Julian Merrill

Nichts zu verlieren

Die Welt in der wir leben. Wo führt sie uns hin? Weiß man nicht. Oder vielleicht doch? Fragen, Spekulationen, Ansichten,
Meinungen, Katastrophen. Wieso eigentlich?
Kann man eigentlich sagen dass man lebt? Und wenn dann, wieso? Gott? Ich meine nicht. Aber das ist Ansichtssache. Am
Ende spielt es auch keine Rolle, finde ich. Wenn es ihn wirklich gibt, dann wird er, ganz egal ich ob jemals in einer Kirche
oder Moschee oder sonst wo war, auch meine Sünden entschuldigen. Soooooo ein schlechter mensch bin ich dann auch
wieder nicht.
Wer führt das schönste Leben? Was ist ein schönes Leben? Ich würde ein schönes Leben so formulieren: Der Mensch, der am
meisten Spaß, Liebe und Freude in seinem Leben empfunden hat. Dazu muss man nicht lange gelebt haben. Man muss nicht
viel Geld gehabt haben. Es reicht eigentlich wenig.
Ich war vor ein paar Wochen mit Freunden segeln. Wir saßen alle zusammen mit Bier in unseren Händen und blickten auf das
Meer. Im Hintergrund lief Bob Marley. Wir lachten, wir tanzten, wir tranken. Fast perfekt, sagte ich. Ja, fast, sagte ein Freund.
Was fehlt, wollte ich wissen. Eine schöne Frau an meiner Seite, meinte er. Stimmt, sagte ich nur. Aber dann dachte ich
darüber nach. Würde es wirklich besser sein wenn ich jetzt eine Frau hätte. Oder ist das hier vielleicht das schönste Gefühl.
Hier zu sitzen und an die Frau zu denken, die man nicht hat, die man nicht kriegt, die es nicht gibt.
Wenn ich manchmal über mein Leben nachdenke, denke ich, dass sie an mir vorbeifliegt. Ich meine, so ein Leben ist
begrenzt. Wenn man Glück hat darf man ein wenig länger leben, wenn nicht, dann ein bisschen kürzer. Die meisten
Menschen vergessen dies. Sie glauben alles sei stabil. Sie glauben, dass sie noch zeit haben. Wozu, frage ich? Wozu habt ihr
zeit, solltet ihr überhaupt noch welches haben? Damit ihr genau die gleiche Scheiße machen könnt wie bisher? Viele
menschen warten auf die Zukunft. Sie glauben sie wird ihnen was bringen. Dabei gibt es gar keine Zukunft. Hast du sie
schon mal gesehen? Nein. Es gibt nur jetzt. Jetzt oder nie.
Schon zu oft habe ich in meinem Leben Angst gehabt. Angst, eine Frau anzusprechen. Angst, tanzen zu gehen. Angst, das
zu sagen, was ich wirklich meine. Angst, mich zu blamieren. Angst, weil ich nicht weiß was die Anderen dazu sagen werden.
Aber wieso eigentlich?
Manchmal muss man eben aufs Ganze gehen. Ich will aufs Ganze gehen. Ich will spüren, dass ich lebe. Ich will wissen, dass
ich alles gegeben habe. Das ist es. Alles geben. Erst dann ist man zufrieden. Wer Sportler ist, müsste das eigentlich wissen.
Leider vergessen das aber viele. Wenn man vom Platz läuft und wirklich bis zum Schluss gefightet hat, dann ist man, ob
Sieger oder Verlierer, irgendwo zufrieden innen drin. Wenn man bereit war, sein Leben für jeden Ball zu opfern. Ohne Angst.
Ohne darüber nachzudenken. Wenn man sich den Ball in der neunzigsten Minute erkämpft und dann zum letzten Mal
versucht aufs Tor zu zugehen. Alleine. So, dass jeder weiß, dass man dich erst mal stoppen muss. Dann lebt man. Ganz egal
ob man es schafft oder nicht.
So will ich ab jetzt mein leben immer leben. In allen Situationen. Nicht nur im Spiel. Ich will im Leben aufs Ganze gehen. Ich
will alles geben.
Nie wieder werde ich eine Frau sehen und Angst haben sie anzusprechen. Nie wieder Angst haben meine Meinung zu äußern.
Nie Wieder.
Ich habe nur einen Hauptschulabschluss. Ich arbeite am Fließband schon seit 15 Jahren in irgendeinem scheiß Fabrik. ich
schufte den ganzen Tag. Und wofür? Um mir Sachen zu kaufen, die ich nicht brauche, die ich nicht mag, die ich eigentlich
gar nicht haben will. Highlight der Woche ist in die Disco zu gehen und mich mit ein paar Kumpels voll laufen zu lassen. Toll.
Zur Zeit gehe ich nicht mehr mit. Sie glauben ich bin krank. Ich glaube sie sind es.
Gestern Nacht habe ich Draußen verbracht. Stundenlang habe ich die Sterne angeschaut. Mehr als der großer Wagen konnte
ich nicht finden. Mehr ist, glaube ich, auch nicht drin.
Ich habe 5 Tausend Euro auf mein Konto. Morgen werde ich zu meinem Boss gehen, ihn sagen dass er mich am Arsch lecken
kann und dass ich seine Frau gevögelt habe (stimmt wirklich). Dann werde ich alle meine Freunde sagen, dass ich weggehe
und nicht weiß wohin. Sie werden fragen wann ich wiederkomme. Ich weiß es nicht, werde ich sagen. Ich weiß es wirklich
nicht. Ich werde mich wie ein Blatt vom Wind wehen lassen. Ich gehe irgendwo in den Süden. Nur das steht fest.
Ich habe einen riesen Campingrücksack zu Hause. ich werde nur das mitnehmen, was rein passt. Einen Schlafsack nehme ich
auch mit. Ich weiß mit 5000 Euro kommt man nicht arg weit, aber ich habe keine Angst mehr. Ich gehe jetzt aufs Ganze. Was
habe ich schon zu verlieren? Nichts ist für die Ewigkeit.
Vielleicht glaubt ihr das ich verrückt bin. Vielleicht bin ich es auch, aber wie gesagt, ich glaube ihr seid es.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.10.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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