Rasmus Fuhse

Lauf um Dein Leben

Einen Marathon zu laufen, ist eine der absoluten Königsklassen des Sports. Ein Mensch ist nicht dafür gebaut worden, so lange so schnell zu rennen. Vierzig Kilometer reine Strapaze. Man kann es sich antrainieren, sicher. Aber es tut weh und es kostet viel Zeit.
Peng! Und der Startschuss fiel. Alle liefen los. Anfangs hingen wie immer alle auf einem Haufen und es dauerte, bis sich alle an ihren vorläufigen Platz im Feld festgesetzt hatten, von wo aus man beginnen kann, endlich an Tempo zu gewinnen. Der Anfang ist nicht schnell, kommt einem zwar so vor, dient aber nur dazu, in den eigenen Rhythmus hereinzukommen.
Mitten durch die Häuserschluchten sind wir gelaufen, jeder auf seinem Platz und dennoch bildeten wir uns ein, dass wir als erste durch das Ziel laufen könnten. Wir sind uns immer ganz sicher gewesen, dass genau den anderen zuerst die Puste ausgeht oder sie Seitenstechen bekommen. Die Sonne schien auf uns herab und Leute säumten den Weg und brüllten uns unsere Namen entgegen. Doch diese Eindrücke verschwammen unter der Konzentration auf die Bewegung.
Beim Marathon versteift sich der ganze Körper auf nur einen Sinn und Zweck. Laufen, laufen, laufen. Energie muss gespart werden, Scheuklappen sind installiert und aufgerichtet. Es hätte regnen können, hageln oder stürmen, wir hätten niemals gewagt, davon Notiz zu nehmen.
Alle Körperfunktionen sind nur auf ein Wort fixiert: Marathon.
Nach den ersten zwei Kilometern ist man fertig, man kann nicht mehr, würde sich am liebsten hinsetzen und verschnaufen. Nach zehn Kilometern hört das auf und man geht auf in der Bequemheit der Bewegung. Nach fünfzehn Kilometern könnte man nicht einmal mehr aufhören, selbst wenn man es wollte. Würde Dir da jemand sagen, dass Du aufhören sollst, so müsstest Du dennoch weiter laufen, weil es Dein Körper Dir so sagt.
Nach zwanzig Kilometern dann schwächeln die Gelenke und alles fängt an, weh zu tun. Jede Bewegung schmerzt. Die Muskeln sagen Ja doch die Knochen wollen zerbersten.
Nach dreißig Kilometern erst hat man sich mit den Schmerzen der Knochen arrangiert und verlässt die Welt aller Gedanken. Man nimmt die Welt nur noch in Flächen wahr.
Und dann darf man an gar nichts mehr denken. Du wirst die vierzig Kilometer nie erreichen, wenn Du denkst “jetzt nur noch zwei Kilometer, gleich ist es geschafft“. Gedanken sind der Tot.
Ich war bei Kilometer achtundzwanzig und schaute mich um. Ich sah ein paar Leute um mich, die auch den Marathon liefen. Es gab welche vor und welche nach mir. Ich hatte einfach keine Ahnung, an welcher Stelle ich wohl sein würde. Aber ich wusste, dass wir gerade über einige Felder liefen. Schön ist es da gewesen, die Sonne blinzelte den Glast auf den Ähren an.
Und so setzte ich mich nieder auf jenes Feld. Ein paar Schritte ging ich noch hinein, bis ich mich jählings in das Korn fläzte.
Keiner ist mir gefolgt und ich atmete nur Luft. Ich sah einen blauen Himmel und güldenes Gras. Farben. Ich nahm die Erde auf und warf sie weit in die Luft, einige Male, bis ich größtenteils von ihr bedeckt war.
Hatte ich nicht schon erwähnt, dass man beim Laufen seinen Verstand abschaltet? Bis jetzt hatte ich ihn nicht wieder angeschaltet. Ich schien immer weiter in der Erde zu versinken, nahm flüchtige Blicke auf die kleinen Wurzeln des Grases. Es ging immer tiefer.
Ich wusste, dass der Marathon nicht mein Ziel sein könnte. Ich musste etwas anderes haben, ich wollte weg von dort, weg von dem Weg.
Ich durchstreifte dunkle Höhlengänge, Orte, die nie ein Mensch vorher gesehen hat, Wesen sah ich, von denen sie kaum selber wussten, dass sie existieren. Merkwürdig waren sie in Gestalt und Sprache und ich mag sie nicht verraten, denn das würde sie wohl töten.
Langsam wurde es immer tiefer und wärmer, als ich einen Raum erreichte, der meine ganze Vorstellungskraft überstieg. Rot war er angeleuchtet von diffusem Licht, das von sehr weit weg zu kommen schien. Die Wände waren schön eingerichtet, geradezu spießig, könnte man sagen.
“Haben Sie vielleicht etwas vergessen? Oh, nein. Verzeihen Sie, ich muss Sie wohl verwechselt haben.“
Es sprach ein Mensch zu mir, soviel war ich mir sicher. Er saß in einem Sessel und legte sein Buch nieder. Ich fragte ihn:“Störe ich Sie, ich wollte nicht stören.“
“Nein, keineswegs. Ich brauche so oder so eine kleine Pause. Setzen Sie sich doch.“
“Danke“ und so saß ich. Meine Augen durchstöberten den Raum nach allerlei Besonderem, das es hier in Hülle und Fülle zu geben schien.
“Warum sind Sie gekommen? Gibt es einen speziellen Grund?“
“Nein, ich denke nicht. Ich war gerade in der Gegend und ich wollte mal etwas spontan sein.“
“Haha! Das ist gut. Gut. Kann ich Ihnen etwas anbieten?“
“Etwas Wasser vielleicht, danke.“
Er ging rüber und schenkte mir aus einer wirklich großen Flasche etwas Wasser ein und gab mir das Glas in die Hand.
“Danke, danke.“
“Na, Sie scheinen es ja auch nötig gehabt zu haben. Kommen Sie vom Laufen?“
“Ja. (Gluckgluck)“
“Gut, Sport ist immer gut. Na, immer ist vielleicht übertrieben. Alles in seiner gewissen Dosis, würde ich sagen. Wie viel sind Sie heute gelaufen?“
“Achtundzwanzig Kilometer.“
“Alle Achtung! Ich würde das sicher nicht mehr auf die Beine bekommen. In meinem Alter, aber ach, was erzähle ich? Ich beschränke mich gerade einmal auf ein paar Liegestütze am Tag. Das stärkt die Rückenmuskulatur und beugt Rückenschmerzen vor.“
“Ja, das ist auch in Ordnung. Jedem das seine, nicht wahr? Sagen Sie, können Sie mir vielleicht weiter helfen?“
“Hm, da muss ich erst mal wissen wobei. Aber ich helfe natürlich immer gerne.“
“Ich bin auf der Suche nach Etwas. Wie soll ich es beschreiben? Hm, es fehlt mir und ich denke, dass ich damit besser leben könnte.“
“Was meinen Sie?“
“Ich weiß nicht, ob Sie mir da wirklich weiter helfen können. Aber ich möchte mehr Dinge sehen, ich bin auf der Suche nach dem zweiten Gesicht, wenn man es so nennen kann. Es ist so, dass ich mich häufig auf ein/zwei Sachen versteife und dann alles andere vergesse.“
“Und jetzt wollen Sie die Dinge in Abhängigkeit von anderen Dingen und nicht mehr einzeln sehen, ist das richtig?“
“Ja, in gewisser Weise ja.“
“Tja, da sind Sie aber auf dem Holzweg. Solch ein zweites Gesicht gibt es nicht auf der Welt.“
“Nicht? Aber ich weiß, dass ich es früher gehabt habe. Ich muss es nur irgendwo verloren haben, vielleicht habe ich es auch absichtlich weggeworfen. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.“
“Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, Ihnen fehlt etwas anderes, das gar nicht so unverwandt mit diesem - wie Sie es sagen - zweiten Gesicht ist.“
“Etwas anderes? Ich denke nicht.“
“Doch, ich denke, Sie haben keine Gefühle mehr. Sie scheinen alles sehr rational zu betrachten.“
“Keine Gefühle mehr? Aber ich, warten Sie mal.“
Ich ging in mich und fragte mich, was er damit meinte. Ich habe nie darüber nachgedacht, ob ich vielleicht keine Gefühle mehr haben könnte. Alleine der Gedanke daran kam mir komisch vor. Ich meine, ich musste mich ja nur zwicken und es tat weh. Das ist doch ein Gefühl, oder nicht?
“Nein, es hat nichts mit den niederen Gefühlen zu tun. Tun Sie manchmal etwas, weil Sie es einfach wollen, oder weil Sie darüber nachgedacht haben?“
Irgendwie war ich verdutzt. Natürlich tat ich Dinge, weil ich es wollte.
“Natürlich tue ich Dinge, weil ich sie tun will.“
“Ach, Sie haben mich immer noch nicht verstanden. Wann haben Sie das letzte Mal etwas offensichtlich Dummes getan, das ein Fehler gewesen ist?“
“Na, ich habe den Marathon verlassen. Ich bin einfach weggegangen und habe mich ins Feld gesetzt, weil ich Lust drauf hatte.“
“Es war ein Marathon? Gute Güte! Aber wie dem auch sei. Sie haben doch selbst gesagt, dass Sie eigentlich auf der Suche nach dem zweiten Gesicht waren. Also scheinen Sie es sich doch überlegt gehabt zu haben, in das Feld zu gehen.“
Hm, der alte Mann hatte irgendwo Recht, obwohl es mir immer noch komisch vorkam. Ich dachte weiter nach, ob ich nicht doch einmal etwas offenkundig Dummes getan hätte. Und es ist nicht der Fall gewesen.
“Nun ja, wenn Sie so wollen, habe ich tatsächlich in den letzten sieben Jahren oder so nichts ernsthaft Dummes mehr gemacht. Aber glauben Sie wirklich, dass es wirklich schlecht ist, nichts Dummes getan zu haben?“
“Oh nein, nein, auf keinen Fall. Es ist immer sehr dumm, etwas Dummes zu tun. Aber der Grund, warum Sie nie etwas Dummes getan haben, könnte sein, dass Sie keine Gefühle mehr haben. Und das ist natürlich sehr schlecht.“
“Und wann fühle ich etwas?“
“Ach herjeminee! Das in Worte zu packen, ist ja als ob man im Weltraum atmen wollte. Sie scheinen in der Tat keinen Sinn mehr für Gefühle zu haben. Also das müssen Sie regelrecht ändern.“
Jetzt war ich platt. Irgendwie hatte ich mit einer Menge gerechnet, sogar damit, dass der alte Mann mir weiter helfen könnte bei meinem Problem mit dem zweiten Gesicht. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich keine Gefühle mehr haben sollte.
Denn es ist doch so, dass sich das menschliche Bewusstsein zur Hälfte aus Verstand und zur anderen aus Gefühlen zusammensetzt. Und eine Hälfte fehlte mir völlig! Könnte das sein?
“Und was kann ich jetzt tun? Was raten Sie mir?“
“Nun, der Versuch, sich mit bloßem Nachdenken die Gefühle wieder zu holen, ist zum Scheitern verurteilt.“
“Dann gibt es nichts, was ich tun kann?“
“Keine Ahnung. Von einem solchen Problem, wie Sie es haben, habe ich noch nie gehört. Und erst recht nicht davon, wie man es lösen soll. Im Endeffekt müssen Sie nur auf etwas warten, was Ihre Gefühle wieder erwachen lässt und dann ganz Ihren Gefühlen folgen. Von Zeit zu Zeit könnten sie nämlich wieder versuchen, sich in Ihr Leben einzumischen. Vielleicht kommen sie einfach von alleine wieder. Dann dürfen Sie ihnen nicht so schnell wieder die kalte Schulter zeigen. Sie müssen ihnen zeigen, dass Sie ihnen einen Platz in Ihrem Leben anbieten möchten. Ich weiß nicht einmal, ob das klappt oder ob das jemals eintreffen wird, aber Sie müssen es versuchen.“
“Klingt ganz schön vertrackt. Ich hätte nie gedacht, dass es so schwierig ist. Und dann, wenn ich die Gefühle wieder habe, wird auch mein zweites Gesicht wieder da sein.“
“Ich weiß immer noch nicht genau, was Sie mit dem zweiten Gesicht meinen. Aber Sie werden bestimmt die Dinge wieder mehr so sehen, wie Sie es vor sieben Jahren oder so getan haben.“
Jetzt im Nachhinein muss ich zugeben, dass ich damals schon etwas traurig, ja geradezu deprimiert gewesen bin. Man hatte mir einfach die die Fähigkeit zu fühlen abgesprochen. Das war schon ein hartes Brot für mich. Und so saß ich da, nachdenklich wie eh und je. Der alte Mann guckte mich mit einem mitleidigen Lächeln an. Und gerade, als er sein Buch wieder anheben wollte, fragte ich noch einmal:“Ein Frage habe ich noch.“
“Gut, schießen Sie los.“
“Hier ist so seltsam rotes Licht, das mir recht diffus scheint. Wo kommt es her? Die Sonne ist es nicht, ist es ein Magmastrom?“
“Weder noch. Ach, am Besten ist es, wenn ich es Ihnen zeige.“
Er stand auf, legte sein Buch beiseite und ging zur Tür des Raumes. Selbstverständlich folgte ich ihm. Hinter der Tür waren einige Gänge, die in demselben komischen Licht erhellt waren, gerade so, als käme das Licht durch alle Wände hindurch.
Wir liefen kreuz und quer durch das scheinbare Labyrinth. Einmal drehte sich der Mann im Gehen zu mir um und sagte:“Ziemlich unübersichtlich, was? Aber das ist alles, was so groß ist. Ich weiß selbst nicht genau, wo wir lang gehen müssen. Aber im Endeffekt kommt man auch durch Raten ganz gut vorwärts. Und mit der Zeit fällt es einem auch immer sehr viel einfacher. Nicht, dass man sich in den Gängen besser auskennen würde oder bestimmte Stellen wieder entdecken würde. Nein, ich habe immer das Gefühl, als würde ich jedes Mal eine andere Route gehen. Aber was einfacher wird mit der Zeit, ist das Raten, wo man hingehen muss.“
Wir liefen treppauf und treppab. Ich hatte mitgezählt und heraus gefunden, dass wir von den Stockwerken her nicht die Höhe geändert haben, also noch im selben Geschoss waren, als wir dort ankamen, wo der alte Mann mich hinführte. Es war eine Tür, kirschhölzern. Er öffnete sie und dahinter erstreckte sich ein gigantischer Raum, scheinbar unendlich weit in Höhe, Weite und Breite. Lediglich eine Wand (aus der wir kamen) und natürlich den Boden konnte ich sehen.
“Wow, das ist wirklich ein großer Raum!“
“Nicht wahr. Man hat mir gesagt, er sei 1000 Jahre breit und natürlich auch so hoch und lang. Aber ich selbst hatte noch nicht die Zeit, das herauszufinden. Manchmal ist es ganz gut, wenn man dem glaubt, was andere einem so sagen, auch wenn es trotzdem falsch sein könnte.
Aber sehen Sie das da gleich gegenüber, nein, etwas höher.“
Ich schaut da hin und sah ein schwammiges Halo, leuchtend hell und gleißend rot. Ich kniff die Augen zusammen und konnte beinahe eine Form darin erkennen. Es war zwar rund, aber es war weit davon entfernt, wie die Sonne auszusehen. Es sah aus wie ein großer Cashewkern. Aber dann kniff ich etwas weiter zusammen und staunte. Das konnte gar nicht sein. Es war unglaublich.
“Ist es ein riesiger Embryo?“
“Ach, zu spät. Jetzt haben Sie es schon gesagt. Schade.“
“Hätte ich es nicht sagen sollen, oder was?“
“Ja, vielleicht hätten Sie es nicht. Aber an sich ist es egal. Es ändert nichts, fast nichts.“
Es war ein Embryo. Ich war mir jetzt sehr sicher.
“Wir haben es gebaut, weil es hier unten kein Sonnenlicht gibt. Es ist außerdem enorm praktisch, weil sein Licht durch alle Steine durchgeht. Es ist nicht besonders hell, aber man kann damit alles erkennen, was wir erkennen müssen hier unten.“
“Es ist wirklich fantastisch. Unglaublich.“
“Ja, das können Sie laut sagen. Aber jetzt, wo wir hier sind, kann ich Ihnen noch etwas zeigen. Danach muss ich Sie alleine lassen, weil ich nämlich auch noch etwas weiter in meinem Buch kommen möchte. Ich hoffe, Sie verstehen.“
“Nein, das ist klar.“
Ich blinzelte immer noch zum Embryo empor.
“Komm Sie mit, hier geht es lang.“
Wir schlenderten etwas über den Boden der großen Halle. Na, man kann es eigentlich nicht Halle nennen, weil es keinen Hall gab. Durch die Größe wurden alle eigenen Geräusche verschlungen. Allerdings hörte man ein undefinierbares buntes Rauschen aus anderen Geräuschen, die von weit herkamen und man nur schwer identifizieren konnte. Es hätte alles sein können, was diese Geräuschkulisse fabrizierte.
Nach einigen hundert Metern fing eine Art Markt an. Es standen Stände da und Menschen dahinter, die freudig alle Besucher begrüßten und lächelten. Natürlich waren wir nicht die einzigen Besucher auf dem Markt. Voll war es nicht wirklich, leer aber auch nicht. Eben so ein Mittelding dazwischen.
Der alte Mann zeigte mir vieles, wo es etwas zu essen gab, etwas zum Anziehen und ein paar Kuriositäten. Eigentlich ist das meiste eine Kuriosität gewesen. Nichts von dem, was da war, hätte man ernsthaft erwarten können.
Er war jedenfalls sehr freundlich, kaufte mir noch etwas zu essen und verabschiedete sich dann von mir mit den Worten, ich könne ihn jederzeit wieder aufsuchen, wenn mir gerade danach sei.
So war ich nun allein und flanierte etwas durch die vielen Stände. Ich schaute mir so vieles an, dass ich es heute schon fast alles vergessen hatte.
Der Markt war quadratisch aufgebaut. Man ging durch eine Reihe durch, sah zwar die anderen Reihen, ich musste mir aber eingestehen, dass ich die anderen Reihen vermutlich nie näher begutachten würde, so groß war der Markt. Ich würde ja nicht einmal eine einzige Reihe vollständig besuchen können, wenn ich mein ganzes Leben dran entlang schlendern würde. Die Leute gegenüber lächelten mich an und ich lächelte zurück, aber ich würde sie nie wieder sehen. Das Lächeln konnte also unmöglich zum Konzept des Verkaufens gehört haben (, obwohl ich mir immer vorgenommen haben, dort auch noch vorbei zu schauen).
Es dauerte seine Zeit und ich wechselte die Reihe, obwohl ich meine bisherige Reihe noch längst nicht abgearbeitet habe mit gucken; es war mir zu dem Zeitpunkt egal. Dann wechselte ich noch einmal die Reihe und hin und wieder noch einmal. So kam es, wie es kommen musste, dass ich mich verlaufen hatte. Ich wusste natürlich den Weg zurück nicht mehr, aber auch nicht, wo ich hin wollte oder musste oder konnte.
Tausend Jahre, dachte ich, das ist eine lange Zeit. Ob der Markt wirklich auch den ganzen Raum ausfüllt? Dann wäre er ja auch tausend Jahre lang und breit. Mich schauderte bei dem Gedanken.
Und wie sind die tausend Jahre überhaupt bemessen? Zu Fuß oder mit dem Fahrrad? Auf diesem Markt gab es natürlich auch Fahrräder. Ich hätte mir eines kaufen und damit losfahren können. Wofür ich zu Fuß vielleicht tausend Jahre gebraucht hätte, hätte ich mit dem Rad höchstens fünfhundert Jahre gebraucht, eher noch weniger.
Ich kam zu dem Schluss, dass es sinnlos war. Ich hätte mir auch einen Ferrari Testarossa König kaufen können und wäre vermutlich noch zu spät an das andere Ende des Raumes gekommen, als dass es mir die Anschaffung wert gewesen wäre. Bei einem B3 Kampfbomber war ich mir nicht sicher, aber Flugzeuge hatte ich auf diesem Markt noch nicht gesehen.
Das rote Licht vom Embryo hatte mich leicht müde gemacht, sodass ich mich hinsetzte auf einen Stuhl, der bei einem Stand ausgestellt war. Natürlich nur zur Probe, wie es sich versteht.
Mein Blick glitt über das Exposé des Standes, bei dem ich saß und fand einen Fotoapparat. Einen recht neuen sogar, der mir gefiel. Es war eine Spiegelreflexkamera mit so einigen Einstellungsmöglichkeiten. Ich nahm ihn in die Hand und spielte etwas damit herum, um alle Funktionen ausfindig zu machen (, denn ein guter Fotoapparat fehlte mir noch, ich hatte zuvor immer nur diese kleinen Knipsmaschinen).
“Kann ich Ihnen weiter helfen?“ unterbrach eine freundliche Stimme meine Beschäftigung. Ich schaute hoch und sah eine junge Frau, hübsch im Gesicht und mit einem sympathischen Lächeln.
“Ja vielleicht. Was kann diese Kamera alles? Ich bin Laie, müssen Sie wissen.“
“Ich kenne mich mit diesen Dingern auch nicht so genau aus. Also hier können sie die Blende, glaube ich, einstellen, das da ist für den Fokus. Hier ist ein Zoom dabei, den kann man auch abmachen. Hier ist ein Makroglas, heißt das wohl für Nahaufnahmen. Soviel weiß ich jetzt auch nicht. Aber ich kann sagen, dass sie kaum benutzt wurde bisher.“
“Und ist auch ein Film drin?“
“Was für ein Film?“
“Na, ein Film eben.“
“Ich weiß nicht, was Sie meinen.“
“Hm, irgendwo müssen die Bilder doch gespeichert werden.“
“Hach! Damit werden doch keine Bilder aufgenommen. Es ist dazu da, Orte verlassen zu können und zwar um einiges schneller als zu Fuß.“
“Wie bitte? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Das ist doch eine Kamera.“
“Nein, ist es eben nicht. Sehen Sie, man drückt hier drauf und man muss ab dann nicht mehr an der Stelle verweilen, weil die Kamera eine Momentaufnahme davon gemacht hat. Wenn die Kamera die Aufnahme gemacht hat, müssen Sie nicht mehr an diesem Ort bleiben, weil es ja die Aufnahme gibt. Frage Sie mich nicht nach den technischen Details. Wie gesagt, ich kann die Dinger auch nur benutzen und fertig. Aber auskennen tu ich mich nicht damit.“
“Sie meinen, ich müsste nur auf diesen Knopf drücken und weg bin ich?“
“Ja, so in etwa. Das geht nicht so schnell, jedenfalls nicht für außen stehende Betrachter. Aber für Sie wird es schon recht schnell gehen.“
“Und wo werde ich danach sein?“
Sie stockte etwas, als ob Sie auf diese Frage keine rechte Antwort wisse.
“Hm, kann ich Ihnen nicht sagen. Wieso fragen Sie?“
“Ach nur so. Aus Interesse.“
“Also wollen Sie es nun haben oder nicht?“
“Sicher, will ich es haben. Es fasziniert mich ungeheuer. Aber leider kann ich es wohl kaum bezahlen. Sehen Sie, ich komme gerade vom Marathon.“
“Faule Ausrede. Aber wieso kommen Sie gerade vom Marathon? Machen Sie Sport?“
Sie war eine nette Person und ich hatte keine Lust, wieder weiter auf dem Markt umher zu streunen, weil es eh kein Ende haben würde. Ich hätte schließlich noch tausend Jahre in der einen Richtung gehen können, um die anderen Richtungen gar nicht erwähnen zu wollen.
Also was hatte ich anderes zu tun, als dieser jungen Frau meine ganze Geschichte zu erklären. Ich fing an mit“Da verließ ich die Strecke, um das goldgelbe Feld zu betreten.“ und endete mit“Zum Abschluss sagte mir der alte Mann noch, ich solle die Ohren steif halten.“.
Sie hatte sich alles angehört und anstandshalber auch ein paar Einwürfe wie“aha“ oder“soso“ und gelegentlich sogar ein“Und Sie haben wirklich nie etwas sehr Dummes getan?“. Eben ein nettes Gespräch. Aber irgendwann bin ich mit meinem Monolog fertig geworden, denn die Reise über den Marktplatz wollte ich nicht in aller Couleur schildern.
“Tja“, sagte sie“dann haben Sie ja wirklich nicht mehr viel. Keine Gefühle, keinen netten alten Mann, kein Geld und auch keinen Marathon mehr. Das macht aus Ihnen glatt einen sehr armen Menschen.“
“Das kann man wohl sagen, jaja.“
“Die ganze Geschichte klingt schon etwas ungewöhnlich. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass Sie träumen müssten.“
“Äh, ja der Gedanke liegt nahe. Aber was soll ich machen? Bis ich aufwache, kann noch eine ganze Weile vergehen, vielleicht träume ich ja auch nicht. So oder so ist der Gedanke müßig.“
“Sie scheinen wirklich gar nichts zu fühlen oder? Sie sind immer nur am Denken hierüber und darüber.“
Ich fühlte mich ertappt, und das obwohl ich ihr die Geschichte schon längst erzählt hatte. Vermutlich bin ich auch richtig dick rot geworden, aber das konnte man bei dem Licht des Embryos ja kaum nachvollziehen. Hier sahen alle Gesichter rot aus.
“Ja, wenn Sie nicht fühlen können, so kann aber immer noch beides, denken und fühlen. Also seien Sie mal ehrlich: denken Sie nicht auch, dass die ganze Geschichte von metaphorischer Bedeutung geradezu glüht?“
“Metaphorisch?“ ich war überrascht über diese Frage, antwortete aber mit“Hm. Ja, vermutlich schon.“
“Na, dann haben Sie bestimmt schon einmal versucht, die Geschichte zu interpretieren.“
“Nein. Eigentlich nicht. Soweit habe ich wohl noch nicht gedacht. Aber wenn Sie wollen…“
“Ach quatsch! Darum geht es doch gerade. Sie sollen sich gar keine Gedanken machen. Sie sollen die Geschichte gar nicht interpretieren, keine Metaphoriken suchen. Sie jedenfalls nicht. Wenn Sie es tun, werden Sie nur wieder etwas weniger fühlen und mehr denken. Aber Sie wollen doch Ihre Gefühle wieder haben.“
“Ja schon.“
“Dann versuchen Sie doch, die ganze Geschichte zu fühlen. Geht das gar nicht?“
“Hm, ich verstehe, was Sie meinen.“
“Und?“
Mit aller Macht kreisten meine Gedanken um die Sache. Es war wie eine Katze, die sich selbst in den Schwanz beißen wollte; ich dachte, ich hätte es erreicht, aber da war dann doch nichts. Nur Leere. Ich wusste nicht, wie ich diese Geschichte fühlen sollte.
“Soll es Angst sein?“
“Hahaha, es ist ja wirklich unglaublich mit Ihnen. Sie sind ein wirklich kaltes Stückchen Mensch.“
“Äh, ja?“
“Ja, glauben Sie mir ruhig. Wissen Sie was? Ihre Geschichte hat mir viel Freude bereitet und ich glaube, ich kann sie auch gut weiter erzählen. Und im Gegenzug dafür möchte ich Ihnen die hier schenken.“ wobei sie mir die Spiegelreflex in die Hand drückte.
“Wirklich? Sind Sie sicher?“
“Ach ja, hier will sowieso keiner weg außer Ihnen. Also ist auf gewisse Weise ein Ladenhüter. Sie können es gerne haben, auch wenn Sie nicht bezahlen können. Sie haben schon bezahlt. Vielleicht fühlen Sie dabei ja wenigstens mal was.“
Ich nahm den Apparat von ihr entgegen, schaute ihn kurz an. Er war in einem tadellosen Zustand, das stand fest und ich konnte ihn gut gebrauchen.
“Vielen Dank.“
“Na los, probieren Sie ihn aus.“
“Jetzt gleich?“
“Ansonsten werden Sie nie wissen, wo Sie hinkommen, wenn man ihn benutzt, oder?“
“Ja, da haben Sie Recht.“
Ich überlegte kurz und kam auf den Gedanken, ich müsse wirklich nur den Abzug drücken. Batterien braucht das Ding nicht, also musste man es auch nicht anmachen.
“Dann möchte ich ein Foto von Ihnen machen.“
“Von mir?“
“Ja, schon. Ohne Sie hätte ich den Apparat ja schließlich nicht. Bleiben Sie einfach da stehen und lächeln Sie...“
Ich wollte noch das Wort“natürlich“ hinzufügen, aber das war nicht nötig. Sie lächelte ja ohnehin sehr natürlich. Dann drückte ich auf den Abzug und es machte Klack!
Wolken sah ich danach, erst rot-orangene, dann blaue und schließlich weiße. Ein Meer, ganz viele durcheinander, verwoben und über ihnen eine große gelbe Sonne. Ich flog oder so schien es, weil ich mich kaum selbst sehen konnte. Unter mir schien die Sonne zwischen irgendwelche Häuserschluchten hindurch. Ich konnte die Läufer vom Marathon sehen, flog über ihnen hinweg und dann sah mich dann auf einem Feld hocken, wie ich mir das vorbeilaufende Feld voller Marathonläufer anschaute. Ich blieb ganz nah vor mir stehen und schaute mir direkt in die Augen. Ganz ruhig schwebte ich da vor meinem anderen Ich auf der Wiese.
Nie zuvor konnte ich mich so selbst betrachten.
Ich fragte mich in diesem Moment, was ich fühle, denn es ist ja mehr als wahrscheinlich, dass man zumindest etwas fühlt, wenn man sich selbst auf einem Feld hocken sieht. Aber ich hatte keine Ahnung, was ich gefühlt habe. Vielleicht war es Neugierde, Zufriedenheit. Schwer zu sagen. Aber vermutlich gar nichts - wie immer.
Nach zwei oder drei Minuten des Anstarrens griff ich zu dem Ding, das so aussah wie eine Kamera, bewegte meinen Körper in den Sucher und drückte ab. Klack!
Die Perspektive sprang in meinen Körper auf dem Feld zurück. Ich saß im vollen Bewusstsein aller Geschehnisse da und überlegte, was es zu bedeuten hatte. Auf jeden Fall hatte ich keine Lust mehr auf Marathon. Aber das war wohl eher eine Vernunftentscheidung. Der Mensch ist einfach nicht dafür gebaut, so lange so schnell zu laufen.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Rasmus Fuhse).
Der Beitrag wurde von Rasmus Fuhse auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.11.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Rasmus Fuhse als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Vom Leben umarmt von Celine Rosenkind



Dieses kleine Buch, welches im DIN A 5 Format erstellt wurde, soll dem Leser eine wichtige Botschaft überbringen: "Umarme das Leben und das Leben und das Leben umarmt Dich!" Ein Buch welches all die kleinen Alltäglichkeiten des Lebens beschreibt - halt erlebte kleine Geschichten.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Surrealismus" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Rasmus Fuhse

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die dunkle Seite des Milchreis von Rasmus Fuhse (Absurd)
Apfel „Z” – KEIN Königreich für ein Paralleluniverum ? von Egbert Schmitt (Surrealismus)
Teatro Politeama in Lissabon (Rua Portas de Sto.Antao 109) von Norbert Wittke (Reiseberichte)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen