Paul Walter

Das letzte Meisterwerk

Er war ein begnadeter Künstler. Ein Maler wie es ihn seit Da Vinci nicht mehr gegeben hat.

Merigmes
Begegnet bin ich ihm das erste Mal im März 2001 in einer kleinen Galerie in der 40th Ave. Ich war mal wieder unterwegs, um neue Künstler zu finden, welche sich bestens dazu eignen, in der Zeitung zerrissen zu werden. Unscheinbar stand er in einen alten Straßenanzug (typisch mittelloser Künstler) mit dem Galeristen zusammen und hielt einen Gegenstand unter seinem Arm, welcher mit einem hellbeigen Tuch bedeckt war. Der Galerist schien aufgeregt über etwas zu sprechen. Er blieb ganz ruhig, machte zumeist ein unbeeindrucktes Gesicht. Nur manchmal umklammerte er den Gegenstand unter seinem Arm, als wollte er ihn beschützen. Von meiner Tätigkeit als Kunstkritiker weiß ich, dass der Gegenstand unter dem Tuch ein Bild sein musste, das er der Galerie anscheinend verkaufen wollte. Dann wurde der Galerist lauter. Fast schon panisch gestikulierte er und bedeutete dem Mann, endlich zu gehen. Zögerlich gab der dem Wunsch des Galeristen statt. Fast mit einem weinerlichen Gesicht wendete er sich ab und ging leicht geknickt zur Glastür der Galerie hinaus.

Ich, durch das eben aufgeführte Schauspiel etwas neugierig, folgte ihm in gebührendem Abstand. Eine Querstrasse weiter stieg er in eine Taxe. In einer zweiten folgte ich Ihm Richtung des New Yorker Stadtteils Queens. An einem älteren Gebäude in der River St. stieg er aus und ging in das Bauwerk. Manchmal bin ich der Meinung, dass manche Gebäude schon vom Hinschauen in sich zusammensacken. Bei diesem Gebäude aus altem Ziegel wundere ich mich heute noch, weshalb es nicht schon längst zu Staub zerfallen war. Ich stieg aus dem Taxi, bezahlte den Fahrer (elende Blutsauger, meckern immer über das Trinkgeld) und eilte zu dem Eingang, in dem der Mann mit seinem tuch-verhangenen Bild verschwunden war. An der Klingel, die ich nicht mal mit Schutzhandschuhen angefasst hätte, war nur noch ein einziges Schild: Merigmes stand darauf. Laut dem Schild wohnte dieser Merigmes im vierten Stock. Doch wie ich hinauf ging, merkte ich schnell, dass er der einzige Bewohner dieses Hauses sein musste. Die Treppe in den verschiedenen Stockwerken hatte an zahlreichen Stellen Rostflecken. Vorsichtig bewegte ich mich hinauf. Immer auf der Hut, damit die Treppe nicht unter meinen Füße nachgab. Die Türen waren größtenteils vermodert und eine hing mehr lose im Rahmen. Der nächste Windhauch würde sie sicher umreißen. Im vierten Stock angekommen klopfte ich an der einzigen Tür, die nicht geschlossen war. Zaghaft, damit die rostige Tür nicht zerfiel.

Als Antwort vernahm ich aus dem Raum dahinter das Schlurfen von Strassenschuhen. Die Tür öffnete sich nach außen und ich blickte in das Gesicht des Mannes aus der Galerie. Ein wenig trauige Augen blickten mich an und begannen mich zu mustern. Durch den eleganteren Anzug, den ich trug, musste ich anscheinend etwas seltsam aussehen. Denn die Augen blickten mich nun etwas zögerlicher und misstrauischer an.

Ich stellte mich als Richard Est vor. Dabei zeigte ich Ihm meinen Presseausweis. Verwundert starrte mich der Mann jetzt an. Anscheinend hatte er nicht erwartet, dass ein Zeitungs-Kunstkritiker sich hierher verirren würde. Dieser Gedanke, scheint mir im nach hinein sogar richtig passend. Ich fragte ihn nach dem Namen Merigmes, und nahm an, dass der Mann so hieß. Er stellte sich allerdings als Simon Mc Rigmes vor und gab an, dass das Schild an der Klingel von seinem Vermieter falsch geschrieben worden sei. Er selbst hatte nie das Bedürfnis gespürt, es zu berichtigen. Nach dem anfänglichem Zögern schien das Eis gebrochen zu sein, denn Mr. Mc Rigmes bat mich in seine Wohnung.

In der Wohnung, welche mehr einer Lagerhaus-Etage glich, bot er mir einen Stuhl an und fragte mich, ob ich nicht etwas Tee trinken wollte. Ich lehnte dankend ab. Allerdings fand sich einige Minuten später doch eine Tasse in meiner Nähe. Mc Rigmes machte es sich mit seiner Tasse auf einer zerschlissenen Stoffcouch gemütlich, deren Farbe durch den Dreck nicht mehr richtig zu identifizieren war. Neugierig blickte er mich an, leise an seiner Tasse schlürfend.

Etwas unbehaglich begann ich damit, dass ich das Gespräch in der Galerie mitbekommen hätte. Ich erzählte, wie ich dadurch neugierig geworden war, und wie ich Mc Rigmes daraufhin mit dem Taxi hierher gefolgt war. Ein wenig amüsierte er sich, als ich über die Taxifahrer schimpfte, und meinte nur, dass diese wohl von einem anderen Stern seien.

Dann fragte ich Ihn nach dem „Bild“, welches er dem Galeristen verkaufen wollte. Er fragte mich, ob ich es sehen wollte. Ich bejahte dies und gab ihm zu verstehen, dass ich deswegen gekommen sei. Daraufhin erhob er sich und winkte mir, ihn in den hinteren Teil seiner Wohnung zu folgen. Diese war ein einziges Atelier. Farbe klebte in großen Flecken auf dem Boden, in der einen Ecke standen leere Leinwände und Rahmen, während auf einem Tisch Fotos und zerschnittene Zeitungen lagen. In einem Stahlregal lagen verschiedene Bilder. An das Regal gelehnt stand noch immer zugedeckt das Bild aus der Galerie.

Gemälde
Mc Rigmes hob das Gemälde auf einen Zeichenständer. Etwas ungeschickt plazierte er den Ständer noch anders im Raum und schlug das Tuch zurück. Im ersten Augenblick dachte ich, dass das Bild, welches ich an starrte, nur eine Fotografie sei. Doch bei näherer Betrachtung erkannte ich die dicken Blasen und Maserungen eines Ölgemäldes. Die Linienführung war perfekt. Die Farben... das ganze Gemälde fügte sich nahtlos in das Atelier ein. Wäre der Zeichenständer nicht gewesen, man wäre versucht gewesen, in das Bild hinein zu laufen.

Dann schlug Mc Rigmes das Leinen wieder schützend über das Bild. Nervös blickte er sich in dem Raum um. Dann meinte er, dass er jetzt wieder auf seine Muse hören sollte und bat mich zu gehen. Etwas erstaunt lies ich mich hinaus komplimentieren (hinauswerfen). Allerdings bat ich ihn noch kurz, sich einmal Gedanken über eine Ausstellung seiner Bilder zu machen, da ich der Meinung war, dass seine Bilder unbedingt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten. Er sagte, er werde es sich überlegen.

Nach zwei Tagen rief ich ihn an. Seine Telefonnummer hatte ich von der Auskunft erfragt. Bei dem Gespräch, welches damit endete, dass er sich bereit erklärte, vier seiner Werke für eine Ausstellung zur Verfügung zu stellen, kam mir die Stimme meines Gesprächspartners seltsam vor. Er stotterte leicht, fast unmerklich und seine Stimme klang etwas ängstlich, wie wenn er jetzt nicht reden wollte oder aber nicht reden konnte. Abschließend teilte mir Simon mit, dass ich mich doch bitte um die Organisation der Ausstellung kümmern möge. Kurz bevor er sich verabschiedete, hörte ich im Hintergrund ein leises Scharren. Dann verabschiedete sich Mc Rigmes hastig und legte auf. Das Tuten der Leitung drang in mein Ohr.

Zwei Wochen später eröffnete ich zusammen mit Simon die Ausstellung. Noch am selben Abend würden alle vier Kunstwerke die Besitzer wechseln. Dies war sicher auch mit der Tatsache verbunden, dass die Werke wirklich außergewöhlich, ja sogar brilliant und etwas seltsam zugleich waren.

Ausstellung
Das erste Gemälde, welches präsentiert wurde, war das (mir bereits bekannte) „Bildnis eines Ateliers“, wie es Mc Rigmes tituliert hatte. Wie mir erging es auch den anderen Besuchern der Ausstellung. Eine Frau in einem langen Abendkleid konnte ich aus dem Augenwinkel heraus beobachten, wie sie versuchte, in das Bild hinein zugreifen. Sie konnte sich jedoch im letzten Augenblick noch zusammenreißen und zog ihre Hand wieder zurück.

Mit dem zweiten Bild zeigte Mc Rigmes, dass er auch sehr wandlungsfähig war. Es zeigte eine Collage aus Zeitungsausschnitten mit einer Zeichnung in Aquarell, welche er nach dem alten Öl-Signet bereits im Jahre 1985 geschaffen hatte. In der düsteren Hügellandschaft, deren Gräser verdorrt waren, thronte eine Art Fabrik. Ein Schornstein in weiß und ein hoher Kran waren zu sehen. Hinter die Zeichnung hatte der Künstler ein großes Ei aus einer Zeitung geschnitten. Wie zerbrochen lag es hinter der Fabrik. Und aus seinem Inneren quoll eine grüne Wolke, welche Mc Rigmes mit Atom-Zeichen aus verschiedenen Zeitungen garniert hatte. Auf dem vordersten der Hügel war außerdem die Metzger-Skizze einer Kuh und das eines Menschen aufgeklebt.

Das nächste Werk war eine reine Kreide-und-Wasser-Zeichnung. Nach der Signatur wurde es im letzten Jahr fertig gestellt. Es zeigte zwei Hochhäuser, beide mit großen Buchstaben als wtc bezeichnet. Im ersten Gebäude schlug so etwas wie Flammen aus den obersten Stockwerken. Ein angedeutetes Flugzeug ragte mit dem Heck aus den Flammen heraus. Strichmännchen schienen aus dem brennenden Gebäude heraus zu springen. Das zweite Gebäude war noch ganz. Jedoch hatte der Künstler im Hintergrund ein zweites Flugzeug angedeutet. Als Namen hatte er dem Bild „Schwarzer Herbst“ gegeben.

Als letztes hatte Simon Mc Rigmes noch eine Kohle-Zeichnung mit dem Titel „Meine Muse wollte gezeichnet werden“ ausgewählt. Dieses Bild hatte er anscheinend extra für die Ausstellung gezeichnet, denn die Signatur war März 2001. Allerdings konnte das Wesen, welches diese Zeichnung zeigte nie als Muse im eigentlichem Sinne (als schönes, liebliches Mädchen) bezeichnet werden. Auf einem schemenhaftem Hocker kauerte eine Kreatur, welche zu beschreiben schwierig ist. Die Statur eines kleinen Kindes habend, jedoch irgendwie mit „Fell“ bewachsen. Der Kopf schien nach vorne zu fliehen, ähnlich einer Schnauze. Das ghoulisch-hündische Aussehen wurde noch durch die langen Klauen und spitze Ohren verstärkt. Bei dem Anblick stellten sich mir die Nackenhaare auf. Wie konnte jemandem so etwas gefallen, wie konnte jemand so etwas kaufen!

Die Bilder hingen noch für eine Woche in der Galerie. Nach dieser Woche lies ich die Werke von Simon Mc Rigmes durch ihre neuen Besitzer abholen. Der Käufer der „Muse“ merkte mir deutlich meinen verstörten Blick an, als er das Bild von der Wand nehmen ließ. Ich danke ihm heute noch, dass er mich nicht nach dem Grund gefragt hatte. Hätte er es getan, ich hätte einen Schreikrampf gekriegt.

Bitte morgen öffnen!
Drei Tage zuvor hatte ich ein Päckchen vom Mc Rigmes erhalten. In dem Brief teilte er mir mit, dass er nicht weiter machen könne. Er wollte sich aussprechen, sagte in dem Brief aber nicht, mit wem. Die Schuhschachtel zu dem Brief sollte ich allerdings erst am nächsten Tag öffnen, nachdem ich die Zeitung gelesen hatte. Eindringlich bat er mich darum. Ich untersuchte die Schachtel allerdings äußerlich und bemerkte bald den Geruch wie von frischer Ölfarbe.

Am nächsten Tag setzte ich mich in meiner Wohnung wie jeden Tag mit einer Tasse Kaffee an den Tisch und schlug die Zeitung auf. In den Meldungen die Stadt betreffend las ich unter anderem von einem Mord, der in Queens verübt wurde. Nach den Worten musste es ein recht grausamer Mord gewesen sein. Es war von entfernten Eingeweiden die Rede. Der Reporter hielt sich jedoch mit seinen Ausführungen ziemlich zurück, das merkte man an dem Schreibstil.

Nach der morgentlichen Zeitung kümmerte ich mich um die Schuhschachtel, welche ich mir extra auf den Küchentisch gestellt hatte, damit ich sie nicht vergesse. Hätte ich sie nur vergessen. Denn in der Schachtel befanden sich fünf kleine Ölbilder, gemalt in der klaren und faszinierenden Art von Simon Mc Rigmes. Das erste Gemälde zeigte das Atelier, welches den Hintergrund auf allen Bilder darstellte

Das zweite Bild zeigte außerdem Simon Mc Rigmes. Ich erkannte Ihn sofort an dem Strassenanzug, den er bei unserer ersten Begegnung in der Galerie in der 40th Ave. getragen hatte, obwohl er mit dem Rücken zum Betrachter stand. Im hinteren Bereich des Ateliers konnte man einen geduckten Schatten ausmachen.

Das dritte Gemälde zeigte den Schatten in seiner vollen Schrecklichkeit. Mc Rigmes schien sich mit der Kreatur aus seinem Muse-Bildnis zu streiten. Deutlich erkannte man die Heimtücke in den Augen des Wesens und wie sich an seinen Lefzen der Speichel zu Tropfen bildete. Es schien, als würde das Wesen auf den richtigen Augenblick warten. Simons Gesicht war zu einer angstverzerrten Fratze geworden. Er wirkte drohend und zurückweisend.

Bildnis 4 zeigte, wie Simon am Boden lag. Um ihn hatte sich ein großer, roter Fleck gebildet. Das Wesen saß triumphierend auf seinem Brustkorb. Seine Kehle war zerrissen. Sein Anzug und sein Gesicht waren rot befleckt. Wie auch die Schnauze des Wesens. Seine Klauen rissen den Körper auf.

Im letzten Bild sprang das Wesen mit aufgerissener Schnauze und wildem, durchbohrendem Blick auf mich zu. Ich spürte seine Reißzähne an meiner Kehle.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.08.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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