„Auch Sie können bald Millionär sein, Sie müssen nur dran glauben!“ Herbert hob den grünen Werbeprospekt auf, der aus der Morgenzeitung gerutscht war, und schlurfte ins Haus zurück. Der kalte Nieselregen hatte die Zeitung aufgeweicht. Er legte sie zum Trocknen auf die Heizung, schaltete die Kaffeemaschine an, setzte sich an den Küchentisch und nahm sich noch mal den Werbezettel vor. Da stand wirklich, dass er Millionär werden könne, wenn er nur daran glaubte. In großen Buchstaben, und darunter, etwas kleiner gedruckt, eine Handy-Nummer, sonst nichts. Merkwürdig, dachte er. Geschenkt wird einem auf dieser Welt nichts, das wusste er nur zu gut. Er zerknüllte den Zettel und warf ihn gekonnt hinter sich. Aufräumen konnte er später, Arbeitslose haben Zeit.
Der Kaffee war durchgelaufen und die Zeitung musste inzwischen trocken sein. Herbert setzte sich und schlug die vorletzte Seite mit den Stellenangeboten auf.
„Wir suchen einen IT-Experten mit einschlägiger Berufserfahrung“ stand in der größten Anzeige.
„Na, dann viel Spaß beim Suchen!“ murmelte Herbert.
„Achtung, Hochschulabgänger! In unserem Hause stehen Ihnen alle Türen offen!“
„Vorsicht, ungelernter Arbeiter! Und bei mir zu Hause zieht’s auch überall.“
„Sind Sie jung, ehrgeizig, anpassungsfähig und belastbar?“
„Nein, ich bin gute fünfzig, schwer vermittelbar und hab’s im Rücken.“
Also auch heute wieder nichts dabei.
Herbert blätterte die Zeitung jetzt von vorne durch. Die ersten Seiten überschlug er. Da stand nur, dass es schon wieder mehr Arbeitslose gab, und dass man den Älteren die Stütze streichen sollte. Sowas wollte er jetzt nicht lesen.
Weiter zum Lokalteil. In der Stadt geschahen unerklärliche Mordfälle, gestern hatte es wieder einen Rentner erwischt. Außerdem gab es einen Bericht über die Defizite des Hallenbades und ein Foto des neuen Schützenkönigs mit seiner Familie. Also das Übliche. Auf der nächsten Seite war eine Lottogewinnerin abgebildet. Die Frau kam ihm irgendwie bekannt vor. „Anneliese Erdmann“ stand in der Bildunterschrift. Mit ihr war Herbert früher zusammen zur Schule gegangen. Interessant. „Die Gewinnerin hat ihr Glück einem System-Spiel zu verdanken“, stand da. „Seit Jahren nahm sie daran teil und hatte bereits oft bis zu mehrmals vier Richtigen in einer Ziehung, aber jetzt ist ihr mit sechs Richtigen der große Wurf gelungen. Eine knappe Million Euro gewann Frau Erdmann am Wochenende. ‚Ich habe viele Jahre gespielt und nur wenig gewonnen, aber ich habe immer daran geglaubt, dass das Glück auch einmal zu mir kommt.‘“
„Ach so ist das mit dem Glück“, grummelte Herbert. „Man muss nur daran glauben, und schon kommt es zu dir ...“ Er stutzte. Dann drehte er sich um und hob den zerknüllten Werbezettel wieder auf. „Auch Ihnen kann bald eine Million gehören, Sie müssen nur dran glauben.“
Vielleicht war Anneliese auch so an die System-Wetten gekommen. Herbert überlegte kurz. Anrufen konnte nicht schaden. Er strich den Zettel glatt und schlurfte in den Flur zum Telefon.
„Ja, hallo? Hier ist Herbert Schmidt. Ich habe Ihre Nummer auf diesem Zettel gefunden, ... in der Zeitung, und ich... ich will Millionär werden.“
„Na, herzlichen Glückwunsch“, sagte jemand am anderen Ende. Eine männliche, sehr angenehme Stimme, fand Herbert. „Sie haben sich richtig entschieden und bei uns angerufen. Jetzt haben Sie die Chance, eine Million zu bekommen. Können wir uns heute nachmittag treffen? Um fünfzehn Uhr im Stadtpark beim Kriegerdenkmal?“
„Ich werde da sein“, stammelte Herbert.
„Wunderbar, dann können wir die Einzelheiten besprechen, wie Sie an Ihre Million kommen. Sie müssen aber wirklich dran glauben, das ist ganz wichtig. Bis heute Nachmittag dann.“
Herbert legte den Hörer auf und merkte, wie er zitterte. Er konnte jetzt wirklich reich werden. Wie das genau funktionierte, würde er ja heute nachmittag hören. Wahrscheinlich war er immer zu pessimistisch an die Sache herangegangen, wenn es um gute Jobs oder überhaupt das große Glück im Leben ging . Man muss einfach glauben, dass es gelingt, dann gelingt es auch. Und Herbert war jetzt ein Glückskind. Ab heute würde sich sein Leben ändern.
„Nie wieder werde ich miese Jobs annehmen oder mich auf dem Arbeitsamt demütigen lassen, niemand wird mehr sagen, dass ich der Gesellschaft auf der Tasche liege.“ Herbert trank seinen Kaffee aus und schwebte ins Wohnzimmer. Als erstes würden die alten Möbel rausfliegen. In das Sofa hatte er schon eine tiefe Mulde gelegen, der Teppich war ausgelatscht, ein neuer Fernseher müsste her und auch die Tapeten mit dem Tropfenmuster versprühten noch den Charme der 70er Jahre. Vielleicht sollte er sich gleich eine neue Wohnung suchen, eine in einer besseren Gegend. Wenn er nur endlich das nötige Geld hätte...
Bis zum Nachmittag lief Herbert aufgeregt in seiner Wohnung herum und malte sich aus, wie sich sein Leben ändern würde.
Schließlich war es dann viertel vor drei, und Herbert machte sich auf den Weg in den Stadtpark. Er erreichte das Kriegerdenkmal schon lange vor der vereinbarten Zeit, aber sicher würde der andere auch bald kommen. Herbert trat von einem Fuß auf den anderen und überlegte. Es würden bestimmt ein paar Wochen bis zu seinem ersten Gewinn vergehen. Bei Anneliese hatte es über ein Jahr gedauert. Herbert schaute den Weg zur Straße hinauf. Er musste den Mann sehen, wenn er kam.
Plötzlich hörte Herbert hinter sich ein Knirschen auf dem Kiesweg. Er drehte sich um. Ein hagerer Mann in einem schwarzen Mantel mit Aktentasche unter dem Arm näherte sich. „Sie sind Herbert Schmidt, nehme ich an.“ Mit seinen unruhigen, grauen Augen wirkte der Fremde wie ein wildes Tier auf der Flucht.
„Ja, der bin ich“, sagte Herbert.
„Und Sie wollen gerne Millionär werden, ja?“
„Das stand in der Anzeige. Machen Sie System-Tipps? Eine Bekannte von mir hat vor kurzem...“
„Nein, ich mache andere Spiele. Aber setzen wir uns doch.“ Der Mann deutete auf die Bank vor dem Denkmal.
„Erzählen Sie mir von sich, Herr Schmidt. Was machen Sie beruflich?“
„Ich bin arbeitslos. Seit einem knappen Jahr. Vorher war ich auf dem Bau, mal hier, mal da. Aber jetzt bin ich wohl zu alt, da kriegt man keine Stelle mehr.“
„Haben Sie Familie?“
„Nein, habe ich auch nie gehabt.“
„Tja, Herr Schmidt, ich glaube, Sie sind unser Mann. Möchten Sie ein Bonbon?“
Herbert nahm eine der roten Kugeln aus der kleinen Blechdose, die der Fremde ihm anbot und steckte sie in den Mund. Sie war süß, hatte aber einen merkwürdigen Beigeschmack..
„Heißt das, ich kann jetzt Millionär werden? Aber was machen Sie denn jetzt eigentlich?“
Der andere lächelte und starrte ihn mit feurigen, irren Augen an.
„Sie sind schon Millionär, Herr Schmidt. Sie haben gerade eine Pille mit ziemlich genau einer Million Zyankali-Kristallen geschluckt, die sich gleich auflösen werden.“
Herbert erbleichte. „Aber das heißt ja...“
„Nun, Sie werden dran glauben müssen. Aber das stand ja auf dem Zettel. Das wussten Sie doch.“
Herbert sackte zusammen und begann zu röcheln. Währenddessen machte sich der unbekannte Mörder wieder auf den Weg.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.08.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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