Daniela Hoppaus

Ein Magier auf Abwegen

Fluchend und schimpfend stürmte der Kunde aus der Hütte. Mit einem lauten Knall fiel die schwere Eichentür ins Schloß und tauchte den Raum in dunkle Schatten. Die Tiegel und Töpfe auf dem altarähnlichen Tisch in der Mitte des Raumes schwankten bedenklich. Eine schwarze Katze mit grünglimmenden Augen sprang aufgeschreckt vom Kaminsims, durch den überstürzten Aufbruch des Mannes aus ihrem Schlaf gerissen.

Vorwurfsvoll schaute sie auf ihren Herrn, welcher in einer resignierenden Geste eben die Arme sinken ließ und sich langsam und müde auf einen der Stühle setzte. Seine dunkle Robe raschelte leicht, als er seinen Kopf auf seine rechte Hand stützte. Die schwarze Katze schlich zu ihm und rieb sich schnurrend an seinen Beinen, welche in weichen, feingearbeiteten Lederstiefeln steckten.

Das Gesicht des Magiers zeigte keine Spur von Alter, aber seine Augen wirkten, als hätten sie die Geburt der Welt miterlebt. Jetzt schien er müde und traurig. Erschöpft von einem Zauber, der nie hatte das bewirken können, was der Kunde verlangt hatte. Liebe konnte man nicht kaufen, nicht erzwingen und schon gar nicht herbeizaubern. Was daraus geworden war, wäre eigentlich komisch gewesen, wäre es dabei nicht um ein Haar um das Leben seines zahlungswilligen Klienten gegangen. Nun war der Kunde weg, die Talonen weg und damit auch das Essen der nächsten Tage weg.

Mit einem beiläufigen Fingerschnippen brachte er seine Kerzen, die im ganzen Raum verteilt waren, zum Brennen. Im gleichen Moment hörte er eine Stimme aus dem Schatten in der Ecke links hinter sich. "Du solltest es besser wissen. Du lebst lange genug, um zu wissen, daß ein Liebeszauber mit einem Fiasko enden muß. Das sollte man dir wirklich nicht sagen müssen! Es ist immer das Gleiche mit Dir! Wenn du Talonen witterst, machst du jede Dummheit, die den Menschen einfällt!"

Der Vorwurf brachte den Magier zum Lächeln. Er wiegte bedächtig den Kopf, murmelte etwas Unverständliches und erhob sich, um seine Utensilien auf dem Tisch wieder in den Schränken zu verstauen und der Katze etwas Milch zu geben, was diese sehr begrüßte und ihr Köpfchen an den Beinen des Magiers rieb. Dabei schlüpfte sie unter seine weite Robe, nur um auf der anderen Seite neugierig hervorzublicken. Er kraulte ihr sanft das schwarze, seidige Fell und seufzte schwer.

Die Stimme aus dem Schatten wurde quengelig: "Du willst doch nicht verhungern, oder? Also mach dich auf die Suche nach einer normalen Arbeit, wenn du als Zauberer nichts zustande bringst. Dir ist es scheinbar egal, aber denk wenigstens an uns! Ohne Dich sind wir Ausgeschlossene ohne Heimat!" Die Stimme kam näher und wurde lauter und es war, als verdichtete sich damit der Schatten. Doch noch immer war der Sprecher nicht zu sehen.

Plötzlich ging die Tür wieder auf und helles Licht flutete in den Raum, so daß der Schatten sich auflöste. Zurück blieb nur ein etwas weinerliches Schniefen der Stimme. Der Magier wandte seinen Blick Richtung Tür und kniff die Augen zusammen. Er erkannte im ersten Moment nur den flirrenden Umriß einer Gestalt im Gegenlicht. "Ich suche den Magier Marduk.", sagte der Neuankömmling mit einer Stimme, die einen so lieblichen Klang hatte, daß der Magier kurz die Augen schloß und die Worte in Gedanken nachhallen ließ. "Seid Ihr Meister Marduk?", fragte die Gestalt erneut, diesmal eindringlicher, als die Pause zu lang wurde. Der Magier nickte und machte eine einladende Geste in den Raum. Die Gestalt trat durch die Tür und somit aus dem Licht. Es war ein junges Mädchen, 18 vielleicht 20 Jahre alt, in einem weiten Gewand. Ihre Figur wurde durch das Gewand fast völlig verdeckt, ebenso wie ihr Gesicht durch einen Schleier, der weich und weiß wie der Rest ihres Gewandes, über ihre Schultern fiel. Als sie ihm gegenüberstand, mußte sie zu ihm aufblicken. Sie war etwa einen Kopf kleiner als der Magier.

"Was kann ich denn für Euch tun, Mylady?" fragte Marduk mit heiserer Stimme. Er räusperte sich. Sie neigte leicht ihren Kopf und sah sich nach einer Sitzgelegenheit um. Beinahe verschämt deutete Marduk auf die Holzbank am Kamin, und sie ließ sich anmutig wie eine Elfe darauf nieder. Dann seufzte Sie schwer.

"Ich fürchte, ich habe ein Problem, das nur durch Magie gelöst werden kann. Auf mir lastet ein Fluch, seit meiner Geburt. Der Zauberer, der ihn verhängt hat, ist seit langem tot. Und nur er hätte ihn lösen können. Ich bin mir nicht sicher, ob Ihr das könnt, aber alle meine Hoffnungen ruhen nun auf Euch. Ihr seid der letzte Eurer Zunft, der mächtig genug wäre." Die Katze strich um ihre Beine, die nun unter dem Gewand sichtbar wurden, da sie sich bequemer hinsetzte. Geistesabwesend kraulte sie die Katze. Marduk nahm sich einen Augenblick Zeit, die weiße, glatte Haut ihrer bloßen Beine zu betrachten, welche in zierlichen Füßen endeten, die in seidenen Schuhen steckten. Für einen Moment blitzte die Gier in seinen Augen und eine leise Stimme zischte an seinem Ohr. Der Magier zuckte zusammen und konzentrierte sich wieder auf den Grund ihres Kommens.
"Welcher Art ist denn dieser Fluch?" fragte Marduk.
Das Mädchen seufzte noch einmal tief. Dann hob sie langsam den Kopf. Mit zarten Händen fuhr sie über den Schleier, der ihr Gesicht bedeckte und hob ihn, ganz langsam, an. Marduk hielt erstaunt den Atem an. Was er da sah, übertraf alles, was er in seinem langen Leben bisher gesehen hatte. Er konnte seinen Blick nicht abwenden, obwohl er vor unbekannter Furcht beinahe zitterte. Hinter ihm fiel etwas laut scheppernd auf den Boden und zerbrach. Das riß ihn aus seiner Erstarrung und er wandte mit einem Ruck den Kopf ab, bevor er in diesen Augen versinken konnte und starrte auf die zerbrochene Flasche am Boden. Die Katze schlich unschuldig schnurrend um seine Beine und ein leises Kichern lag in der Luft. Um die Lippen des Mädchens spielte ein Lächeln. Langsam senkte sie den Schleier wieder. "Ihr habt mächtige Beschützer, Meister Marduk. Jeder andere, der mich so gesehen hat, ist bisher zu Stein erstarrt. Ihr seid der Einzige, der widerstehen konnte. Jetzt bin ich überzeugt, daß Ihr der Richtige seid."

"Da bin ich nicht so sicher" flüsterte Marduk kaum hörbar, den Blick immer noch fest auf die Flasche gerichtet. In seinem Gesicht stand der Schrecken geschrieben, den er vor einem Moment verspürt hatte. Er taumelte und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. Dann vergrub er den Kopf in den Händen. "Ich muß erfahren, wer den Fluch verhängt hat. Ich muß wissen, wie stark der Zauberer war ... und aus welchem Grund er das getan hat. Dann vielleicht........" Das Mädchen erhob sich. Ihr Gewand flatterte leicht. Aus den Falten holte sie eine Pergamentrolle hervor, die mit einem blauem Band gebunden war. Sachte löste sie die Schleife und hielt sie Marduk hin.

Marduk, noch etwas zögernd, griff danach und rollte das Pergament mit einem Seufzen auf. Hinter ihm erhob sich plötzlich ein Schatten. Schützend hüllte er Marduk ein. Das Mädchen zuckte zusammen. Es war kälter geworden. Der Schatten wurde größer und größer und umfing schließlich auch die Gestalt des Mädchens. Ein Stöhnen entrang sich ihrer Kehle, dann stand sie stumm und steif, während Marduk die Schriftzeichen auf der Schriftrolle entzifferte.

"Das ist eine Formel zur Zeitreise! Bei allen Göttern, ein Zeittor!" ,rief Marduk erstaunt aus und schielte vorsichtig zur Seite, wo das Mädchen immer noch unbeweglich stand. " Ich habe das Pergament von meiner Mutter. Es war das einzige, was sie mir hinterließ. Ich konnte es nicht lesen, aber man sagte mir, daß nur ein Magier in der Lage ist, mich zu befreien. Viele haben es versucht, aber alle scheiterten." ,preßte das Mädchen zwischen den Zähnen hervor. Der Schatten hielt sie umfaßt wie eine Klammer.

"Das wird ganz und gar nicht billig! Es reißt ein Loch ins Raum-Zeit-Kontinuum." Das Mädchen keuchte: "Ruft euren Wachgeist zurück... er erdrückt mich sonst" Marduk wedelte unbestimmt mit der Hand, während er die Nase noch immer in das Pergament gesteckt hatte. Der Schatten zog sich etwas zurück, blieb aber um die beiden herum.

"Geld spielt keine Rolle. Ihr seid meine einzige Hoffnung", flehte das Mädchen. Marduk hätte schwören können, das ein verzweifelter Ausdruck in ihrem Gesicht hinterm Schleier lag, wagte aber nicht, ihr noch mal in die abgrundtiefen Augen zu blicken. "Also gut. Noch heute Nacht werden wir den Schritt in die Vergangenheit tun." Der Raum hallte wider vom klagenden Seufzen, als Marduk den Teleportationszauber sprach. Und kaum einen Augenblick später waren er und seine junge Kundin unterwegs zum Abgrund der Zeit.


Die Felskante wurde umtost vom Sturm der Zeit. Niemand, der nicht über eine besondere Ausbildung verfügte, konnte sich hier oben halten. Ein Ungeschulter würde in den Abgrund der Zeit geweht werden und niemals unten ankommen, denn die Zeit war unendlich. Für die Ewigkeit wäre der Unglückselige dort gefangen, unfähig, sich dem Heulen der Winde zu entziehen, unfähig, zu altern und unfähig zu sterben. Auf ewig.

Marduk blickte in den Abgrund. Er war einer der wenigen, die um das Geheimnis wußten und so stand er sicher und wankte nicht. Er selbst hatte Cronos ein Opfer gebracht, um außerhalb der Zeit stehen zu können. So blickte er in die Tiefen ohne Furcht, aber auch ohne Hoffnung. Die Tage, in denen er die Zeit fürchtete, waren lange vorbei. Aber ihm blieb auch der Trost des Todes versagt. Knapp hinter ihm stand das Mädchen, wankend und zitternd in der Kühle der Nacht, aber trotzdem sicher verankert durch einen weiteren Zauber Marduks. Ihre Stimme übertönte kaum den Sturm, obwohl sie aus Leibeskräften schrie, um sich verständlich zu machen. "Müssen wir hier hinunter?"

Ein sanftes Lächeln umspielte Marduks Lippen, als er sich zu ihr drehte und leicht den Kopf schüttelte. Hier war er in seinem Element, hier fühlte er die Macht durch seine Finger fließen, hier konnte er alles vollbringen. Er war ein Magier und er würde das Tor durchschreiten, welches noch nie zuvor durchschritten wurde. Es war hier. Er fühlte es. Die Zeit gab ihr Geheimnis preis, sie konnte umgekehrt werden. Das Pergament des Mädchens, welches er mit seiner Linken umklammert hielt, hatte ihm das letzte Geheimnis offenbart. Das Tor. Das Tor, welches Cronos so hütete. Aber jetzt würde er sich beugen müssen, würde das Opfer zurückgeben müssen, würde Marduk wieder sterblich machen. Der Fluch, der auf dem Mädchen lag, war Nebensache geworden. Was scherte es ihn. Frei würde er sein, so frei wie nie zuvor.

Er trat bis an den Rand der Kante und blickte in die wirbelnden Farben des Abgrundes. Dann hob er das Pergament, entrollte es behutsam und fing mit lauter Stimme an, daß Tor zu beschwören:

Geist der Zeit, erinnere dich!
CRONOS, Vater der Zeit, erinnere dich!
Mächtiger Vater, dessen Denken jenseits des Begreifens von Göttern und Menschen ist, höre mich und erinnere Dich!
Meister der Zeit , öffne Dein Tor!
Meister der Lebensuhr, öffne dein Tor zu der Vergangenheit!
IA NAMRASIT!
IA CRONOS!
BASTAMAAGANASTA IA KIA KANPA!
ASCHTAG KARELLIOSCH!

Direkt vor ihm begann die Luft in bunten Farben zu wirbeln, bildete erst einen Kreis und schließlich, im Auge des Wirbels, ein Tor. Ein Pfad schlängelte sich dahinter, wie eine trügerische Brücke über den Abgrund. Am Ende des Pfades lag die andere Seite des Abgrundes in dichtem Nebel. Marduk atmete tief ein. Das Ziel seiner Sehnsucht lag so nah. Beinah widerstrebend erinnerte er sich an das Mädchen hinter ihm. Sie in den Abgrund zu werfen, wäre so leicht. Aber ein inneres Gefühl hielt ihn davon ab. Er hatte für den Bruchteil einer Sekunde ihre Augen gesehen, und die hatten ihn so hoffnungsvoll und doch so verzweifelt angeblickt, daß er jetzt nicht anders konnte, als sie in die Vergangenheit mitzunehmen. Nun gut, würde er sich zuerst um den Fluch kümmern und dann, ja dann um seine Freiheit.

Langsam schritten sie auf den Pfad dahin. Die Geister der Gefangenen im ewigen Fluß der Zeit umschwirrten sie und zerrten an ihren Gewändern. Aber sie konnten ihnen nichts anhaben. Sie waren nur Schemen und wurden von der Zeit wieder fortgerissen, weiter und immer weiter. Der Pfad wurde breiter und schmäler, aber stetig näherten sie sich der anderen Seite. Marduks Herz schlug vor Vorfreude. So etwas hatte er lange nicht mehr gefühlt. Und auch das verschleierte Mädchen an seiner Seite schien leichtfüßiger auszuschreiten, in stummer Erwartung. Der Pfad zog sich dahin, unendlich, gleichmäßig. Die freudige Erregung, die beide erfüllt hatte, schwand und wurde zu einem dumpfen Gefühl der Leere. Die Ewigkeit zerrte an ihrer beider Nerven. Noch ein Schritt und noch einer, immer einen Fuß vor den anderen, doch das Ende des Pfades lag nach wie vor im Nebel. Waren sie Stunden unterwegs oder Tage? Keiner der beiden wußte es mehr.

Als das Mädchen schließlich aufgeben wollte, angezogen vom Abgrund der Zeit, tat sich etwas am Horizont. Der Nebel lichtete sich und enthüllte das Ende des Pfads, kaum mehr ein paar Schritte entfernt, als ein Dämon aus dem Nichts erschien und ihnen den Weg versperrte. Er war groß und hager, nur bekleidet mit einem Lendenschurz, an dem eine goldene Sanduhr hing. Aus seinem kahlen Kopf wuchs ein Paar mächtiger Widderhörner. Seine Augen waren glühend rot und aus seinen breiten Nasenflügeln strömte übelriechender Odem. In seinen Klauen hielt er eine Sense, deren Schneide die Sonnenstrahlen spiegelte, die aus dem Portal hinter ihm fielen. Seine Beine endeten in gespaltenen Hufen, mit denen er über den Boden scharrte. Seine Stimme klang wie Donner, als er sie erhob, und die beiden Zeitreisenden duckten sich unwillkürlich bei ihrem Klang. " WER WAGT ES! Die Pforte der Zeit darf niemand durchschreiten! Kein Lebender und kein Toter! Kehrt um oder stürzt in den Abgrund!"

Einen Moment lang war Marduk verunsichert. Aber er fing sich schnell, als er sich des Pergamentes bewußt wurde, welches er immer noch in der Hand hielt. Schnell rollte er es auf, um den Wächter der Zeit zu bannen. Er mußte sich anstrengen, um mit seiner Stimme den Sturm aus dem Abgrund zu übertönen, aber schließlich sprach er die Formel laut und sicher:

"IA MASS SSARATU! IA MASS SSARATU! IA MASS SSARATU ZI KIA KANPA!
BARRAGOLOMOLONETH KIA!
SCHTAH!

Der Sturm wurde lauter und die Luft begann zu flimmern, aber der Dämon zeigte sich unbeeindruckt. Drohend kam er näher. Das Mädchen wich ängstlich zurück, taumelte über den Pfad nach hinten. Bevor sie außer Marduks Reichweite war, hatte er einen Fetzen ihres Kleides ergriffen und versuchte, sie daran zurückzuziehen. Das Reißen von Stoff war kaum zu hören, vielmehr zu spüren. Aber das Mädchen blieb stehen und duckte sich hinter den Körper des Magiers. Dieser las die Beschwörung noch einmal, und der Sturm steigerte sich zu einem tosenden Orkan, in dessen Auge der Magier und das Mädchen standen. Doch immer noch kam der Dämon näher, seinen Sense schwingend, aber durch den Sturm mehr und mehr behindert. Entschlossen las Marduk die Formel ein drittes Mal. Der Himmel wurde plötzlich pechschwarz und der Sturm steigerte sich noch einmal. Dem hatte der Dämon nichts mehr entgegenzusetzen. Wie eine Puppe wurde er davongeschleudert, hilflos, schreiend, in den ewigen Abgrund der Zeit. Aber jetzt begannen die Stürme auch an Marduk zu zerren. Er beeilte sich, die Bannung zu lesen, und mit einem Schlag erstarb der Wind. Nun war der Weg in die Vergangenheit frei.

Das Mädchen richtete sich auf, als der Wind erstarb. "Wer war das?" fragte sie, immer noch zitternd. Marduk zuckte mit den Schultern. "Das war einer der Diener von CRONOS." Schweigend vor Ehrfurcht ging das Mädchen weiter. Marduk folgte ihr, den Blick frohlockend auf das Portal gerichtet, die Hand fest um das lebensnotwendige Pergament geklammert.


Auf der anderen Seite war es, als hätte sich nichts verändert. Die Sonne stand am Horizont, es würde ein warmer Morgen werden. Die Vögel sangen dem wärmenden Himmelskörper ein Loblied und der frische Geruch von taufeuchtem Gras lag in der Luft. Der Ort schien so friedlich, daß Marduk beinahe vergaß, was sie hergeführt hatte. Schweigend gingen sie nebeneinander, als am Horizont ein kleines Dorf sichtbar wurde. Das Mädchen starrte angestrengt hin. Ein kleiner Turm überragte die niedrigen Häuser, und eine Fahne wehte darauf. Das Wappen auf der Fahne war ein Hund, der sich selber in den Schwanz biß. " Ich erkenne es wieder! Hier ist meine Mutter aufgewachsen!" Marduk überlegte. Was geschah wohl, wenn das Mädchen ihrer Mutter gegenüberstand, wenn diese selbst noch ein Kind war? Kam es dann zu einem Paradoxon? Würde es das Ende der Welt bedeuten? Oder wäre es ein unbedeutender kleiner Wirbel im Zeitfluß? Aber da solche Gedanken in der Regel zu nichts führten, mußten sie wohl oder übel den Versuch machen. Inzwischen hatten sie das Dorf erreicht. Einige seiner Bewohner waren schon unterwegs, um ihr Tagewerk zu beginnen. Neugierig und ein bißchen feindselig blickten sie auf die frühen Besucher. Hier schienen nicht oft Fremde herzukommen, schon gar nicht ein Mann mit der offensichtlichen Kleidung eines Magiers und ein Mädchen in feinster Seide.

Die Blicke folgten ihnen, bis sie auf den kleinen Platz in der Mitte des Dorfes angekommen waren. Dort sah sich das Mädchen genau um. Marduk lehnte sich an den Rand des Dorfbrunnens und schloß die Augen. Er wirkte, als ob er eingeschlafen wäre, aber sein Geist war sehr beschäftigt. Marduk sondierte die Aura der Menschen und suchte nach einer ganz bestimmten Schwingung, die vielleicht den Aufenthaltsort eines anderen Magiers verraten würde. Noch bevor er etwas entdecken konnte, rannte ihn ein Junge von vielleicht 15 Jahren über den Haufen. Beide fielen auf den sandigen Boden. Marduk, aus seiner Trance gerissen, blickte verwirrt umher, während der Junge sich aufrappelte und eine verlegene Entschuldigung murmelte. Hinter ihm hörte man eine fette Frau schimpfen und fluchen, so daß der Junge schleunigst das Weite suchte. Die Frau kam keuchend näher und ihre Wut ließ sie jetzt an Marduk aus: "Warum habt Ihr ihn nicht festgehalten, den Bengel? Er hat meine beste Schüssel zerbrochen! Die muß er mir ersetzen!" Marduk blinzelte verwirrt zu der Frau hoch, bemüht, wieder Herr über seine Sinne zu werden. "Schon wieder so ein hergelaufener Penner! Sitzt da betrunken am Dorfbrunnen rum und hält ehrbare Leute von ihrer Arbeit ab!", schimpfte sie weiter, wandte sich aber um und schlürfte, noch immer schimpfend, ins Haus zurück.

Marduk schaute ihr erstaunt nach und rappelte sich auf. Neben sich hörte er seine Begleiterin kichern. Sie verschluckte sich fast, als sie versuchte, zu sprechen. "Das ist meine Mutter", grinste sie. "Na, da wundert's mich nicht, daß jemand sie und ihre Nachkommen verflucht!" murmelte Marduk und klopfte sich den Staub der Straße von seiner Robe. Das Haus, in das die fette Frau verschwunden war, war ein heruntergekommenes Gasthaus. Nun, ein Zimmer würden sie wohl brauchen, und da sie zumindest eine Person, die in das Geschehen verwickelt war, schon gefunden hatten, schien die Aufgabe nur noch halb so schwer. Also beschlossen sie, gleich hier ein Zimmer zu nehmen und abzuwarten, was weiter passieren würde. Es war düster in der Gaststube und die Einrichtung war schäbig. Die Frau blickte ärgerlich drein, als die beiden das Gasthaus betraten. Aber als das Mädchen zwei Zimmer verlangte und ein paar Talonen auf die Theke legte, wurde sie freundlicher. "Leider hab ich nur ein Zimmer. Das werden Sie sich teilen müssen." Sagte sie und steckte die Talonen ein. Marduk zog die Brauen hoch, sagte aber nichts. Das Mädchen zuckte ebenfalls nur mit den Schultern und die Frau reichte ihr einen Schlüssel. "Einfach die Treppe hoch. In einer halben Stunde gibt's Frühstück."

Das Zimmer war genauso schäbig wie der restliche Gasthof, aber immerhin sauber. Das Mädchen warf sich auf eines der beiden Betten, die den kleinen Raum fast vollständig ausfüllten und rückte ihren Schleier zurecht. Marduk sah sich im Raum um. Ein kleines Zimmer, zwei Betten und ein kleiner Waschtisch war alles, was ihnen zu Verfügung stand. Das einzige Fenster war schmutzig und präsentierte eine Aussicht auf das Nebenhaus. Die Wanderung durch die Zeit war anstrengend gewesen und so war das Mädchen gleich eingeschlafen. Marduk überlegte, ob der Fluch auch dann wirkte und wollte sich ihr schon nähern, um den Schleier zu lüften. Aber dann überlegte er es sich, und beschloß statt dessen erstmal zu frühstücken.

In der Gaststube hantierte die Wirtin mit Tellern und Bechern, denn inzwischen hatten sich ein paar Gäste eingefunden, die dem Ambiente des Hauses gerecht wurden. Marduk setzte sich an einen freien Tisch in der Ecke, um den Raum und die Leute im Überblick zu haben. Diesmal begnügte er sich mit seinen normalen Sinnen, studierte aber jeden Gast und die fette Wirtin um so genauer. Wenn das die Mutter seiner jungen Kundin war, dann mußte ihr besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht werden. Er erlaubte sich einen kurzen Astralscan und stellte fest, daß sie schwanger mit einem Mädchen war. Soweit, so gut. Der Zeitzauber hatte sie zum richtigen Zeitpunkt hergebracht, jetzt galt es, den Fluch zu verhindern oder, wenn er das aus welchem Grund auch immer, nicht schaffte, den Zauberer dazu zu bewegen, ihn nicht auf die unschuldige Tochter auszudehnen. Im diesem frühen Stadium der Schwangerschaft hatte der Zauberer in seiner Wut vielleicht auch das Kind übersehen. Während er noch nachgrübelte, kam die Wirtin zu ihm und knallte ihm Weißbrot, Butter sowie einen Becher Milch auf den Tisch. Griesgrämig murmelte sie "wohl bekomms". Marduk schaute ihr ins Gesicht. Es war ein hartes Gesicht, gezeichnet durch ein hartes Leben. Plötzlich konnte er zumindest teilweise die Verbitterung der Frau verstehen. Ihre Augen waren leer, ohne jeden Glanz. Sie führte den Gasthof offensichtlich allein, also hatte der Vater des Kindes entweder das Weite gesucht, oder er war gestorben. Sie fühlte seinen Blick und ihre Miene wurde eine Spur freundlicher. Mit einer Geste forderte Marduk sie auf, sich zu setzen. Sie seufzte schwer und ließ sich ihm gegenüber nieder. Marduk grübelte nach, wie er das Gespräch beginnen sollte, als sie ihm die Entscheidung abnahm. " Ihr seid nicht aus der Gegend, nicht wahr? So reiche Gewänder sieht man hier selten. Ihr und Eure junge Begleiterin seid aufgefallen, wie bunte Hunde." Marduk lächelte. Das Lächeln verlieh seinem Gesicht einen spitzbübischen Ausdruck und irgendwie schloß ihn die Wirtin ins Herz. " Mein Name ist Kaleida", sagte sie und reichte ihm die Hand. Marduk stellte sich ebenfalls vor und erwiderte den Händedruck. Dabei fiel ihm auf, wie schwielig sie waren. "Eure Frau hat keinen Hunger?" " Sie ist erschöpft von der langen Reise und schläft jetzt. Sie ist nicht meine Frau." Die Wirtin lächelte wissend. Wahrscheinlich vermutete sie jetzt, daß die beiden durchgebrannt waren, um irgendwo zusammen ein neues Leben anzufangen, weit weg von der Rache des Vaters der Kleinen. " Ich werde ihr was zurechtmachen, wenn sie wach wird." erbot sie sich. "Erzählt, wo kommt Ihr her? Seid Ihr nur auf der Durchreise, oder habt Ihr vor, Euch hier niederzulassen?" Marduk lag eigentlich nichts daran, ihre Neugier zu befriedigen, und suchte nach einem Weg, mehr über sie zu erfahren. Plötzlich hatte er eine Idee. "Wir wollen uns hier niederlassen. Was könnt Ihr mir über das Dorf und seine Bewohner so erzählen?" Die Frage war ganz nach ihrem Sinn. Sie erzählte den Dorftratsch und dabei fiel Marduk auf, daß sie früher eine Schönheit gewesen sein mußte, den jetzt trat hin und wieder ein Leuchten in ihre Augen und ihr Lächeln ließ sie jünger aussehen. Marduk fühlte, daß sie ihm immer sympathischer wurde, je länger sie plauderten. Aber von sich selbst gab Kaleida nichts preis. Und aus dem Gespräch entnahm er auch keinen Hinweis auf einen feindlich gesonnenen Magier. Das bedeutete, das Unglück mit dem Fluch stand noch bevor. Beiläufig erkundigte er sich, ob man hier einen Heilkundigen benötigte. Sie blinzelte. "Wir haben hier einen alten Kauz am Rande der Berge, der hin und wieder herkommt, um sich die Kranken anzusehen. Aber er ist wunderlich und außerdem so alt, daß er kaum noch den Weg schafft. Seinen Lehrling habt Ihr bereits kennengelernt, den ungeschickten Bengel, der Euch so unsanft in den Staub beförderte. Wir könnten durchaus einen jungen Heilkundigen gebrauchen. Ich dachte mir gleich, das Ihr was besonderes seid!" Marduk erinnerte sich an ihre erste Begegnung und daran, daß sie ihn einen hergelaufenen Penner genannt hatte, schmunzelte jedoch bei dem Wort jung. Er selbst war wohl viel älter als dieser alte Mann vom Berg. Cronos hatte dafür gesorgt, daß die Zeit für ihn stehenblieb. Und obwohl sein Haar grau geworden war, war doch sonst die Zeit an ihm vorübergegangen. Plötzlich veränderte sich Kaleidas Gesichtsausdruck:" Wenn Ihr eine Heilkundiger seid, dann ... dann könnt ihr mir sagen, ob...." Sie brach ab.

Marduk verstand sie immer mehr. Marduk streckte noch einmal seinen Geist aus. Sanft war seine Berührung, als er den Fötus in seiner wäßrigen Umgebung ertastete. Er nickte. " Ihr tragt eine Tochter in Euch." Sie starrte ihn an. " Nein!" keuchte sie. Sie wurde bleich, fing sich aber schnell. " Eine Tochter? Ihr seht das jetzt schon? Wird sie gesund sein?" Marduk lächelte wissend, denn er konnte ihr versichern, daß ihre Tochter zumindest den allgemeinen Ansichten nach ganz gesund sein würde. Er sagte: " Sie wird so schön sein, daß kein Mann in Ihre Augen blicken kann, ohne zu vergehen."

Als das Mädchen aufwachte, bemerkte sie, das sie sich alleine im Zimmer befand. Der Tag war noch nicht weit fortgeschritten, es ging auf Mittag zu. Also hatte sie nicht allzuviel verpaßt. Noch müde, beschloß sie, nach Marduk zu sehen und zu erfahren, was er herausgefunden hatte. Als sie den Schankraum betrat, sah sie ihn und ihre Mutter am Tisch sitzen und plaudern. Scheu gesellte sie sich zu ihnen und ergriff Marduks Arm. Irgendwie brauchte sie seinen Schutz, um ihrer Mutter gegenüberzutreten. Sie wußte nicht viel über die Frau, die sie geboren hatte. Marduk blickte überrascht zu dem Mädchen auf. Kaleida deutete die Geste natürlich ganz anders und erhob sich. "Die junge Frau hat sicherlich Hunger. Ich werde sehen, was ich noch Gutes da habe." Damit verschwand sie in der Küche hinter der Theke. Marduk befreite sich sanft aus dem Griff des Mädchens. " Heute Nachmittag werden wir den Mann aufsuchen, der aller Wahrscheinlichkeit verantwortlich für Deinen Zustand ist." Sie nickte. "Wie ist denn meine Mutter so?" fragte sie mit zaghafter Stimme. Offensichtlich hatte sie Angst, etwas Schlechtes, einen Grund für den Fluch möglicherweise, zu finden. Doch bevor Marduk antworten konnte, kam Kaleida mit einer Schüssel Fleisch und Reis an ihren Tisch. In der anderen Hand trug sie einen Krug Wein. Beides stellte sie auf den Tisch, zwinkerte Marduk zu und widmete sich wieder den anderen Gästen, die um die Mittagszeit den Gasthof aufsuchten. Marduk widmete sich dem Essen, froh über die Ablenkung. Er hatte keine Lust, mit dem Mädchen jetzt zu diskutieren. Lieber stellte er sich dem Magier in den Bergen.

Der Weg zur Hütte des Magiers war lang und steil. Marduk wunderte sich, daß der Alte den Weg noch auf sich nahm. Nach zwei Stunden Fußmarsch erreichten sie einen Paß, der ihnen einen Ausblick auf ein wunderschönes Fleckchen Erde bescherte. Die Hütte des Alten lag in einem hübschen Tal, eingeschlossen von Bäumen und einem kleinen Wasserfall, der hinter dem Häuschen aus dem Felsen sprang. Bis dahin war noch gut eine Stunde Weg zurückzulegen. Aber von hier oben erkannte man bereits den jungen Lehrling, der an der Quelle Wasser schöpfte. Den ganzen Weg herauf hatten die beiden geschwiegen, aber jetzt plagte das Mädchen die Neugier:"Was wird hier passieren? Glaubt Ihr, Ihr könntet den Magier noch vor der Tat umstimmen?" Marduk seufzte. Er wollte zuerst die Kraft des Magiers abschätzen, bevor er irgend etwas versprach. Kurz angebunden teilte er ihr dies auch mit. Ob er fähig war, den Fluch zu brechen, würde sich zeigen, wenn er wußte, wie stark der Alte war. Wenn nicht, konnte reden auch nichts schaden. Sie machten sich an den Abstieg, Marduk in beharrliches Schweigen versunken, trotz einigen Versuchen des Mädchens, ihn zum Reden zu bringen. Als sie am Grund des Tales angekommen waren, lief der Lehrling ins Haus. Marduk blieb stehen. Nach einer Minute kam der Lehrling wieder heraus und lief den Fremden entgegen. Als er schließlich nach Luft japsend bei ihnen ankam, keuchte er: "Mein Meister wünscht, daß Ihr ihn besucht. Er bittet Euch, seine bescheidene Behausung zu teilen. Sie jedoch," er deutete auf das Mädchen , "soll hier warten. Es ist ihr nicht gestattet, den Meister zu treffen." Mit einem Schulterzucken nahm Marduk die Aufforderung zur Kenntnis. Das Mädchen zog eine Grimasse unter ihrem Schleier, fügte sich jedoch, als der Junge sich bereit erklärte, mit ihr die Gegend zu erkunden. Marduk trat ins Innere der Hütte. Es war dunkel und roch nach Krankheit und Fäulnis. Eine einzelne Kerze brannte neben einem Lager aus Stroh, auf dem der ausgemergelte Körper des Magiers lag. Bei Marduks Eintreten hob er die Hand. "So sehen wir uns also wieder, mein Junge. Du hast Dich nicht verändert, während ich alt und krank geworden bin." Marduk erbleichte. Er erkannte die Stimme, wie einen Geist aus längst vergangenen Tagen. Aber den Mann, dem die Stimme gehörte, erkannte er nicht. Erst, als sich der Alte näher zum Licht der Kerze beugte, erkannte Marduk vertraute Züge. Das Gesicht vom Alter entstellt, aber doch dasselbe, welches ihm vor langer Zeit vertraut gewesen war. " Zepar? Du bist es!" Gerührt eilte Marduk an die Seite seines Freundes. Ihre ganze Jugend hatten sie miteinander geteilt, ihre Lehrzeit hatten sie miteinander verbracht. Doch während Marduk sich das ewige Leben erkauft hatte, hatte Zepar den Weg der Natur gewählt. Nachdem die erste Wiedersehensfreude verebbt war, blickte Marduk sorgenvoll auf Zepar. Aber dieser winkte ab. "Das Alter, mein Freund, ist keine Krankheit, die du heilen kannst. Mein Weg ist hier zu Ende. Ich habe mein Leben gelebt." "Aber ich kann dir helfen! Ich habe einen Zauber, der Cronos dazu bringen könnte, dich ewig leben zu lassen. So wie mich!" Zepar schüttelte den Kopf. "Du hast genug Unheil angerichtet mit deiner Spielerei. Die Zeit ist ein sehr empfindliches Gefüge. Ich weiß sehr wohl, warum du hier bist. Aber ich kann den Fluch, der auf deiner Begleiterin liegt, nicht lösen, denn ich hab ihn nicht verhängt." Marduk seufzte. Scheinbar war seine Mission doch nicht so leicht zu erfüllen. " Aber du kannst ihn lösen, Marduk!"

Marduk schaute auf. Überrascht blickte er auf seinen Freund. Dieser hatte einen tadelnden Ausdruck in den Augen. "Du bist immer noch der junge Heißsporn, der du früher warst. In diesem Moment läuft mein Lehrling ins Tal, um Kaleida ein Pergament zu bringen, das einst einen Fluch lösen wird, der hier entstand. Die gute Frau weiß nichts davon, aber sorgsam wird sie ihrer Tochter den Hinweis zu ihrer Rettung nicht vorenthalten. Es wird alles gut." Marduk schaute zweifelnd. Er ahnte nicht, was Zepar ihm mitteilen wollte. Dieser wurde zunehmend schwächer. Er rang um jeden Atemzug. "Aber der Fluch ist noch nicht ausgesprochen worden! Wer war es, wenn nicht du? Und wieso kann ich ihn brechen? Und wie?" Er wollte sein Pergament hervorholen, aber es war weg. "Die Zeilen wurden von dir verfaßt. In diesem Moment , sagst du, bringt der Junge sie zu Kaleida. Aber wie konntest du wissen, wenn du den Fluch nicht ausgesprochen hast?" Zepar lächelte unter Schmerzen. "Mein lieber Lehrling hat dir die Schrift gestohlen.. auf dem Marktplatz, der Zusammenstoß. Erinnerst du Dich? Du brachtest mir das Pergament. Und du brachtest den Fluch. Mit der Zeit spielt man nicht. Geh zurück in deine Zeit und nimm das Mädchen mit. Und löse dort den Fluch." Marduk keuchte. In diesem Augenblick erkannte er das Paradoxon, in das er so blind gelaufen war. Mit seiner beiläufigen Äußerung, als er das Ungeborene untersuchte, hatte er etwas gesagt, daß sich dauerhaft auf das Leben des Kindes auswirkte. Ein Zufall! Nichts weiter. Herbeigeführt durch ihn selbst. Seine Gedanken begannen zu kreisen. Was war der Auslöser? Er selbst? Wenn er nicht zurückgegangen wäre, hätte es den Fluch nicht gegeben, oder? Wie hatte alles angefangen? Zepar unterbrach seine wirbelnden Gedanken. " Mit der Zeit zu spielen, bringt nur Verwirrung. Du hast Cronos zweimal herausgefordert. Und entgegen Deiner Überzeugung hast du NICHT gewonnen. Du hast verloren. Und du wirst nichts gewinnen, wenn du jetzt noch einmal mit Cronos ringst!" Die letzten Worte würgte Zepar nur noch keuchend hervor. Seine Augenlider flatterten, seine Hände verkrampften sich. Er atmete noch einmal aus, dann fiel sein Kopf zur Seite. Er war tot. Marduk seufzte. Einen Augenblick blieb er neben seinen Freund hocken. Dann deckte er ihn zu und murmelte: "Du warst immer der Klügere von uns beiden. Ich werde nicht noch einmal mit Cronos feilschen. Ich werde den Fluch lösen. Und ich werde den Zeitenfluß nicht noch einmal stören. Was geschehen ist, ist geschehen. So soll es sein."

Das Mädchen stand schweigend neben ihm am Rande der Klippe der Zeit. Dort, wo sie in die Vergangenheit durchgebrochen waren, klaffte ein schwarzer Riß in den bunt wirbelnden Farben. Sie waren wieder in der Gegenwart. Marduk versiegelte den Riß in der Zeit, indem er das Pergament zerriß und die Schnipsel in die Öffnung warf. Mit jedem Teilchen wurde der Spalt kleiner.

Als es vollbracht war, wandte er sich zu dem Mädchen um. Seine geistigen Fühler flossen in ihre Aura, durchforsteten ihren Körper, fanden den Teil seiner selbst, der dort lag und zerrten daran. Das Mädchen keuchte. Marduks mentaler Griff wurde fester, für einen Moment wurde er sie, dann teilten sie sich wieder, vollständig diesmal. Der Fluch war gebannt. Zögernd trat er zu ihr und hob ihren Schleier. Das Gefühl, das er beim erstenmal verspürt hatte, schwang noch in ihrem Gesicht nach, aber nicht mehr lebensbedrohend. Sie lächelte ihn an, Tränen in den wunderschönen Augen. Ihre Lippen formten Dankesworte, aber die Freude schnürte ihr die Kehle zu.

Sie würde endlich ein normales Leben führen können. Langsam holte sie aus ihren Gewändern einen Beutel, in den die Talonen fröhlich klimperten. Als sie sie überreichen wollte, lehnte Marduk ab. Er hatte viel mehr gefunden, einen viel größeren Lohn erhalten, als alle Talonen der Welt wert waren.

ENDE

AN VERLAG CARL UEBERREUTER GMBH Kennwort "Wolfgang-Hohlbein-Preis" Alserstraße 24 Postfach 306 1091 WIEN Seite 9 von 10

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Daniela Hoppaus).
Der Beitrag wurde von Daniela Hoppaus auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.02.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Daniela Hoppaus als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Unser Literaturinselchen - An vertrauten Ufern von Elfie Nadolny



Bebilderte Gedichte und Geschichten von Elfie und Klaus Nadolny

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Fantasy" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Daniela Hoppaus

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die Puppe von Daniela Hoppaus (Thriller)
Ein außerirdisches Wesen von Margit Kvarda (Fantasy)
Tatsachenbericht (gerettet) von Margit Kvarda (Tiergeschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen