Ruth-Maria Schmitt

gefangenschaft (in einem körper)

Ich sitze an meinem Fester und sehe den umherwirbelnden Blättern zu. Der Herbst ist da. Die Bäume biegen sich mit dem Sturm, ein Mann wickelt seinen Mantel fester um seinen Körper und vereinzelt blitz ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke. Im Park vor meinem Fenster jagen kleine Kinder den Blättern hinterher, ein paar Kinder und Jugendliche üben an einer selbstgebauten Rampe Stunts mit dem Fahrrad. Eine Familie mit zwei Kindern versucht sich am Drachen steigen lassen und der See kräuselt sich sanft.

Es klopft an der Türe. “Ja?“, sage ich leise vor mich hin. Mein Mutter kommt herein: “Willst du mit mir und Tante Gisela ein Stück Kuchen essen?“ Ich schüttle nur den Kopf. “Nun, komm schon, Gisela hat extra eine Apfelkuchen gebacken, weil du den so gerne isst...“ Ich schweige, soll sie doch. Aber ich hab keine Lust. “Jetzt stell dich doch nicht so an. Du kannst nicht die ganze Zeit hier in deinem Zimmer sitzen und aus dem Fenster sehen.“ Wenn sie meint... Ich würde mir jetzt gerne meine Mantel schnappen und hinaus stürmen in das wunderbare Herbstwetter. Ich würde jetzt gerne mit den anderen draußen Fahrrad fahren. Die waghalstigsten Sprünge über die Rampe wagen. Aber ich kann nicht. “Geh jetzt,“ sage ich mit rauer Stimme. Meine Mutter seufzt und verlässt das Zimmer. Ich weiß das sie traurig ist.

Später kommt Janis, mein jüngere Bruder, er war auch im Park, er hat mir ein paar wunderschöne Herbstblätter mitgebracht. Ich bitte ihn sie zwischen Duden und Atlas zu legen, als er das gemacht hat geht er ins Wohnzimmer, ich höre durch die geschloßene Türe das er einen Zeichentrickfilm sieht. Früher hab ich das auch gerne gemacht, das saßen wir stundenlang vorm fehrnseher und haben uns Tom und Jerry, Pink Panter und die Schlümpfe angeschaut, früher.

Kurz vor dem Abendessen kommt mein Vater in mein Zimmer und setzt sich neben mich. Ich sehe ihn nicht an. “Deine Mutter sagt du saßt heute schon wieder die ganze Zeit vorm Fenster und hast wieder kaum geredet,“ sagt er. Ich bleibe stumm. Was soll ich darauf auch groß erwiedern? “So geht das nicht weiter, deine Mutter ist am Ende, so kann sie dich nicht länger versorgen...“, fährt er fort. Ich stelle auf Durchzug, denn ich kenne den Vortrag der jetzt kommt schon auswendig, es gibt eine Einrichtung wo JUgendlichen wie mir geholfen wird, und bla bla bla... Draußen geht eine Frau mit Kinderwagen vorbei. Das Baby ist mit einem dicken Kissen gut zugedeckt... “Hast du mich verstanden?“ Mein Vater reißt mich aus meinen Gedanken. Ich nicke bloß, zum reden fehlt mir die Kraft. “Ok. Dann ist das beschloßene Sache, morgen fahren wir gemeinsam dort hin und schaun uns mal um...“ Ich erstarre, ich möche wüten, schreien, heulen, gegen den Schrank treten und den Boxsack kaputt schlagen. Aber ich kann nicht...

“Komm deine Mutter hat gerufen, es gibt Abendessen,“ mit diesen Worten buchsiert mein Vater mich ins Esszimmer.

Am nächsten Morgen wache ich auf und hoffe das meine Mutter auch bald wach wird. Rufen möchte ich nicht. Ich sehe mich in meinem Zimmer um. Warum denn ausgerechnet ich? Warum war ich in meinem Körper gefangen. Meine Seele will raus, den Herbst erleben. Aber mein Körper hält mich hier gefangen. Ich will dem Rollstuhl neben meinem Bett einen Schlag versetzen. Aber ich kann nicht. Denn ich bin in meinem Körper gefangen...

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