Eva Markert

Hölle


Die Stickigkeit des Raumes nahm jedem lebendigen Wesen den Atem. Die grellweiße Damastdecke lag wie ein Leichentuch über dem Tisch. Bleierne Stille lastete auf den beiden Menschen. Messer blitzten im Kerzenschein und Gläser funkelten böse.
Erbsen und Reis. Wie schon so oft. Erbsen und Reiskörner konnte man gut zählen. Lustlos schob er sich eine Gabel in den Mund. Während er kaute, sah er sie unverwandt an.. Zwei hektische rote Flecken glühten auf ihren Wangen. Ihre Hände bebten unaufhörlich.
Sie vermied es, seinen Blick zu erwidern. Angestrengt starrte sie auf das armselige Häufchen Nahrung, das in der Mitte ihres großen Tellers lag.
Das Schweigen im Raum schien zu dröhnen. Was könnte er zu ihr sagen? Seine Arbeit, seine Pläne, seine Sorgen und Freuden - das alles erreichte sie schon lange nicht mehr. Was könnte er sie fragen? Sie lebte in ihrer eigenen Welt, die ihm verschlossen blieb.
Das Essen schmeckte fad. Sollte er sie vielleicht um das Salz bitten? Oder würde dies eine Panikattacke auslösen? Würde sie ihre wasserhellen Augen aufreißen und diesen hysterisch schrillen Schrei ausstoßen, womöglich sogar ohnmächtig werden? Vielleicht wäre es am einfachsten aufzustehen, halb um den Tisch herumzugehen und das Salz selbst zu nehmen. Oder würde sie dann aufspringen, in ihr Zimmer flüchten und die Tür hinter sich abschließen?
Er nahm einen großen Schluck Rotwein. Jetzt wusste er, wie er es machen konnte. Er würde sich quer über den Tisch lehnen, um an das Salzfässchen heranzureichen. Gleich wollte er es tun, wenn sie wieder mit Zählen beschäftigt war.
Was hatte ihre Furcht vor ihm ausgelöst? Er erinnerte sich an kein besonderes Ereignis. Es hatte schleichend begonnen. Über ihre Vergangenheit war ihm fast nichts bekannt. Warum hatte sie sich an ihn gebunden? Von Anfang an war sie ein Geheimnis für ihn gewesen.
Und was sah sie nun in ihm? Es war unmöglich zu erahnen, was wirklich in ihr vorging. Nur dass sie Gefangene in ihrem undurchdringlichen Irrgarten der Angst war, daran hatte er keinen Zweifel.
Es gab eigentlich nur eines, was er genau wusste: Sie hatte Geld, sehr viel Geld sogar!
Widerwillig nahm er den nächsten Bissen. Ein Reiskorn kitzelte ihn in der Kehle und er verschluckte sich. Gegen seinen Willen hustete er heftig, räusperte sich, konnte den Husten nicht unterdrücken. “Verzeihung“, röchelte er, ehe sie zu schreien beginnen und mit lautem Klirren ihre Gabel auf den Teller fallen lassen konnte. “Ein Reiskorn“, fügte er hastig hinzu.
Aber merkwürdigerweise reagierte sie kaum. Sie nickte und lächelte und beschäftigte sich weiter mit ihrem Essen. Sie nickte und lächelte oft, ganz gleichgültig, was er sagte. Vielleicht hatte sie heute einen guten Tag. Vielleicht würde er gleich sogar ein wenig mit ihr plaudern können. Es musste ihm nur etwas einfallen, was er sagen könnte.
Für einen Augenblick hielt er inne und warf einen lauernden Blick auf die schmächtige Gestalt, die ihm gegenübersaß.

Behutsam führte sie die Gabel zum Mund. Ihre Hand zitterte dabei so stark, dass die drei Erbsen bedenklich hin und her rollten. Langsam, langsam! Nur keine Aufmerksamkeit erregen! Fast hätte sie erleichtert aufgeatmet, als die drei kleinen grünen Kugeln endlich in ihrem Mund verschwunden waren. Bedächtig kaute sie. Neunundzwanzigmal, so wie immer. Sie zählte im Geiste mit: 17, 18 - von den drei Erbsen war nichts mehr übrig - 20, 21 - sie biss sich auf die Zunge - 23, 24 - es tat weh - 26, 27 – sich nur nichts anmerken lassen! - 29 - geschafft!
Nun war eine Gabel mit fünf Reiskörnern an der Reihe. Dann wieder drei Erbsen. Und schließlich, nach sieben mal drei Erbsen, ein Schluck Wein. Es war immer so schwierig, beim Essen den Überblick zu behalten! Niemand durfte sie dabei ablenken. Vor allem er nicht!
Sie wagte einen heimlichen Blick. Da saß er mit seinen rabenschwarzen Haaren, den Rücken dem lodernden Kaminfeuer zugewandt, und aß. Wie ein Mensch aß er, umglüht von einer Aura aus Feuerschein. Die leibhaftige Ausgeburt der Hölle.
Faszination und Grauen hielten sich die Waage. Kleine Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. Sie fröstelte und senkte die Augenlider.
Schnell weiteressen! Diesmal legte sie die drei Erbsen sorgfältig zurecht, ehe sie sie aufspießte. So selbstverständlich wie möglich schob sie die Gabel in den Mund. Vorsicht, Vorsicht! Sie durfte nicht auffallen, damit er sie um Gottes Willen nicht beachtete.
Wann war er eigentlich zu ihr an den Tisch gekommen? Sie konnte sich nicht erinnern. War sie nicht eben noch allein gewesen in diesem Raum, der von staubiger Düsternis erfüllt war? Aber so machte er es immer. Aus dem Nichts konnte er sich materialisieren. Plötzlich stand er da, rührte sie an, sprach zu ihr, bedrohte sie, um genau so plötzlich wieder zu verschwinden. Er konnte in Dimensionen eindringen, wo er für Sterbliche unsichtbar blieb. So verbreitete er tödlichen Schrecken, selbst wenn er nicht anwesend war. Und deshalb würde sie ihm auch niemals entkommen können.
Fünf Reiskörner. Es gelang ihr nicht, fünf Reiskörner abzuzählen und auf die Gabel zu schieben. Der Reis klebte in Klümpchen zusammen. Sie stöhnte und schrak sofort zusammen. Sie durfte kein Geräusch machen!
Aber es war zu spät. Er hatte sie bemerkt. Er sprach zu ihr. Seine kehlige Stimme überzog ihren Leib mit Gänsehaut. Sie wollte nicht zuhören. Nur eins wünschte sie sich: dass er schwieg, dass seine Stimme verstummte, diese heisere Stimme, die nicht die Stimme eines Menschen war.
Sie nickte und versuchte zu lächeln. Nicken und Lächeln, damit gelang es ihr fast immer, den Geräuschbrei zurückzudrängen, der aus seinem Mund quoll. Doch heute ergoss sich Schwall um Schwall unverständlicher Laute in ihr Ohr. Warum nur konnte sie nicht begreifen, was er sagte? Lag es daran, dass Wesen wie er rückwärts sprachen?
Sie nickte und lächelte wieder, ohne ihn anzusehen. Dabei konzentrierte sie sich auf die Erbsen. Drei Erbsen. Als sie die Gabel, so wie sie sein musste, endlich zum Mund führen konnte, war es wieder still im Zimmer.
Fünf Reiskörner - drei Erbsen ... Angestrengt blickte sie auf ihren Teller hinunter. Fünf Reiskörner - die sieben mal dritte Erbse - ein Schluck Wein. Geschafft!
Aber wieder gelang es ihm, sie überlisten. Einen scharfen Schrei stieß sie aus, als sie das Geräusch hörte. Er hatte nach etwas gegriffen, nach einem Salzfass. Sie sprang auf. Ihr Stuhl fiel polternd um. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf den Tisch. Unaufhaltsam fraß sich das versickernde Blut wie eine scharlachrote Blume des Bösen in das Leichentuch. Das Glas, aus dem er getrunken hatte, lag neben dem silbernen Kerzenleuchter.
Und dann - sie wehrte sich, aber vergebens, er war stärker als sie - dann sah sie ihm ins Gesicht. Vor allem die Schwärze seiner Augen machten ihr Angst. In dieser bodenlosen Tiefe tanzten Kerzenflammen. Die kleinen Pupillen glühten von innen, und die Blitze, die sie aussandten, waren wie kalte Messerstiche.
Die Luft im Raum wurde mit einem Mal so dumpf wie in einem verschlossenen Sarg. Sie hatte das Gefühl zu ersticken. Ja, sie befand sich in einer Grabkammer, und für immer war ihr der Ausgang verschlossen.
Und dann geschah, was sie befürchtet hatte. Es dauerte nur einen winzigen Augenblick, aber es würde genügen, sie nächtelang in schlaflosen Alpträumen zu schütteln. Grinsend ließ er sie erahnen, wer er wirklich war. Wie hinter Nebelschwaden verzerrte sich sein Gesicht zur Fratze, und er wurde zu einem Geschöpf der Scheußlichkeit, zu einem Dämon, der menschliche Gestalt angenommen hatte, um sie zu peinigen.
“Drei Erbsen - fünf Reiskörner - sieben mal drei Erbsen - ein Schluck Wein ...“, Krampfhaft versuchte sie, nur daran zu denken. “Drei Erbsen - fünf Reiskörner ...“ Aber sie wurde nicht ruhiger.
Immer wieder erzwang er ihren Blick. Das unheimliche Licht in seinen Augen glomm immer noch. Ein eisiger Luftzug ging von ihm aus. Die Wellen von Kälte wurden durchdringender. Er kam auf sie zu. Näher und näher kam er. Seine Hände hatte er nach ihr ausgestreckt. Wie Klauen sahen sie aus. War der Zeitpunkt nun gekommen? Würde er ihr jetzt den Rest ganz nehmen, diesen letzten Rest Leben, der noch in ihr war? Würde er gleich zudrücken, sie zermalmen, zerquetschen, mit seinen unmenschlichen Kräften das Leben aus ihr herauspressen?
Ihre rechte Hand tastete nach dem Messer, das sie in der Tiefe ihrer Rocktasche verborgen hielt. Was würde am Ende siegen: die Macht der Hölle oder die teuflische Schärfe der Klinge?
Die großen Hände des Dämons legten sich auf ihre Schultern. Seine breiten Daumen berührten sich genau unterhalb ihrer Kehle. Sie stand da, unfähig einen Atemzug zu tun.

Er drückte der leblosen Puppe einen kalten Kuss auf die Stirn. Während er zur Tür ging, berührte seine linke Hand vorsichtig das Glasröhrchen in seiner Hosentasche. Bald, vielleicht morgen schon, würde er ihr das Schlafmittel in den Wein mischen. Niemand würde Verdacht schöpfen, niemand an ihrem Selbstmord zweifeln.
Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen, als er leise die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.10.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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