Renate Strang

Der Weihnachtsapfel

Ein scharfer Ostwind wehte die Düfte des fernen Weihnachtsmarktes zu dem kleinen Spielplatz am Rande der Stadt. Florian saß auf der Schaukel und sog die geheimnisvolle Duftmischung tief in sich ein. Er liebte die würzigen Gerü-che, obwohl er sie nicht bestimmen konnte. Er war noch nie auf dem Weih-nachtsmarkt gewesen. Er hatte jedoch von der glitzernden Budenstadt reden hören, von Lebkuchen und gebrannten Mandeln, Glühwein und Zimtäpfeln. Er malte sich aus, wie er genüsslich einen Lebkuchenmann verspeiste, dem Ka-russellpferd die Sporen gab und dem Weihnachtsmann seine Wünsche ins Ohr flüsterte. Doch die Wirklichkeit sah anders aus.

Mutter hatte gesagt, dass Weihnachten wieder bescheiden ausfallen würde. Sie war arbeitslos und musste mit jedem Cent rechnen. Das hieß, ein bunter Teller für ihn mit Äpfeln, Nüssen und einem Schokoladenweihnachtsmann. Das Herz blutete Florian, wenn er daran dachte, was sein Klassenkamerad Thomas alles vom Weihnachtsmann erwartete. Er hatte es ihm erzählt, als sie auf dem kalten Schulhof ihr Pausenbrot aßen. Er hatte sich ein BMX-Rad gewünscht, Compu-terspiele und eine Reise zum Disneyland Paris. Und Thomas versicherte, dass der Weihnachtsmann nie einen seiner Wünsche ausließ.

Florian wurde traurig. Er würde so gern einmal richtig Weihnachten feiern: mit einem festlich glitzernden Lichterbaum, einem Braten im Ofen, selbst gebacke-nen Keksen und Geschenken. Und mit seinem Vater. Das wünschte er sich mehr als alles andere auf der Welt. Seine Eltern hatten sich getrennt, als er sechs Jahre alt war. Jetzt war er zehn, ein stiller, verträumter Junge, der für sein Alter zu klein und zu ernst war.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es Zeit war, zu gehen. Mutter hasste es, wenn er zu spät kam. Als er die Wohnung betrat, stutzte er. Zum ersten Mal, seit sie hier wohnten, hingen in den Fenstern glänzende Papiersterne. „Was ist denn hier los“, fragte er, als er seiner Mutter einen Kuss auf die Wange drückte. „Nichts ist los“, antwortete sie, „ich habe nur ein wenig gebastelt. Morgen ist Heiligabend. Ich möchte es für uns ein bisschen festlich haben. Jetzt wollen wir aber zu Abend essen und danach ab ins Bett.“

Im Bett lag Florian noch lange wach. Schon bald hörte er wie die Wohnungstür leise ins Schloss fiel. Mama war ausgegangen. Das machte sie in letzter Zeit häufiger. Wo sie wohl hin ging? Während er über die Heimlichkeiten seiner Mut-ter grübelte, kam auf leisen Sohlen der Sandmann und zog ihn in das Land der Träume.

Obwohl er wusste, was ihn erwartete, packte ihn am nächsten Morgen eine große Unruhe. Vielleicht würde es in diesem Jahr doch anders sein als üblich. Aber nichts deutete darauf hin. Am Nachmittag machte seine Mutter Kartoffel-salat, und er ging zum Spielplatz, wo er auf der Schaukel seinen Träumen nachhing. Als es draußen still wurde und durch die umliegenden Fenster die Lichter der Weihnachtsbäume zu schimmern begannen, verließ Florian seinen einsamen Platz. Seine Mutter erwartete ihn schon. „Du bist spät heute.“ Sie schimpfte nicht, sondern lächelte geheimnisvoll. „Wasch dir die Hände und dann komm ins Wohnzimmer.“

Im Wohnzimmer spendete eine dicke rote Kerze festliches Licht, im Radio sang ein Kinderchor „Stille Nacht“ und mitten auf dem Tisch stand sein bunter Teller. Aber statt der üblichen Äpfel, Nüsse und dem Schokoladenweihnachtsmann lag nur ein einziger Apfel darauf. „Ich wünsche dir frohe Weihnachten“, umarmte ihn seine Mutter liebevoll. „Ich weiß, in diesem Jahr ist es noch bescheidener als sonst, aber du weißt ja, ich brauchte einen neuen Staubsauger.“ Florian nickte, den Tränen nahe. „Dafür ist der Apfel etwas Besonderes.“ Mutters Stimme klang entschuldigend. „Ein Himbeerapfel. Probier ihn doch mal.“

Gehorsam griff Florian zum Apfel, der rotbäckig und glänzend auf dem Teller lag. Freudlos biss er hinein und begann langsam zu essen. Plötzlich verzog er angewidert das Gesicht. „Was ist denn?“ fragte seine Mutter, die ihn beobachte-te. „Ich habe auf etwas Komisches gebissen“. Misstrauisch beäugte er den Ap-fel. „Kuck mal Mama, da ist Papier drin!“ „Das gibt es nicht“, sagte seine Mutter, „zeig mal“. Tatsächlich. Das Kerngehäuse war ausgestochen und an seiner Stelle steckte ein säuberlich gefaltetes Papier. „Nimm es doch heraus. Vielleicht steht etwas darauf.“ Florian zog vorsichtig das Papier aus dem Apfel und entfal-tete es. „Hier steht wirklich etwas: In Mamas Schlafzimmer wartet eine Überra-schung auf dich.“ Florian sah seine Mutter fragend an. „Na, dann würde ich schnell mal kucken gehen!“

Florian rannte los – und prallte vor Erstaunen zurück. Ein Weihnachtsbaum stand auf der Kommode und erstrahlte in festlichem Glanz. Rote Kugeln hingen daran, Silber-Lametta und viele bunte Zuckerkringel. Darunter lagen bunte Päckchen, die nur darauf warteten, ausgepackt zu werden. Florians Augen leuchteten. Plötzlich trat hinter den bodenlangen Vorhängen ein Mann hervor. Florian blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Dann erkannte er ihn. „Papa, Papa!“ Er warf sich dem Mann in die Arme, Freudentränen rollten über seine Wangen. Die Mutter trat hinter ihn und umarmte beide zärtlich. „Papa und ich haben uns in der letzten Zeit häufig abends getroffen, wenn du im Bett warst“, erklärte sie. „Wir wollen wieder zusammen leben und eine richtige Familie sein.“ Florians Augen glänzten. Das war das schönste Weihnachtsfest aller Zeiten. Und der beste Apfel, den er je gegessen hatte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.10.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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