Hans Pürstner

Die Frau aus dem Nichts

Sie tauchte auf aus dem Nichts. Plötzlich stand sie vor mir. Wie ein Geist. Ein Geist aus der Erinnerung. Ich glaube, jeder Mann hat so was wie eine Traumfrau. Wie der Name schon sagt, existiert die meistens nur im Traum. Oder als Wunschtraum. Aber hier stand sie vor mir, ganz real. Lächelte mir zu. Mir, dem die Mädchen meist die kalte Schulter zeigten. Zumindest dann, wenn ich feste Absichten erkennen hatte lassen. „Ich finde dich ja nett, aber ich möchte nicht, dass du dir Hoffnungen machst!“. Das war eine Standardformel, die ich oft genug gehört hatte, langsam nicht mehr hören konnte. Aber die hier sagte nichts, lächelte mich an, kokett, fordernd. Lange, dunkelblonde Haare hatte sie, große Kulleraugen. Ein verführerischer Mund schien zu sagen, komm her, küss mich. Dabei kannte ich sie doch gar nicht, war ihr nie zuvor begegnet. Sollte es sie doch geben, etwas höheres als die irdische Gerechtigkeit. Hatte ich etwa den Hauptgewinn gezogen, das große Los der Vorsehung? Endlich schaffte ich es den vor Staunen geöffneten Mund zu schließen. Um ihn gleich wieder zu öffnen mit dem ebenso banalen wie naheliegenden Satz auf den Lippen „Wer bist du denn?“ Ihr Lächeln nahm kein Ende „Ich bin Caroline, erkennst du mich nicht mehr? Damals in England, am Strand von Bournemouth“. Jetzt fiel es mir wieder ein. Wie hatte sie sich verändert. Kaum noch wieder zu erkennen. Doch immer noch schön wie damals vor dreißig Jahren. Sie war die Freundin meiner damaligen Flamme gewesen. Die hatte sie mitgebracht zum Baden. Anstatt mich zu begrüßen, hatte Caroline mir ein Stück Schokolade zwischen die Lippen gesteckt und mich angelächelt. So wie jetzt. Nur ohne Schokolade. Aber damals war ich hin und weg. Dieses simple kleine Stück Schokolade hatte etwas ausgelöst in mir, das man gar nicht beschreiben kann. Meine Flamme war weniger begeistert gewesen, denn meine Augen hingen nur noch an Caroline. Nicht mehr an ihr. Die Einladung zum Discobesuch nahm sie an. Whow, ich war begeistert. Doch zur vereinbarten Zeit tauchte sie nur kurz auf, um mir abzusagen. „Tut mir leid, aber ich will meine beste Freundin nicht verlieren!“, hatte sie gesagt. Mich im Regen stehen lassen, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich habe beide nie wiedergesehen. Bis heute. Doch nun stand sie vor mir. Nahm mich in den Arm, streichelte mir leicht mit den Fingern durch die Haare. Genussvoll schloss ich die Augen. Ihr Mund näherte sich meinem. Aber irgendetwas störte in diesem wunderbaren Moment,im Hintergrund war ein Piepen zu hören, erst leise, dann immer lauter. Ich öffnete die Augen wieder und sah meinen Radiowecker vor mir, die Anzeige blinkte. Tja, wie schon am Anfang gesagt. Es war nur die “Traum"frau. Aber es war schön! Klingt paradox, ich weiß. Enttäuscht und trotzdem zufrieden drückte ich die Taste, um den Alarm auszuschalten. Was für ein Traum.

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Über den Tag hinaus zu schauen, heißt für mich, neben dem Alltag, dem normalen Alltäglichen hinaus, Zeit zu finden, um das notwendige Leben mit Gefühlen, Träumen, Hoffnungen, Sehnsüchten, Lieben, das mit Lachen und Lächeln zu beobachten und zu beschreiben. Der Mensch braucht nicht nur Brot allein, er kann ohne seine Träume, Gefühle nicht existieren. Er muss aus Freude und aus Leid weinen können, aber auch aus vollem Herzen lachen können. Jeder sollte neben dem Zwang zur Sicherung der Existenz auch das Recht haben auf romantische Momente in seinem Leben.

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