In dem Augenblick, in dem sie sich gegenübertraten, war nichts von Scheu zu merken. Beherzt trat sie an ihr Gegenüber heran und sah die Frau unbeirrt an. Fast wohlwollend bemerkte Gilda die leichten Fältchen unter den Augen der Frau. Sie meinte, einen schmerzlichen Ausdruck in den bernsteinfarbenen Pupillen zu erkennen. Doch dieser verflog so rasch, wie Gilda dieser Gedanke gekommen war.
Fast hatte Gilda das Gefühl, etwas sagen zu müssen, doch war das Einverständnis dieser beiden, die sich gegenüber standen, spürbar im Raum. Wie ein Parfüm, leicht und frisch, dennoch unmerkbar süß, fast wie ein Hauch, der im nächsten Moment verfliegen könnte.
Gilda begann, die Frau mit ihren Blicken in ihrer Ganzheit in sich aufzunehmen. Haselnussbraune Haare umspielten das Gesicht, sie sah rosige Haut und hier und da, die kleinen Striche, die das Leben in Gesichter malt. "Ein wenig kantige Konturen", dachte Gilda. "Sie könnte doch weicher ausschauen?"
Wie oft hatte Gilda in gebrochene Augen geblickt, auf grauen Teint, wenn Demut und aufgezwungener Gehorsam Teile des Mienenspiels waren. Und Haare. Haare, die einst prachtvoll, doch durch lieblose Behandlung stumpf und nichtssagend erschienen. Haare. Strähnig, kraftlos, ausgelaugt - Attribute, die nicht nur das Äußerliche, sondern die Tiefe einer Seele gleichermaßen beschrieben.
Wie oft hatte sich Gilda vor solchen Anblicken gefürchtet. Ihre eigene Hilflosigkeit gefürchtet.
Ihre Angst gespürt, etwas zu sagen und Widerspruch zu erheben, weil Verteidigung alles nur noch schlimmer machte. Wie oft hatte sie ausgeharrt, bis sie die blauen Flecken und krustigen Abschürfungen nicht mehr zu sehen waren. Um sich dann wieder der Frau zuzuwenden und sie mit leisen Tönen zu beruhigen, ihr einzureden, alles würde gut und die Zeiten wären ja auch mal schöner gewesen. Sie wusste selbst, dass nichts besser würde. Dennoch redete sie sich selbst in kindlichem Vertrauen immer wieder ein, dass die Zeit die Wunden verheilen ließe. Zeit würde sicherlich auch dafür Sorge tragen, dass ER sich veränderte. Würde sich die Frau IHM mehr zuwenden, sich um IHN sorgen, SEINE Wünsche erfüllen, sie sich selbst ein wenig mehr zurücknehmen und versuchen, ihre eigenen Belange IHM zuliebe zurück zu stellen, ja, dann würde es bestimmt besser.
Schließlich liebte ER sie. Das sagte ER ihr immer wieder. Sie hatte sicherlich ihren Teil dazu beigetragen, wenn ER sie schlug. Kein Mann mag es gerne, wenn seine Frau andere Männer anschaute.
Oder waren es nur andere Menschen? War es nicht die alte Nachbarin von nebenan gewesen, mit der sie nur ein paar Sätze gewechselt hatte?
Die Frau wusste es selbst manchmal nicht mehr genau.
Gilda hatte der Frau oft ins Gewissen geredet. Sei lieb zu IHM, SEIN Tag war anstrengend. Schau zu, dass du SEIN Bier gut gekühlt hast, warmes Bier ist nun wirklich kein Genuss. Mach, dass die Kinder leise sind, wenn ER auf dem Sofa schläft, ER hat Erholung verdient. Lass den Braten nicht anbrennen, du weißt doch, dass ER gutes Essen schätzt. Und natürlich - lass IHN auch im Bett spüren, dass du SEIN bist. ER ernährt dich und die Kinder, ER verdient das Geld, ER ist der Mann. Du weißt doch, bei Mutter war es doch auch so. ER hat das Recht, zu bestimmen. Und weine nicht so laut, wenn ER dich geschlagen hat. Irgendwas wirst du schon falsch gemacht haben, also beschwere dich nicht. Aber bedenke immer: ER liebt dich. ER möchte nur, dass du es richtig machst, ER sorgt sich. Um dich.
Gilda verstand es gut, das tonlose Aufbegehren der Frau zu erkennen und nahezu sofort zu unterdrücken. Wenn sich der Körper der Frau fast unmerklich straffte, schritt sie sofort ein. Zu gefährlich, riet sie. ER ist nicht in Stimmung, das hinzunehmen. Sie konnte es nicht verantworten, dass die Frau zu früh ihr Erdulden aufgab. Auch dafür gab es eine Zeit.
Gilda konnte nicht verhindern aufzuwachen.
Gezielte und brutale Schläge, die keinen Anlass mehr brauchten, rissen sie aus ihren Träumen.
Eines Sonntagmorgens, als die Wirklichkeit ihre Illusionen verwischte, waren es nicht mehr nur Fäuste. Nur noch Donnerhall war zu hören, nur noch Schmerzen waren zu spüren, nur noch nackte Angst war zu fühlen. Angst, die Zeit nicht mehr zu erleben, in der irgendwann alles besser würde.
Gilda wusste nicht, dass die alte Nachbarin damals die Polizei angerufen hatte. Die Frau hatte nichts mehr mitbekommen. Als sie aus dem watteweichen gnädigen Schlaf erwacht war, hatten andere Menschen für die Frau gesorgt. Dafür gesorgt, dass die Kinder Essen und Kleidung und liebevolle Betreuung bekamen. Ein Sozialarbeiter hatte dafür gesorgt, dass die Frau eine andere Wohnung bekam. Ein Richter hatte dafür gesorgt, dass ER sie nie wieder schlagen durfte. Eine Therapeutin hatte dafür gesorgt, dass sie sich nie wieder schlagen lassen würde. Sie selbst hatte dafür gesorgt, dass sie sich selbst liebte und um sich selbst sorgte.
Und nun sah Gilda die Frau an. Sie anzuschauen, war eine Wohltat. Gilda lief ein leichter, angenehmer Schauer über den Nacken.
Da stand sie. Aufrecht, mit rosigem Teint und nur ganz leichten Fältchen unter den Augen. Sorgfältig geschminkt, mit kräftigen, haselnussbraunen Haaren und einem selbstbewussten Ausdruck in den bernsteinfarbenen Augen.
Lächelnd und stolz blickte die Frau Gilda in die Augen. Dann wandte sich Gilda vom Spiegel ab und verließ das Badezimmer.
(c) 25.08.2004 Birgit Seitz
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.09.2004.
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