Hermann Larsen

Halbmond

Plötzlich wachte Borghild auf. Sie überlegte, warum sie aufgewacht war. Ach so! In der Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Sie horchte in Richtung der Küche. Es war still. Es war zu still, und als sie mit der Hand über das Bett neben sich fuhr, fand sie es leer. Das war es, was es so besonders still gemacht hatte: Dürüms Atem fehlte. Borghild stand auf, schlüpfte in ihre Pantoffeln und tappte durch die dunkle Wohnung zur Küche. Dort sah sie, dass sich vor dem Kühlschrank etwas bewegte. Sie machte Licht. Die Neonröhre knackte zweimal und fing dann zu summen an. Dürüm hob seine linke Hand schützend vor die Augen. Er blinzelte und stand seltsam zusammengekrümmt in der Ecke. Die Küchenuhr zeigte halb drei. Borghild sah, dass sich Dürüm wieder eine Strumpfhose aus dem Wäschekorb genommen hatte. Ihre Strumpfhose. Blickdicht und ockerbraun. Er hielt sie hinter seinem Rücken. Ein Zipfel schaute hinter seinem marineblauen Pyjama hervor. Borghild fühlte, wie die Kälte der Fliesen langsam an ihr hoch kroch. Sie sah von der Strumpfhose weg. „Ich konnte nicht schlafen“, sagte Dürüm, auf seine nackten Füße starrend, „da habe ich ein bisschen aus dem Fenster geschaut. „Hast du Beschwerden?“ „Nein, nein, nichts Besonderes. Ich glaube, das liegt am Halbmond. Da kann ich dann manchmal nicht schlafen.“ Dürüm hob zögerlich den Kopf. Borghild bemerkte, wie jung er aussah. Sogar nachts in diesem unnachsichtigen Neonröhrenlicht. Er sah viel jünger aus, als er war. Fünfunddreißig. Sie sieht doch schon alt aus, dachte er, im Nachthemd sieht sie mindestens so alt aus, wie sie ist. Achtundsechzig. Aber das liegt vielleicht an der Frisur und den fehlenden Zähnen. Bei den Frauen liegt das nachts immer an der Frisur und den fehlenden Zähnen. Das macht dann auf einmal so alt. „Du hättest dir was anziehen sollen. So barfuss auf den kalten Fließen. Du erkältest dich noch.“ Sie sah ihn nicht an, weil sie wusste, dass er wusste, dass sie die Strumpfhose gesehen hatte. Sie ärgerte sich über sich selbst. Und über ihn, der sie in diese Situation gebracht hatte. Nachdem sie siebzehn Jahre verheiratet waren. „Oh, hier sind noch Krümel auf dem Tisch“, sagte Borghild und nahm sich einen Lappen aus der Spüle, um den Tisch abzuwischen. Als das getan war, schaute sie auf ihr Handgelenk, wo sich tagsüber ihre Armbanduhr befindet, und meinte: „Na, ich lege mich wieder hin. Ich bin ganz schön müde.“ „Ja, leg dich schon mal hin. Ich komme auch gleich.“ „Gut. Bis gleich also. Und zieh dir was an die Füße!“ Eine Viertelstunde später tappte Dürüm über den dunklen Korridor zum Schlafzimmer. Seine nackten Füße platschten auf den Fußboden. Borghild atmete absichtlich tief und gleichmäßig, damit er nicht merkte, dass sie noch wach war. Dürüm legte sich hin und fing nach kurzer Zeit an zu schnarchen. Sein Schnarchen war so regelmäßig, dass auch Borghild langsam davon einschlief.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.11.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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