Marie Salka

Der schwarze Mönch

Führungen durch altertümliche Schlösser hatten es mir eigentlich schon seit meiner Kinderzeit angetan. Zwar interessierte mich weniger, was der Gruppenführer zu Familienzwistigkeiten und Verwandschaftsgraden des ehemals im Schlosse wohnhaften Adels lang und breit auszuführen hatte, doch tat es mir wohl, all den Prunk und Reichtum zu betrachten und mich ein wenig in vergangene Jahrhunderte hineinzuträumen.
Nun war dieser Prunkbau etwas besonderes. Im Mittelalter hatte er den Mönchen als Kloster gedient, bevor er schließlich, zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts, Herrschaftssitz einer sächsischen Kurfürstenfamilie wurde. Gerade dieses frühere Leben als Kloster machte das Schloss so interessant, und ich versuchte mir vorzustellen, wie wohl in kalten Wintern die Mönche in ihren eher schlecht als recht isolierten Zellen gehaust haben mussten. Es war ein warmer Mainachtmittag, und so gelang es mir nicht.
„Versuch es,“ flüsterte ich mir selbst zu. So wie aufmerksame Touristen versuchen, Kultur und Leute kennenzulernen, wenn sie ein ihnen fremdes Urlaubsland betreten, so lag es mir am Herzen, Flair und Ambiente zu spüren, das einst in diesen Gemäuern geherrscht haben mochte. Auch wollte ich gern diesen wohlig kalten Schauer bei jener Vorstellung fühlen.
Etwas in Gedanken dahinschleichend, bemerkte ich nicht, dass sich die Gruppe von mir entferne. Die Menschenmenge war schon in den nächsten Raum geschlurft, und auch dem Führer schien nicht aufgefallen zu sein, dass ich zurück geblieben war. Mir war bewusst, dass ich etwas Unerlaubtes tat, wenn ich mich der Gruppe nicht wieder anschloss, aber meine Neugierde nahm Überhand, und so verbarg ich mich hinter einem der schweren Brokatvorhänge, bis auch der letzte Besucher außer Sicht war.
Ich blickte mich noch einmal schlechten Gewissens um, doch als ich die Luft rein wähnte, schob ich den Ständer mit der roten Absperrkordel beiseite und betrat verbotenes Terrain. Ich wollte wissen, was sich hinter den für Touristen sichtbaren Räumen verbarg. Mir gegenüber befand sich eine filigran geschnitzte Tür. Ich näherte mich ihr und drückte vorsichtig die Klinke herunter, in der Erwartung, sie verschlossen zu finden, doch zu meiner Überraschung ließ sie sich öffnen. Schnell schlüpfte ich hindurch und schloss sie hinter mir wieder.
Nun erst sah ich mich um. Im Gegensatz zu dem vorherigen Zimmer war dieser Raum nicht beleuchtet. Durch die zwei Fenster drang Tageslicht herein, und bestrahlte sanft ein abgewetztes Sofa, dessen zerschlissener roter Samt auf längst vergangene prunkvolle Zeiten schließen ließ. Ich blickte weiter im Raum umher und sah einen Waschtisch, ein breites Himmelbett ohne Vorhänge und einen schlichten Tisch mit einer Glasvase vertrockneter Blumen darauf. Es schien mir seltsam – wieso restaurierten sie die Einrichtung dieses Zimmers nicht, um auch dieses der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen? Und wenn ihnen daran nichts lag – warum fingen sie mit Sofa und Bett nicht Besseres an, als es in einem Hinterzimmer des Schlosses verstauben zu lassen? Wie lange schon mochte der trockene Strauß hier stehen?
Ich entschloss mich, auch die gegenüberliegende Tür zu versuchen. Sie ließ sich ebenso öffnen wie die erste, und ich hoffte, nicht plötzlich wieder in einem von Menschen durchfluteten Raum zu stehen. Mein Regelübertritt sollte geheim bleiben.
Ich betrat einen kleinen Saal, dessen Wände und Decke im Schatten der geschlossenen Vorhänge lagen. Grau verwischte der Schleier des Dämmerlichts die Silhouetten der Möbel, doch ich wagte nicht, die sorgsam zugezogenen Drapieren zu öffnen. Ich hatte das Gefühl, als würde diese Tat dem Saal die Seele rauben. Zu meiner rechten Seite entdeckte ich einen fleckigen Spiegel. Er hatte Sprünge, und als ich mein Gesicht im Spiegelglas betrachtete, reflektierte er mein Bild verzerrt und vielfach. Staub lag auf dem Kaminsims, der den unteren Rand des Spiegels bekränzte, und das schwebende Flimmern, das in der Luft lag, ließ mich frösteln. Dieser Saal schien so anders als die Gemächer, durch die man uns geführt hatte. Er lag so einsam vor mir, so grau, und fast bildete ich mir ein, Klagelieder zu hören. In mir stieg ein Gefühl auf, als sei in der Nähe dieses Raumes ein Unglück geschehen, doch ich schob diese Ahnung auf meine blühende Phantasie und entschloss mich, meine Erkundungstour fortzusetzen.
Gegenüber der Fenster war eine Flügeltür leicht geöffnet und ich lugte vorsichtig hindurch, um nicht überraschend einem Wärter oder anderen Menschen zu begegnen. Meinem Blick bot sich ein trister langer Gang, der offenbar an der Innenmauer des Schlosses entlang führte.
Ich durchschritt die Tür und tastete mich an dem kalten, nach Schimmel riechenden Gemäuer entlang. „Hier ist mit Sicherheit länger nicht mehr gewischt worden...“ flüsterte ich mir selber lächelnd zu, um meine Einsamkeit zu vertreiben. Diese Umgebung glich nun mehr dem Kloster, das einst von Mönchen durchwandelt worden war. Es schien mir etwas merkwürdig, dass die Türen kostbarer Schlafräume und ehemals prunkvoller Säle auf diesen mit Mauersteinen bewehrten Gang hinausführten, dass Parkett und unregelmäßiger kalter Steinboden so nahe beieinander lagen. Nun konnte ich mir sehr wohl vorstellen, was für ein Bild sich den Mönchen geboten haben musste, was für ein Gefühl sie gepackt haben musste, wenn sie nach der Gebetsstunde durch das alte Gemäuer schlichen.
Ich sah durch das gegenüberliegende Fenster hinaus. Unter mir lag in der Dämmerung des heranbrechenden Abends ein gepflegter Rosengarten, rote und weiße Blütenköpfe ragten zu mir empor. Dies erschien mir merkwürdig, denn ich hätte schwören können, dass ich bei dem zuvor erfolgten Rundgang um das Schloss keine Rosen gesehen hatte, sondern einen gepflasterten Platz, dessen Mitte ein Springbrunnen zierte. Mich beschlich ein Gefühl der Orientierungslosigkeit, doch ich beschloss, dieses Gefühl einfach zu übergehen.
Die trüben Fenster ließen nur wenig Licht in den Schlossgang, und so hatte ich das Gefühl, in zunehmender Dämmerung zu stehen. Da meine Neugier noch nicht gestillt war, entschied ich, das Licht so lange wie möglich zu nutzen, bevor ich umkehren musste. Zögernd schritt ich weiter den Gang entlang, mit der Empfindung, dass plötzlich meine Füße viel lauter auf den Steinen hallten als zuvor. Die kalte Luft trug ihr Übriges zu der mulmigen Atmosphäre bei, derer ich mir gewahr wurde. Dieser Teil des Klosters schien so anders als alles, was die Besucher normalerweise zu Gesicht bekamen. Ich fühlte mich als etwas Besonderes, wünschte mich gleichzeitig jedoch in die warmen, hellen Hallen zurück. Doch der Reiz des Verbotenen war stärker. So schritt ich mutig die dunkle Wand entlang.
Schließlich entdeckte ich zu meiner Linken eine niedrige, schmale Holztür. Wohin mochte sie wohl führen? Sie sah nicht gerade aus, als würde sich dahinter ein Ballsaal verstecken. Mit klopfendem Herzen betätigte ich die gusseiserne Klinke. Die Tür bewegte sich nicht. Ich rüttelte stärker an ihr, und es schien, als würde vom Rütteln dieser Tür ein Geklirr eiserner Ketten ausgehen. Ich sah mich um. Mir war, als hätte mich ein besonders eisiger Hauch gestreift. Mich fröstelte erneut. Dies war doch alles nur Einbildung? Von der unbekannten Türe ging eine mir nicht erklärbare Faszination aus, etwas, das mich wie magisch zu dieser Pforte zog, und zugleich fürchtete ich mich vor meiner eigenen Phantasie. Noch einmal drückte ich die Klinke herunter, stemmte mich diesmal mit voller Kraft darauf, hoffte, dass die Tür aufspringen würde, und tatsächlich schien sie sich etwas zu bewegen. Unmittelbar beschlich mich das Gefühl, dass etwas diese Pforte von innen verschlossen hielt, als ob jemand verzweifelt versuchte, mir keinen Einlass zu gewähren.
Eine zarte Kinderstimme drang an mein Ohr, sanft wie ein Lufthauch, der im nächsten moment bereits vergessen ist. Plötzlich glaubte ich, erneutes Kettengeklirr zu hören. Schweres Eisen, als wäre jemand in Fesseln gelegt. Nun jagten mir die Schauer über den Rücken, die ich zuvor herbeigesehnt hatte. Mit einem Mal wurde mir klar, dass ich nicht an diesen Schauplatz gehörte, dass Schreckliches geschehen mochte, ohne dass ich es abwenden konnte. Oft schon konnten Unglücke und Folter geschehen, ohne dass Menschen sie beeinflussen konnten. Ich hörte den verzerrten Schrei eines Mädchens, ein Hilferuf, der mir zu gelten schien. Doch ich konnte ihr nicht helfen. Meine Neugier war vertrieben. Als wollte mich etwas jagen, machte ich auf dem Absatz kehrt und rannte den Gang entlang dorthin, woher ich gekommen war. Ein kalter Hauch war mir auf den Fersen, und als ich mich angstvoll im Lauf kurz umdrehte, glaubte ich, einen bedrohlichen Schatten in meinem Nacken zu erspähen, ein angestrengtes Keuchen zu vernehmen. As gälte es, mein Leben zu retten, lief ich und lief und bemerkte zu spät die Tür, die das Ende des Ganges markierte. Ein Abbremsen war zu spät, und in die Enge getrieben von einem lebendigen Schatten verlor ich das Bewusstsein.

Stimmen erklangen an meinem Ohr. Ein Gefühl von Luft und Licht, von Wärme und einem Mainachmittag. Ich schlug die Augen auf und erblickte mir fremde Gesichter. Doch nein, bei näherem Hinsehen entpuppten sie sich als die Leute, die mit mir zusammen der Führung gefolgt waren. Ich war erleichtert, diesem Alptraum entronnen zu sein. Den Aussagen der Menschen zufolge war ich während der Führung plötzlich bewusstlos zusammengebrochen. Sie konnten sich nicht erklären, warum – genauso wenig wie ich. Nie zuvor war mir das passiert. Doch Unerwartetes geschieht jeden Tag, und mir wurde bewusst, dass die kindlichen Schreie, die Kälte und der schwarze Schatten nur ein Ohnmachtstraum, eine Einbildung gewesen sein mussten.
Als mein Kreislauf sich stabilisiert hatte und der Führer seine Erklärungen fortsetzte, versuchte ich, diesen Traum zu verdrängen. Er brachte nur düstere Gedanken. Doch fasziniert wie erstarrt zugleich blieb ich vor einem dunkel gefassten Porträt stehen, das einen gutmütig aussehenden Mönch in schwarzer Kutte zeigte. „Einer Legende zufolge,“ erklang die Stimme des Führers, „stellt dieses Porträt einen unbekannten Bruder aus dem vierzehnten Jahrhundert dar, der in diesem Kloster lebte. Ein zuverlässiger, nach außen hin frommer Mensch.“ Ein eigenartiger Geruch ging von dem Gemälde aus, verstaubt und modrig zugleich. Mich beschlich das Gefühl, als würde ich von den stechenden Blicken des Mönches verfolgt, doch als ich mir das Bild näher besah, konnte ich nur graugetrübte Augen erkennen.
Die Stimme des Führers wurde gesenkter. „Doch eines Nachts fand man ihn, wie er mit einem jungen Mädchen, einem unschuldigen Kinde, in seiner Zelle Unzucht betrieb. Von ihrem Peiniger in Ketten gelegt, verstarb das Kind schließlich. Und so, erzählt die Legende, beschloss man, dem Bruder die härteste Strafe angedeihen zu lassen, die seinerzeit üblich war. Es heißt, man hätte seine gottlose Seele verdammt und ihn bei lebendigem Leibe eingemauert...“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.10.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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