Ralf Brandt

Vorausblickende Vergangenheit

33 Jahre. Verdammte 33 Jahre allein in dieser stinkenden Kammer.
Ohne dass ich je das Licht gesehen hätte, ohne dass ich je mich hätte weiter bewegen können als der Horizont dieses Gefängnisses es zuließ.
33 Jahre Einsamkeit. Dunkelheit. Depressionen.
Kann ich noch sprechen? Ich glaube es nicht. Und wozu? Niemand hört mir zu.
Und niemand will hören, was ich sage, schreie, weine.
Die Menschen meiden mich. Sollen sie. Ich meide sie auch.
Wenn da nicht das verfluchte Herz wäre. Dieser Bastard, der mir seit 33 Jahren weismachen will, ich käme ohne andere Menschen nicht zurecht.
Wozu, bitte, brauche ich Menschen, die mich nicht brauchen? Die mir ins Gesicht lächeln, aber nur mit dem Mund. Mit den Augen spucken sie auf mich. Zerreißen mich. Ich flehe sie an, mich allein zu lassen, stumm schreie ich. Doch niemand hört zu.
Hasse ich diese Welt? Hasse ich die Menschen?
Nein, ich glaube nicht. Ich erkenne ihre Unvollkommenheit, mit der kann ich leben.
Ich erkenne MEINE Unvollkommenheit - und das macht mich krank.
Die Unfähigkeit, mich zu artikulieren, die Unfähigkeit, in ein soziales Gefüge zu gehören, die ewig währende Tatsache, als Beobachtender am Rand zu stehen und nicht zu begreifen, wo der Sinn in all dem liegt. Im Arbeiten. Im Freunde gewinnen.
Im Lieben.
Emotionen. Wozu sind Emotionen notwendig. Sie sind abdingbar, sowohl bei der Ernährung als auch bei der Fortpflanzung, den Grundpfeilern des Lebens. Instinkte reichen.
Und doch hat uns die Natur, diese sarkastische Bestie, mit Gefühlen ausgestattet, die uns behindern, im ewigen Weg stehen, verblenden und unsachlich machen.
Wie wohl wäre mir, wenn ich mich besinnen könnte auf das Wesentliche, anstatt mich mit meinem Selbsthass auseinandersetzen zu müssen, anstatt mir selber hinterherzulaufen und zu brüllen "He! Wart doch mal! Dies ist der falsche Weg!"
Und doch - Erreiche ich die Vervollkommnung mit der Eliminierung meiner Emotionen?
Eher nicht. Gerade die Unvollkommenheit ist das Vollkommene am Menschen, gerade sie ist der Motor, der den Menschen vorantreibt; ohne emotionale Regung kein Streben nach Vervollkommnung.
Ohne Liebe kein Zweck.
Ohne Hass kein Grund.
Versuche, die Welt zu verstehen und du stößt auf nichts als Schweigen.
Gib den Versuch auf und integriere dich, und es erklärt sich von allein.
Es erscheint mir widersinnig, und dennoch bleibt nach Ausschluss aller anderen Möglichkeiten nur diese simple, irrationale Tatsache bestehen.
Dies gilt es, zu akzeptieren. Oder ich verbrüdere mich mit dem Wahnsinn und ignoriere die Gebote der Menschlichkeit als Mensch unter Menschen.
Erfolge definieren sich aus dem Ansehen der Gesellschaft, Errungenschaften, neue Gedanken - wertlos ohne Wertung.
So werde ich denn, den Selbsthass zum Konstruktiven nutzend statt zur Selbstvernichtung, weiterschreiten.
Und mit etwas Glück folgt mir jemand am Rande meiner Bahn und holt mich in seine Mitte.
Mit etwas Glück.
Und Liebe.

Nun, manchmal, vor allem in den dunkelsten Momenten, neigt man beinahe gezwungener Maßen zur Selbstreflexion, wohl weil alles andere im Begriff wäre, einen aufzufressen. Und tatsächlich kommt man von Zeit zu Zeit zu einem positiven oder wenigstens produktiven Schluss...so wie hier geschehen.
Ralf Brandt, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.11.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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