Wolfgang Hermsen

Die Schildkröte

Es gab einmal eine alte Schildkröte, die sehr weise war. In jungen Jahren hatte sie sich des Öfteren darüber geärgert, dass sie nur langsam voran kam. Wie oft war sie schon von schnelleren Tieren überholt worden. Manche von ihnen verhöhnten sie sogar und lachten über ihr „wahnsinniges“ Tempo. Im Laufe der Zeit regte sie sich nicht mehr auf und ließ gerne den „Rasern“ den Vortritt. Eines Tages meinte wieder einmal ein noch junger Gepard ihr zeigen zu müssen, was Geschwindigkeit wäre. Er schoss an ihr vorbei, dass es nur so staubte. Nach einigen Metern trat er in ein kleines Loch, stolperte und überschlug sich mehrfach. Vor Lachen kam die Schildkröte noch langsamer voran als sonst. Bei ihm angekommen stellte sie fest, dass er bewusstlos geworden war. Er hatte sich wohl den Kopf irgendwo angeschlagen. Sie blieb so lange bei ihm, bis er wieder erwachte. Kopfschüttelnd sprach sie: „Na du Heißsporn. Ging es dir nicht schnell genug?“ „Lach‘ mich nur aus. Noch kannst du es aber bald bin ich dir wieder weg gerannt.“ „Dann steh‘ doch mal auf.“ „Das werde ich sofort tun.“ Er wollte aufspringen und schnellstens verschwinden. Wenn ein anderer Gepard davon erführe, dass ihn eine Schildkröte eingeholt hätte. Nicht auszudenken. Er konnte aber nicht rennen, denn sein linkes Vorderbein schmerzte ihn sehr. Humpelnd wollte er loslaufen aber die Schildkröte hielt ihn auf: „Versteck‘ dich hier hinter den Büschen und warte, bis ich wieder zurück bin. Ich werde dir einen Verband anlegen und dafür brauche ich einige besondere Blätter. Es wird nicht lange dauern.“ Der Gepard schleppte sich hinter die Sträucher und blieb still liegen. Hoffentlich dauerte das Warten nicht ewig. Die Schildkröte verschwand raschelnd im hohen Gras. Von seinem Versteck aus konnte er gut beobachten, wie ein Löwenrudel vorbei trottete. Wenn ihn die Löwen erwischt hätten, wäre es aus mit ihm gewesen. Er hielt den Atem an, bis das Rudel verschwunden war. Kurz darauf kam eine Hyäne seinem Versteck gefährlich nahe. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Hoffentlich bemerkte sie ihn nicht, denn auch Hyänen konnten problemlos einem fußkranken Gepard den Garaus machen. Vor Angst machte er eine unbedachte Bewegung und raschelte etwas. Das hatte die Hyäne mitbekommen und ging dem Geräusch nach. Sie sah ihn und entblößte ihre Furcht erregenden Zähne. Er dachte, dass sein letztes Stündlein gekommen war und erwartete ihren Biss, der sein Leben beendete. Plötzlich heulte sie auf und sprang in weiten Sätzen davon.

Was war geschehen? Das war doch nicht normal, denn Hyänen verhielten sich sonst ganz anders. Da tauchte der Kopf der Schildkröte aus dem Gras auf und spuckte einige Haarbüschel aus. Um den Gepard zu retten, hatte sie der Hyäne kräftig in den Schwanz gebissen und ihre einige Haare dabei ausgerupft. Dieser für sie völlig überraschende Angriff hatte sie so in Angst und Schrecken versetzt, dass sie schnellstens jaulend das Weite suchte. Scheinheilig fragte die Schildkröte den Geparden: „Hast du lange gewartet?“ „Was? Wieso? Lange gewartet? Ich habe mehr Angst als alles andere gehabt.“ „Läufst du deshalb immer so schnell?“ „Du weißt genau, dass ich jetzt kaum laufen kann. Ich finde es gemein von dir, mich auf den Arm zu nehmen.“ „Ach, der Herr ist empfindlich. Stell‘ dich nicht so an und halte mir deine Pfote hin. Ich werde sie dir jetzt verbinden und in einigen Stunden geht es dir wieder besser. Außerdem beschütze ich dich bis dahin.“ Der Gepard wollte sie zuerst auslachen, doch er besann sich und bedankte sich bei ihr. Schließlich hatte sie die Hyäne in die Flucht geschlagen und dadurch sein Leben gerettet. Eine Frage schoss ihm durch den Kopf: Wäre er auch so mutig gewesen wie die Schildkröte? Bestimmt nicht, denn sie hatte Recht, als sie ihn auf seine Angst ansprach. Er rannte doch wie alle seine Artgenossen vor jeder Gefahr davon. Was sollte er denn anderes tun? Geparden waren Löwen, Hyänen und anderen Fleischfressern gegenüber immer im Nachteil. Fast jedes Mal raubten sie ihnen die Jagdbeute, weil sie viel stärker waren.

Die Schmerzen waren fast weg, als ihm die Schildkröte den Verband abnahm. Sie bewegte sein linkes Vorderbein ein wenig hin und her. Etwas tat es noch Weh aber er konnte beinahe wieder normal laufen. Er bedankte sich sehr bei der Schildkröte und versprach ihr feierlich, ihr beizustehen wenn sie einmal in Not geriete. Anschließend ging er wieder seiner Wege. Sie blickte ihm nach, bis er hinter den Bäumen verschwunden war. Gemächlich begab sie sich zu der Stelle, an der die herab gefallenen Früchte eines großen Obstbaumes lagen. Eine Pavianhorde, bestehend aus mindestens 150 Tieren, tat sich an den Früchten gütlich. Die Schildkröte aß sich satt und ging anschließend zu ihrem Nachtlager bei den Büschen. Einige junge Paviane wollten mit ihr spielen, denn sie wussten noch nicht, dass eine Schildkröte kein Spielkamerad für Affen war. Sie sprangen auf ihrem Rückenpanzer herum, wollten an ihren Beinen und dem Kopf ziehen und sie komplett untersuchen. Da es ihr nicht gefiel, zog sie Kopf und Beine ein und wartete, bis es den Paviankindern zu langweilig wurde. Wie gewöhnlich dauerte es nicht lang und sie ließen von ihr ab. Ein unbewegliches Spielzeug war nicht ihr Ding und so gingen sie wieder zurück zu ihrer Horde. Die Schildkröte machte sich wieder auf zu ihrem Platz unter den Büschen. Dort fuhr sie Kopf und Beine ein und schlief bald darauf. Passieren konnte ihr nichts, denn niemand konnte ihren Panzer aufbrechen.

Am nächsten Morgen wachte sie auf, streckte ihre Glieder aus und machte sich auf den Weg, um etwas zu fressen zu finden. Nach dem Frühstück lief sie noch ein wenig durch die Savanne und genoss die Kühle der frühen Stunden. Mittags war es viel zu heiß, um sich in der prallen Sonne aufzuhalten. Da verkroch sie sich am liebsten in den Schatten, den Büsche oder Bäume warfen. Als die Schildkröte ihren Spaziergang beendet hatte, ruhte sie sich bei einem dichten Dornbusch aus. Aus dem dichten Gras drang ein Gespräch an ihr Ohr: „Ich habe großen Hunger. Lasst uns eine Gazelle fangen.“ „Wartet, bis wir nahe genug an der kleinen Herde sind.“ „Immer nur warten, wie furchtbar. Da holen uns ja die Schildkröten ein.“ „Mach‘ dich nicht über sie lustig. Mir hat gestern eine das Leben gerettet.“ „Was? Eine Schildkröte? Hat sie dich etwa überholt?“ „Nein, ich trat in ein Loch und verstauchte mir die linke Vorderpfote. Sie hat mir die Pfote verbunden und eine Hyäne in die Flucht geschlagen, die mich töten wollte.“ Danach trat Stille ein und die Schildkröte döste bis in den späten Nachmittag hinein. Als sie hungrig wurde, erhob sie sich und suchte nach den letzten grünen Grasstängeln. In der Nähe eines großen Baumes fand sie noch welche und begann zu fressen. Plötzlich erzitterte die Erde und eine Herde Büffel raste heran. Sofort zog die Schildkröte ihren Kopf und die Glieder ein, denn so konnte ihr nichts zustoßen, dachte sie. Die Herde stampfte an ihr vorbei und da geschah es. Die Nachzügler traten gegen den Panzer und warfen die Schildkröte auf den Rücken. Das war lebensgefährlich für sie, denn sie trocknete aus, wenn sie nicht schnell wieder auf die Beine kam. Sie bemühte sich zwar aber es war ihr unmöglich, sich umzudrehen. Eine Elefantenherde auf Futtersuche kam näher und bemerkte das Unglück. Die Leitkuh ging auf die Schildkröte zu und drehte sie auf den Bauch. Überglücklich bedankte sie sich: „Vielen, vielen Dank. Ohne dich wäre ich verloren gewesen. Sage mir doch, was ich für dich tun kann.“ „Dein Dank reicht völlig aus. Du hast schon so viel für uns Tiere getan, da ist es doch das Mindeste, dass wir auch einmal dir helfen können. Denk‘ an den Gepard, den du gestern noch gerettet hast.“ „Woher weißt du das?“ „Mit unseren großen Ohren hören wir immer, was vorgeht. Uns bleibt nichts verborgen, denn wir sind ständig in Verbindung mit allen anderen Elefantenherden. Es ist wohl nicht nett, einer Hyäne in den Schwanz zu zwicken aber wenn du dadurch ein Leben rettest, geht das in Ordnung. Mach‘ weiter wie bisher. Vielleicht sehen wir uns ja bald wieder.“ „Nochmals vielen Dank und bis bald.“

Als die Schildkröte zu alt und zu schwach zum Laufen geworden war, wurde ihr von vielen Tieren geholfen. Sie bekam genug zu fressen und zu trinken und hatte viel Gesellschaft. Oft wurde sie auch um Rat gefragt und gab immer bereitwillig Auskunft. Auf diese Art half sie trotzdem noch allen Tieren so gut es eben ging. Eines Morgens wachte sie nicht mehr auf. Alle Lebewesen waren traurig über diesen Verlust. Ein Warzenschwein grub ein Loch unter ihr, in das sie langsam hinein glitt. Danach schob es die ausgegrabene Erde über sie und ein Elefant glättete das Grab. Mit trotziger Stimme meldete sich ein Gepard zu Wort: „Nur wenn wir sie oder ihre Taten vergessen, ist sie wirklich gestorben.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.09.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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