessen. Das war nicht seine Shirley. Irgendwann würde sie dünn sein wie Geri. Was sollte er mit zwei dünnen Frauen? Rod stellte sich neben Shirleys Laufband und ließ es schneller laufen. Das Band summte diabolisch. Shirley keuchte, ihr Kopf rötete sich. Sie versuchte Rods Hand vom Regler zu ziehen.
“Rod, das ist zu schnell!” Ihr Atem ging stoßweise. Die Füße hämmerten über das rasende Band, dann brach sie zusammen. Halb ohnmächtig hing sie zwischen den Haltestangen. Es bedurfte fünf Muskel bepackter Männer, die Frau vom Band zu bekommen. Ein gestrandeter Wal auf dem Linoleum zwischen Gewichte stemmenden, rudernden, Rad fahrenden, laufenden, strampelnden Fitness-Fanatikern. Der herbeigerufene Arzt untersuchte Shirley. “Bei dem Gewicht hätte sie nicht so schnell laufen dürfen.”

“Willst du keine Kartoffel-Chips? Sollten wir nicht zu Burger King fahren, damit du wieder zu Kräften kommst?” Shirleys entschlossener Gesichtsausdruck machte Rod Angst. Sie aß einen Joghurt und verschwand zum montäglichen Weight Watcher-Treffen.

“Sie hat schon zwei Kilo abgenommen.”
“Was ist daran verkehrt?”, fragte Geri. Die große Kristallkugel über der Tanzfläche warf Reflexe auf das dunkle Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte.
“Wenn es nur das wäre. Sie haben Shirley verändert. Vorbei sind unsere Abende auf der Couch, und die bei Burger King. Montags und dienstags haben wir ferngesehen. Dramen auf dem Familienkanal. Wie oft sind uns da die Tränen gekommen. Doch jetzt hat sie nur noch Kalorien im Kopf. Das macht mich so wütend.”

Rod sah sie am Eingang stehen. Shirley starrte in die Dunkelheit. Sie trug einen Cowboyhut, eine farbige Bluse und einen Rock, der bis zum Boden reichte. Rod sprang auf und ging auf seine Frau zu.
“Was machst du hier?”
“Ich will mit dir tanzen.”
Rod sah zu seinem Tisch. Geri war verschwunden.
“Das strengt dich zu sehr an.” Shirley legte ihre Arme zum seinen Hals. “Ich mache es doch nur, damit du mich mitnimmst.”
“Was?”
“Das Gewichtsprogramm.”
Rod wurde wütend. Er hatte doch Geri. Wo war die überhaupt? Dafür war Shirley da. Die gehörte auf die Couch vor den Fernseher.
Die Kapelle spielte einen schnellen Two-Step. Rod zog Shirley auf die Tanzfläche. Slow slow – quick quick – slow slow – quick quick, dann fing er an Shirley zu drehen. Zwei Frauen im Blind Horse. Shirley und Geri. Der Dämon der Wut überwältigte ihn. Mit mir tanzen? Rod hetzte mit Shirley über die Tanzfläche, drehte sie und hörte nicht mehr auf... Dann lag sie bewegungslos auf dem Boden. Shirley, seine Shirley, ein großer Haufen Unglück. Rod richtete sich auf. Die Menschen saßen an den Tischen und starrten ihn an. Er wartete darauf, dass sie mit dem Finger auf ihn zeigten. Ihm war, als wäre er das Monster in einem Film. Erst jetzt sah er, dass er sich mit Shirley allein auf der Tanzfläche befand. Die Band hatte schon lange zu spielen aufgehört.
“Ein Krankenwagen!”, brüllte Rod. Ihm wurde schlecht. Einer der Polizisten beugte sich zu Shirley hinab.

Am Abend darauf holte Rod seine Frau vom Krankenhaus ab. Schweigend fuhren sie nach Hause. Rod hatte noch die Worte des Arztes im Ohr. “Sie hat sich zuviel zugemutet. Sie sollte es bei ihren Übungen langsam angehen lassen.” Zu Hause sagte Shirley: “Ich mache weiter” und setzte sich an den Küchentisch. Rod nahm neben ihr Platz. Gemeinsam studierten sie Kalorientabellen, später begleitete er sie auf dem Powerwalk und fuhr mit ihr zum YMCA. Burger King und der Blind Horse Saloon gehörten der Vergangenheit an. Shirley hatte sich seiner Kontrolle entzogen, und Rod fand es besser, sie im Auge zu behalten.
Am Montag begleitete er seine Frau zum Weight Watcher-Treffen. Dicke Menschen saßen im Kreis um eine Frau herum, die so dünn war wie Nancy Reagan. Ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Je intensiver Geri Rod anlächelte, desto unbehaglicher wurde ihm. “Hi Rod. Willkommen bei den Weight Watchers.”







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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.08.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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