Michael Schnitzenbaumer

Das Gleis zum Ende der Zeit

In der Ferne erkannte ich noch die Scheinwerfer des davonrauschenden Zuges, die sich verbissen gegen die nächtliche Dunkelheit zu behaupteten versuchten und wie rotglühende Augen böse auf mich zurückblickten. Das hohle Geheul des Transportkonstrukts drang zu mir herüber, als es auf dem verwitterten Gleis der Fremde entgegen raste, so als wollte es beklagen, dass ich es verpasste hatte. Allerdings schien ich nicht der einzige zu spät gekommene Nachzügler zu sein. Am Beginn des verfallenen Bahnsteiges das zu diesem alten Nebengleis gehörte, verharrte ein auffallend großer Mann, der mir den Rücken zuwandte. Aber während die Lichter des Zuges verblassten und schließlich gänzlich entschwanden, drehte er sich langsam zu mir um. Es war mir nicht möglich seine Gestalt aus dieser Entfernung näher zu bestimmen, zumal der größte Teil seines wankenden Körpers von einem langen dunkelgrauen Mantel verdeckt wurde. Darüber hinaus blieb sein Gesicht im Schatten einer breiten Hutkrempe verborgen. Erst als er an der Zigarette zog, enthüllte die rötlich aufleuchtende Glut einige Stellen seines hageren, fahlen Antlitzes. Eingefallen, zerfurcht und dennoch ohne bestimmbares Alter. Fast schien es, als wollte diese abstrakte lebensgroße Puppe ihre Fremdartigkeit mit einem langen Mantel und einer menschlichen Maske kaschieren.
Einmal pendelte der lange, dürre Leib dieses Etwas soweit nach links, dass es unmöglich das Gleichgewicht halten hätte können, und doch blieb es regungslos in dieser Position und winkte mir gemächlich zu.
Bei diesem Anblick, ich weiß heute nicht mehr wieso, wurde mir übel. Hätte ich meinen Blick nicht von diesem Wesen abgewandt, ich hätte mich sicher übergeben. Kurze Zeit darauf siegte aber meine Neugierde. Ich blickte erneut in Richtung des Mannes, doch da war der bereits verschwunden.

Mich fröstelte - trotz der lauen Sommernacht. Weg! Nur weg von diesem abgelegenen Nebengleis. So floh ich durch die erstickende Schwüle, versuchte der bedrückenden Einsamkeit des betonierten, grau in grau gegossenen Bahnsteigs zu entgehen und hastete zur Bahnhofshalle. Meine unruhigen Schritte hallten durch die abgelegenen Teile des Bahnhofes, während ich mich auf den Weg zur Haupthalle machte.
,Wie bin ich hierher gekommen?' kam es mir dabei in den Sinn. ,Wo war ich nur zuvor? - Gott sei Dank, das Hauptgebäude! Jetzt schnell noch den Durchgang entlang. Endlich endlich unter Menschen sein.'
Ich würde auf Nachtschwärmer treffen, die durch den Bahnhof hetzten, vielleicht um noch rechtzeitig zu ihrem letzten Bus zu gelangen. Ich würde Betrunkene sehen, und Sicherheitsbeamte, die diese wachzurütteln versuchten. Ich würde vor Geschäften stehen, die auch nachts noch geöffnet hatten, und in denen ein paar kauffreudige Passanten letzte Besorgungen tätigten.
Doch als ich den Hauptbau betrat, hätte ich vor Überraschung und Verzweiflung schreien mögen. Ich stand in einer gewaltigen, aus verschmierten Glaskacheln bestehenden Halle - dunkel, düster, menschenleer! Unzählige Gleise lagen zu meiner Linken. Jedes parallel zum anderen verlaufend, führten sie aus der Bahnhofshalle in eine stockfinstere Nacht. Die nördlichsten Gleise, ganz hinten, verloren sich ebenfalls in der Dunkelheit.
Ein plötzliches Geräusch schreckte mich auf. Ein nervöses Flattern über meinem Haupt. Tauben? Tauben! Ganz sicher! - Oder doch etwas anderes? Etwas, das diesem Wesen am Seitengleis ähnlich war?
Ein erster Reflex gebot mir aus der Halle stürzen. Doch wohin sollte ich fliehen? Nach draußen in die schattenfressende Nacht? Nein! Lieber bleibe ich in diesem Gemäuer.
Da! Noch ein Geräusch! Diesmal aber aus dem hinteren Teil der Halle. Dröhnende Motoren summten eine leise monotone Melodie.
Das Summen und Dröhnen zog mich in dessen Richtung. Vorsichtig schritt ich neben den Schienen her, bis ich einen gewaltigen Umriss erkannte. Etwas ruhte auf einem der Gleise und schien auf mich zu warten.
Endlich durchbrachen meine Blicke die Dunkelheit, und ich erkannte die Maschine. Einer stählernen Schlange gleich, so lang, dass sie von einem Ende der Halle bis zum anderen reichte, lag sie neben dem Bahnsteig Nummer 9. Die Schlange spuckte hellen, heißen Dampf zwischen ihren Rädern heraus. Der quoll mir entgegen und hüllte mich ein.
In meinem Unterbewusstsein schrie eine innere Stimme, geplagt vom tiefsten Entsetzen. Sie mahnte mich zu rennen und mich keinesfalls mehr umzudrehen. Doch ich wollte die Schreie nicht hören und betrachtete fasziniert den alten Zug.
Oder eher dessen rostige Waggons, deren grüner Anstrich schon an vielen Stellen abzublättern begann. Die Lok selbst umhüllte sich weiterhin mit Finsternis. Einige der verfallenen Wagen waren völlig durchlöchert. Um so mehr wunderte es mich, dass im Gegensatz dazu, alle Fenster heil geblieben waren. Keine Sprünge, ja nicht einmal Kratzer wiesen sie auf und dennoch waren sie so trübe, dass man nicht hineinsehen konnte.
Ein Blick auf die große Anzeigetafel verriet mir, dass auch dieser Zug den Bahnhof bald verlassen würde. Dort stand: Gleis 9 nach - dann kamen verschnörkelte Hieroglyphen, die ich nicht entziffern konnte - Abfahrt in 11 Minuten.
Auf einmal glitt eine Waggontüre quietschend zur Seite. Sie lockte mich, meiner Neugierde nachzugeben und einzusteigen. Geisterhafte, süße Stimmen riefen nach mir, sehnten sich nach meiner Gegenwart. Sollte ich es wagen? Wohin fuhr dieser Zug, dessen unsichtbare Passagiere mich so innig baten, an ihrer Gesellschaft teil zu haben? Mir blieb nicht mehr viel Zeit. Abfahrt in 5 Minuten, mahnte die Tafel.
,Steig ein!' riet ich mir selbst. ,Der Ort zu dem wir reisen muss voller wunderbarer Dinge sein.' Doch meine innere Stimme gab keine Ruhe und heulte immer lauter, und für einen Augenblick glaubte ich in den Tiefen der gläsernen Halle eine hungrige, gierige Präsenz zu spüren.
"Steig ein!" flöteten jetzt auch die Passagiere. "Versäume nicht dein Glück!" Noch 3 Minuten bis zur Abfahrt!
Ich durfte nicht länger zögern. Ich durfte mich von meinen Ängsten nicht abhalten lassen, all die Herrlichkeiten zu erleben, die der Klang der Stimmen versprach. "Schnell, schnell! Spute dich", forderten sie. Die letzte Minute! Ich war dazu entschlossen der Versuchung zu erliegen. Ohne auf den warnenden Aufschrei in meinem Geist zu hören, eilte ich auf die offene Türe zu, bereit mich den glückseligen Wonnen des Zuges hinzugeben.
"Abfahrt auf Gleis 9", dröhnte eine Lautsprecherstimme durch die Halle. "Bitte treten Sie zurück!"
Nein! Ich musste mit! Ich griff nach dem Stützbügel seitlich der Tür. Mein linker Fuß berührte das Steiggitter. Der Zug begann langsam anzurollen. Dampfend und pfeifend walzte er los. Noch ein Sprung und ich hatte es geschafft!
Ein letzter Satz, da ... da riss ich meine Augen auf. Wo war ich? In einem Bett? War alles nur ein Traum? Aber das Bett, in dem ich lag, war nicht das meine. Es gehörte zu einer Intensivstation.
Tage später erfuhr ich von einem Arzt, was mit mir geschehen war. Ein Betrunkener raste mit seinem Wagen auf mich zu und erwischte mich frontal. Drei Tage verbrachten die Ärzte damit, mein Leben zu retten.
Das blanke Grauen hätte mich beinahe ins Koma zurück gestoßen, denn schlagartig drang eine Erkenntnis in meinen Verstand, die ich während meines Traumes in den tiefen Gewässern meines Unterbewusstseins zu ertränken versucht habe.
Nur mein Instinkt hatte auf die latente Gefahr reagiert, denn dieser Bahnhof mit dem Zug und all seinen Gleisen war mehr als nur ein Schemenspiel gewesen.
An der Schwelle des Todes war meine entweichende Seele auf einen Irrweg geraten und hatte, anstatt den sicheren Schoß des Anderreiches anzusteuern, sich von einer lauernden Wesenheit ködern lassen. Einer Wesenheit so riesig, fremdartig und abnorm, dass sie mein Geist nur wahrzunehmen vermochte, weil er Bilder von etwas Bekannten damit verband - Bilder eines Bahnhofes.
Das Ganze liegt nun drei Jahre zurück, meine Verletzungen sind alle verheilt, von dem Unfall ist nichts geblieben. Ich denke nur noch wenig an jene Zeit, doch wenn ich daran denke, schleicht sich noch immer eine Frage bei mir ein: Wohin wäre dieser Zug mit mir gefahren?

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.09.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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