Luna Weizen

Ein Lächeln im November

Ich heiße Naomi. Ich bin ein ganz normales 17jähriges Mädchen. Seit meiner Geburt lebe ich mit meinen Eltern hier, im siebten Stock eines Hochhauses einer typischen städtischen Großwohnsiedlung. Unser Haus ist grau. Bei seinem Anblick schwinden einem sämtliche Gedanken. Man wird von diesem Haus aufgesogen, hineingerissen in seine Monotonie. Fenster neben Fenster, Fensterreihe über Fensterreihe, Balkon über Balkon, ein Quadratmeter grauer als der andere. Umgeben von Häusern identischen Aussehens. Es ist unmöglich einem Fremden zu beschreiben hinter welchem dieser Masse von Fenstern sein eigenes Reich liegt.
Doch mein Fenster ist zu sehen, wenn man nur genau genug hinschaut. Ich habe aus Krepppapier und Pappe eine große rote Blume gebastelt, deren Farbe von aussen nach innen über orange zu gelb verläuft. Diese Blume klebt jetzt seit einem Jahr an meinem Zimmerfenster. Inzwischen sind ihre Farben verblasst, aber man kann immer noch von der Strasse aus mein Fenster erkennen.
In der Schule gelte ich als zuverlässig und ruhig, aber humorvoll. Ein ganz normales 17jähriges Mädchen eben. Durchschnittliche Noten zieren jährlich seit meiner Einschulung meine Zeugnisse, die Lehrer loben mich wegen meiner hohen Kompromißbereitschaft. Meine Eltern sind zufrieden mit mir. Zufrieden - Ich bin ein zufriedenstellendes Ergebnis ihres Zusammenlebens.
Es war an einem Tag im letzten November, an das genaue Datum kann ich mich nicht mehr erinnern, jetzt haben wir Januar. Dieser Tag war grau und verregnet. Unser Haus schien heute grauer als grau zu sein. Es klingelte an der Tür, ich öffnete und draußen stand jemand. Ich hatte meine Brille nicht auf der Nase und konnte nur eine Hand sehen die sich mir entgegenstreckte und ein Lächeln. Ein Lächeln, das mich vergessen ließ. Es ließ mich vergessen, dass mein Mutter mich in einem Streit mit meinem Vater als "Kondompanne" bezeichnet hatte. Sie hatten geglaubt ich schliefe.
Es ließ mich den Gürtel meines Vaters vergessen als ich klein war. Es hatte mich niemand durch die papierdünnen Wände unserer Wohnung schreien gehört.
Es ließ mich das Lachen meines Vaters vergessen, als meine Katze vom Balkon sprang. Einem Stück Fisch hinterher, das er geworfen hatte.
Ich reichte dem Lächeln die Hand und folgte ihm, als es mich fortzog.
Als ich unten auf dem Bürgersteig stand, sah ich meine Blume brennend rot leuchten und das Lächeln drückte warm meine Hand. Plötzlich riß der Himmel auf und leuchtend blaue Flächen wurden sichtbar. Alles grau zog sich zu kleinen weißen Wolken zusammen. Ich sah Blumen wachsen. Ich sah wie sie sich vorsichtig aus der Erde schoben, wuchsen und sich aus ihren Knospen die herrlichsten Blüten entwickelten. Und alle waren brennend rot, orange und gelb. Das Lächeln hob mich hoch in die Luft und ließ mich schweben. Ich flog mit den Schmetterlingen, die um meinen Kopf tanzten und fühlte den Wind zu mir sprechen. Alles war so friedlich. Auf der ganzen Welt war Frieden eingekehrt. In mir herrschte Frieden. Das Lächeln nahm mich auf den Arm und trug mich zur Sonne, deren warme Strahlen mich liebkosten. Ich fühlte mich, wie nie zuvor, stark und geliebt. Ich glaubte plötzlich zu mehr fähig zu sein, als zufriedenzustellen.
Ich lief barfuß über eine Wiese und spielte mit schillernden Seifenblasen fangen, die nicht bei der kleinsten Berührung zerplatzten, sondern noch größer und bunter wurden, wenn man sie streichelte.
Irgendwann ging der Mond auf und ich kuschelte mich an das Lächeln, das die ganze Zeit nicht von meiner Seite gewichen war, und schlief von den Sternen zugedeckt ein.

Jetzt ist es Januar und ich sitze in einem kleinen Zimmer, dessen kahle weißgestrichene Wände auf mich zuzukommen scheinen. Um mein Handgelenk ist ein Plastikarmband mit der Aufschrift
< Psychatrische Anstalt für Jugendliche, Abt. 1> gebunden.
Ich bin ein ganz normales 17jähriges Mädchen - dachte ich einmal.
Sie haben mich von meinem Lächeln getrennt, es von mir fort gerissen.
Am Anfang, vor eineinhalb Monaten, habe ich geschrien und getobt. Habe die Weißbekittelten gefragt wieso ich hier bin. Doch mit mir redet niemand. Sie habe mir erzählt, dass ich am 11.November eingeliefert wurde. Von der Polizei aufgelesen, nachdem ich drei tagelang, nur mit einem Nachthemd bekleidet im Regen auf der Strasse herumgelaufen war - aber der Himmel war doch blau.
Von einer Vermißtenanzeige wußte keiner etwas.
Gestern war mein Vater hier. Er besucht mich regelmäßig alle zwei Wochen. Gestern hatte er geschwollene Augen und ein verquollenes Gesicht. Er erzählte mir, dass meine Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei. Ich konnte nicht weinen und lachte ihm ins Gesicht.
Plötzlich, als hätte jemand eine Tür geöffnet war mein Lächeln wieder da. Von nun an würde ich immer über kleine rosane und weiße Wölkchen laufen und mit den Vögeln um die Wette singen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.02.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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