Kristina Korus

Vom weggeworfenen Herz

Er stand still.
Ganz still.
Und er horchte.
Auf den Wind. Das Flüstern der Blätter. Das Rauschen seines Blutes.
Schwer ging sein Atem, und schwer würde jeder Schritt werden, den er zu gehen versuchte.
Gehetzt hatten sie ihn durch Wald und Gestrüpp, durch Hecken und Dornen, mit kläffenden Hunden.
Doch er war ihnen entkommen.
Vorerst.

Sein Herzschlag verlangsamte sich allmählich, während der Wind seine Haut kühlte.
Zahlreiche Wunden brannten in seinem Körper.
Aufgescheuert, zerrissen, zerstochen die Haut.
Verbrannt die Seele.

Sein Herz stand still.
Er nahm es heraus und warf es weg.
Nie wieder wollte er etwas fühlen.
Nie.

Er griff sich einen Stock und schleppte sich davon, nichts sehend außer seine zerschundenen Füße.
Nichts fühlend.
Grau wurde seine Welt.

“Hey.“ Glockenklar war die Stimme.
“Du hast was verloren.“
Er drehte sich um. Sie erschrak vor seinem geschundenen Gesicht. Es schien ihr, als vermochte es weder Wut noch Trauer noch Freude auszudrücken.
Sein leerer Blick streifte sie kurz. Dann drehte er sich um und verschwand im Wald.
“Aber...“, sie lief ihm ein paar Schritte nach.
“Mädchen!“ Das war die Stimme der Alten.
Die Kleine mit dem blonden Wuschelkopf sah sich um.
“Er hat es aufgegeben, sein Herz“, schnaufte die Alte, “du musst es pflegen. Eines Tages wird er es wieder brauchen.“
Die Kleine nickte und fing an, Amseln gleich ein Nest zu bauen. Die Alte legte noch ein paar Kräuter mit hinein, und von diesem Tag an trug das Mädchen das Herz immer bei sich.
Pflegte es, lachte es an, zeigte ihm die kleinen Spatzen, die vor dem Küchenfenster ihrer Kate zu nisten begonnen hatten.

Die Jahre vergingen.
Die Alte starb.
Die Kleine wurde groß.

Eines Tages ging sie Kräuter sammeln, für das Herz, das sie in einem Korb bei sich trug.
Da begegnete ihr ein alter Mann.
Verhärmt sah er aus. Zerfurcht von den Mahlzähnen der Zeit. Gegerbt war seine Haut, leer sein Blick.
Doch er schien etwas zu suchen.
Murmelte unverständliche Sachen vor sich hin.

“Hey.“ Glockenklar war die Stimme.
“Hast du was verloren?“

Ein leerer, grauer Blick traf sie, doch schien es ihr, als würde etwas in seinen Augen aufflackern. Er verlor den Halt, als er nicken wollte.

Schwach ging sein Atem, nur leicht hob und senkte sich seine Brust.
Eine glockenklare Stimme sprach zu ihm, doch er verstand sie nicht.
Dann wurde es plötzlich warm in ihm.

Und er lag still.
Ganz still.
Horchte auf den Wind. Das Flüstern der Bäume. Die glockenklare Stimme.
Das Pochen seines Herzens.

Sie saß noch lange da. Mit seinem Gesicht auf ihrem Schoß gebettet.
Es lächelte, und eine Träne, schillernd in den frühen Sonnenstrahlen eines neuen Tages, kullerte aus seinen leeren, blauen Augen hinunter auf ihre Schürze.
Daneben stand der Korb. Leer.
Nur ein paar Kräuter dufteten noch daraus.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.09.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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