Doris Ruhnau

Schatten

Schatten
© Doris Ruhnau, 17.09.04

Gedankenverloren stand Franziska am Fenster und schaute auf den Teich. Das Mondlicht ließ die Fläche silbern leuchten. Kleine Nebelschwaben zogen über ihn hinweg. Plötzlich zogen dunkle Wolken auf. Die Äste der Bäume bewegten sich in dem auffrischenden Wind. Fröstelnd zog sie ihren Bademantel enger um sich. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. Sie konnte, wie so oft in den letzten Nächten, nicht schlafen. Ihre Gedanken weilten in der Vergangenheit – bei Laura ihrer Schwester.
Laura sah mit ihren blonden, widerspenstigen Locken wie ein Engel aus. Sie war lebhaft, konnte wie ein kleines Kätzchen schmeicheln, wenn es galt ihren Willen durchzusetzen. Kaum einer konnte ihr widerstehen. Äußerlich ähnelten sie sich, aber sie, Franziska, war stets die Ruhigere gewesen. Sie blieb stets im Schatten ihrer Schwester. Alles drehte sich nur um Laura. Das hatte sehr weh getan. Oft hatte sie neid- und hassvoll auf die Schwester geblickt.
Sie zog aus ihrem Elternhaus aus, um weitab an der Universität Kunst zu studieren. Ihre Eltern waren gegen das Studium, da sie dieses als „brotlose Kunst“ ansahen.
Laura erhielt von einer Fotomodell-Agentur ein Angebot. Sie schmiss die Schule und reiste von einem Fototermin zum anderen. Stolz zeigten die Eltern die Bilder von Laura herum.
Franziska seufzte und wandte sich vom Fenster ab. Sie sollte sich nicht mehr mit der Vergangenheit beschäftigen. Es war vorbei, sie hatte es geschafft, sie war in der Branche angesehen, verkaufte ihre Bilder gut und konnte sich alles leisten. Das kleine Haus, mitten im Wald, gab ihr die Ruhe, die sie für ihre Arbeiten brauchte und wenn ihr nach Gesellschaft war, konnte sie sich in ihren kleinen Sportwagen setzen und in die Stadt fahren. Sie zuckte zusammen als das Telefon klingelte. Zögernd nahm sie den Hörer auf.
„Bellinger“
„Hallo Franzi, hilfst Du Laura?“
„Jens ...“ Sie holte tief Atem. „Du? Von was sprichst Du?“
Jens schwieg eine Weile. „Franzi, hat Laura noch nicht mit Dir gesprochen?“
„Laura will mit mir sprechen?“ Sie lachte spöttisch auf. „Du weißt, dass wir nicht miteinander reden.“
Als Jens schwieg, fragte sie wütend „Und ... kann ich jetzt wieder schlafen?“
Erschrocken fragte Jens schließlich. „Laura ist nicht bei Dir?“
Franzi lachte auf. „Das fehlte gerade noch, Du weißt, dass ich sie nie wieder sehen will, schon gar nicht in meinem Haus.“ Zornig schmiss sie den Hörer auf.
Schluchzend ließ sie sich in den Sessel fallen. Jens und sie waren ein glückliches Paar gewesen. Sie lebten schon zwei Jahre zusammen und hatten ihre Heirat geplant, als Laura vor ihrer Tür stand und sie bat, ein paar Tage bei ihnen bleiben zu können. Sie sah so verzweifelt aus und flehte sie an. So kannte Franziska ihre kleine Schwester nicht und es bereitete ihr Genugtuung, dass Laura sie anbettelte. Sie wollte den Misserfolg von Laura so richtig genießen und gewährte ihr daher die Unterkunft. Warum hatte sie sich nur von diesen miesen Gefühlen leiten lassen? Dieser vermeintliche Triumph währte nicht lange. Jens verstand sich großartig mit Laura und sie stand abseits im Schatten. Einem Schatten, den man keine Beachtung schenkte, wenn die Sonne strahlt. Sie bat Laura, sich eine Wohnung zu suchen, bot ihr finanzielle Hilfe an. Laura hatte spöttisch gefragt: „Will Jens das auch?“ Als sie mit Jens am Abend über einen Auszug von Laura sprach, hatte er ihr wütend vorgehalten, dass sie herzlos, ja gefühlskalt sei. Es gab keine Gemeinsamkeiten mehr. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten, hatte sich dieses Haus gekauft und war ausgezogen. Die Hoffnung, dass Jens ihr folgen würde, zerbrach, als sie die Heiratsanzeige erhielt.
Wütend wischte sie sich die Tränen ab. Die beiden waren keine Tränen wert. Sie schlief unruhig ein.

Franziska war nach wenigen Stunden aufgestanden. Sie hatte sich starken Kaffee gekocht und war in ihr Atelier gegangen. Sie malte wie besessen. Gegen Mittag erwachte sie wie aus einem Traum und starrte auf das Bild. Was malte sie? Das Bild zeigte einen düsteren Wald mit einem tiefschwarzen See. In den Ästen waren schemenhaft grausame und grinsende Dämonen zu erkennen. Diese blicken auf den kleinen Körper eines Kindes auf dem Grunde des Wassers. Das helle lockige Haar breitete sich fächerförmig aus. Die Augen waren schreckhaft geweitet. „Nein, nein“, schrie sie auf. Taumelnd ging sie die Treppe herunter.
Es war Abend geworden. Franziska saß noch immer starr in dem Sessel als es an der Haustür klingelte. Als das Schellen anhaltender wurde, erwachte sie aus ihrer Reglosigkeit und schleppte sich zur Tür.
„Franzi ...“, fassungslos starrte Jens sie an. „Was ist mit Dir? Bist Du krank?“ Er führte sie in das Wohnzimmer uns legte sie auf die Couch.
„Jens“, flüsterte sie, „Du bist zurückgekommen? Sie schaute ihn glücklich an,
„Franzi, entschuldige ... wo ist Laura? Ich mache mir Sorgen.“
Franziska wurde noch bleicher. Ihr Blick verfinsterte sich. „Du kommst nicht zu mir?“
„Franzi, mache es uns nicht schwer. Wo ist sie?“
„Nicht hier.“ Kaum hörbar fügte sie hinzu „Ich lasse sie niemals mehr in mein Haus.“
Finster schaute Jens sie an. „Sie ist Deine Schwester. Laura wollte Dich um Hilfe zu bitten. Ohne Deine Hilfe stirbt sie.“ Verzweifelt schlug er die Hände vor das Gesicht.
„Der Teufel soll sie meinetwegen haben.“
Entsetzt schaute Jens sie an, drehte sich um und schlug die Tür zu. Franziskas Lachen ließ ihn erschauern.
Franziska erhob sich und ging wieder in ihr Atelier. Sie schaute auf das Bild. Das Mädchen am Grunde des Sees war Laura. Ihre Schwester Laura, die ihr alles genommen hatte, die Kindheit, den Mann, den sie immer noch liebte und damit ihre Zukunft.

Jens kam am anderen Morgen wieder. Franziska öffnete ihm sofort, als ob sie auf ihn gewartet hätte. Sie hatte sich leicht geschminkt und lächelte ihn freundlich an. Man sah ihr nicht an, dass sie am Abend zuvor, schwach und blässlich da gelegen hatte.
„Jens, wie schön, dass Du noch einmal kommst. Tut mir leid, dass ich gestern unpässlich war und mich nicht freundlich benommen habe.“
„Ich freue mich, dass es Dir besser geht und es tut mir leid, dass ich Dich mit meinen Sorgen überfallen habe.“
„Komm herein und lasse uns in Ruhe sprechen. Ich habe gerade Kaffee aufgesetzt.“
Als der Kaffee dampfend vor ihnen stand, kam Jens nochmals auf sein Anliegen zurück. Er war schmal geworden, sein Gesicht war bleich und seine Hände zuckten nervös.
„War Laura bei Dir, Franzi? Ist sie noch hier?“
Franziska nippte an ihrem Kaffee und schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, ich habe Laura nicht gesehen.“
Jens sprang auf. „Ich verstehe das nicht. Laura ist spurlos verschwunden.“
„Vielleicht hat sie irgendein Angebot angenommen und kommt in ein paar Tagen zurück.“
„Nein, nein, sie ist schwer krank. Nur eine Knochenmarkspende kann sie noch retten. Du warst unsere letzte Hoffnung.“
Franziska stand auf und legte die Arme um ihn. „Es tut mir leid.“ Er zog sie an sich und einen Moment fühlte Franziska sich wieder glücklich.
Dann löste sich Jens aus ihren Armen. „Es bleibt mir nichts anderes, als eine Suchanzeige bei der Polizei aufzugeben. Verzeih, ich muss gehen. Ich kann hier nicht tatenlos sitzen und Kaffee trinken.“
„Vielleicht werde ich bald verreisen“, sagte sie leise. Er nahm die Worte nicht richtig wahr.
Traurig schaute ihm Franziska nach.

Auf das Schellen und Klopfen der Polizeibeamten öffnete niemand. Jens war schon um das Haus gegangen und hatte Franziska in dem großen Garten gesucht. Alle Fenster waren verschlossen.
„Frau Bellinger ist nicht zu Hause“, stellte Kommissar Selter gerade fest.
„Sie muss da sein, ich habe mit ihrem Agenten gesprochen. Er ist über keine Reise informiert“, sagte Jens aufgewühlt. „Der Taxifahrer hat Laura hier abgesetzt und er hat auch gesehen, dass die Tür geöffnet wurde. – Brechen Sie die Tür auf. Es muss eine Spur von Laura geben!“ Leiser fügte er hinzu. „Bitte.“
„Das dürfen wir ...“
„Es geht um das Leben meiner Frau“ schrie Jens und schlug mit einem Stein, den er in der Hand hielt, ein Fenster ein. Ehe die Beamten ihn aufhalten konnte, vergrößerte er das Loch und stieg in das Haus. Jens lief von Zimmer zu Zimmer. Keine Spur von Franziska und Laura.
Als er das Atelier betrat fiel ihm das Bild auf der Staffel auf. Er trat näher und erschrak. Auf dem Grund des Sees lag ... Laura. Als er näher ging, bemerkte er den kleinen Zettel, welcher unten angeheftet war.
Entsetzt las er die Zeilen:

„Der Schatten hat sich vor die Sonne geschoben. Ohne Sonne gibt es keinen Schatten. Ich habe die Sonne getötet und muss ihr folgen. Sonne und Schatten sind im See auf Ewigkeit vereint.“




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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.09.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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