Marlene Wolfback

Der Tag an dem der Rock´n´Roll starb

Der Langhaarige sah sich um. Kopfschüttelnd, starrend, flach atmend, stumm. Da, wo einst der Wohnblock stand, in dem ein kleines Appartement sein zu Hause war, kündigte eine überdimensionale leuchtend-bunte Reklame die Tour eines gewissen Alexis an, der in einem lila-grün schimmernden Pailettenanzug von einer Bühne genau in die Augen seines Betrachters blickte. Daniel drehte seinen Kopf ein Stück seitlich damit seine Haare ihm nicht die Sicht nahmen, auf das, was er nicht verstand. Aus dem Augenwinkel blickte er auf das Plakat. Kein Haus, keine Wohnung, nicht Billie der auf ihn wartete um ihm freudig am Hosenbein hochzuspringen wenn er die Schwelle betrat. Und der Typ auf der Reklamewand schien ihn zu beobachten.
Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte, wo er hin sollte, was er überhaupt in dieser Welt, die seiner doch so gleich schien, machte. Beim Betreten des Bürgersteiges blinkte jede Platte auf die er betrat. Es war wie aus der TV Werbung, in der ein Baby mit den patschigen Fingern auf die milchig leuchtende Fläche tatscht. Und genauso hilflos wie das Baby fühlte er sich.
Es muss zwei Uhr nachts gewesen sein als er durch die Straßen der Stadt streifte, die so farbenfroh und lebendig schien, dass sie Daniel die Luft zum Atmen raubte. Was war aus dem Petrolia geworden, in dem er geboren wurde, aufgewachsen war, in dem er sein erstes Mal auf dem Rücksitz des Autos seine Bassisten hatte, mit einer attraktiven Schwarzhaarigen, die ihm einen wunderbaren Fick zu seinem sechzehnten Geburtstag schenkte..?
In einer Fast-Food Bude tanzte ein junges Mädchen mit auffallend lila gefärbten Haaren. Ihr Mp3-Player blinkte wie eins der Jojos, mit denen Daniel in seiner Kindheit gespielt hatte. Das Mädchen ließ einen roten Besenstiel zwischen ihren Beinen hindurch gleiten, machte eine obszöne Bewegung doch als sie ihren Blick auf Daniel richtete stockte sie und zeigte ihm mit wütendem Gesicht ihren Mittelfinger, auf dem ein dicker roasaner Plastering steckte.
Daniel spürte, wie die Energie in seine Glieder schoss, wie sich seine Fäuste ballten und wie sein Atem schneller ging. Seine Beine schoben ihn vom bunten Untergrund ab, er begann zu rennen, zu rennen, als wolle er in die Zeit zurückreisen und er wünschte sich wieder in seine Welt einzutauchen, in dem Black Sabbath - Poster die karge Wand besetzten, Stephen King Bücher in der Schrankwand einstaubten und seine Gitarre mit ihm das Bett teilte. Wie die schwarzen Tücher, die das grau seines Schrankes verhüllten trübten sich seine Augen. Als seine Knie nachgaben dröhnte „Blessed are you“ in seinen Ohren und als sein Kopf auf den silberfarbenen Bordstein aufschlug, blickte ein großer grauhaariger Mann an einem 24 Stunden Kiosk gegenüber vor seiner Zeitung hervor.

Der Langhaarige kam zu sich, es war nur eine Frage der Zeit, doch jetzt, vom Schweiß seiner Alpträume in eine verzehrende Hitze getaucht, schrie er auf und stieß hastig heiße Luft zwischen seinen Zähnen hervor.
„Ist alles o.k. mein Junge? Ich habe überlegt ob ich einen Doktor rufen sollte aber…“
Die sanfte Männerstimme die an Daniels Ohr drang ließ ihn erschaudern. Sie rief ihn in eine surreale Wirklichkeit und als er sich selbst fragen hörte, wo er sei, blickten seine Augen auf ein rotes Cupboard, auf der dutzende von schreiend bunten Platten standen. Das Erstarren des alten Mannes, der eben noch lächelnd und fürsorglich zu ihm sprach, und die plötzliche Stille ließen ihn eine Musik wahrnehmen, die er aus den Chartsshows kannte, die sein Vater moderierte. Qualvoll presste er die Hände auf seinen Kopf, der dem Druck nicht mehr standzuhalten drohte.
„Machen sie das aus!“ dröhnte in Daniels Kopf. Es waren seine eigenen Worte die zu einem Echo verschmolzen.
Mit einem Nicken löste sich der Alte aus seiner Betäubung. Er schippte zweimal und nun war in Daniels Kopf Stille eingetreten.
„Beruhigen sie sich, ich will ihnen nur helfen. Sie waren auf der Minogue-Avenue zusammengesunken und ich dachte ich….“
„Was ist hier los verdammt? Ich… Ich…“
Hektisch atmend packte Daniel die Bettdecke und schlug sie zur Seite. Als er sich aufrichtete rang ihn ein Dröhnen in seinem Kopf nieder.
„Sie brauchen Ruhe mein Freund. Ich werde später wiederkommen. Gehen sie nicht weg, vielleicht kann ich ihnen helfen.“ Sagte der Alte, dessen kalte blaue Augen funkelten.

Daniel erwachte, als er das gewaltige Aufschlagen einer Tür hörte. Seine Kopfschmerzen erschienen ihm gelindert zu sein und doch spürte er keine Kraft in seinen Venen. Als die Tür zu dem Zimmer in dem er sich befand aufgestoßen wurde und drei maskierte Männer ihn aus dem Bett zerrten war der Geruch des schwarzen Leders, aus dem der Handschuh, der in sein Gesicht gedrückt wurde, das letzte, das er wahrnahm.

Das Summen einer Fliege weckte Daniels unruhigen Schlaf. Er hatte geträumt, dass er flüchten musste, vor irgendetwas - lächerlich. Als er seine Augen aufschlug durchzuckte Angst seinen Körper. Er blickte an eine weiße Decke, unfähig sich zu bewegen. Wie besessen drückte er sein Kinn an seine Brust um zu sehen wo er war, doch außer einer weißen Wand und einer weißen Trage, einem weißen Nachthemd und weißen Lederriemen die sich um seine Schenkel und seinem Bauch schnürten konnte er nichts erkennen. War der Traum wahr?
„Lasst mich, ich will, lasst mich…raaaaaaaaus…Ich…“ Daniel schrie sich in eine Art Trance. Er starrte durch seine von Tränen verschleierten Augen, konnte nicht atmen und schrie doch weiter, bis eine blonde Frau in Schwesternuniform das Zimmer betrat.
„Ah, Mr. Arrington, haben wir uns erholt? Das war aber nicht nett, dass sie ihren Vater mit einer Truthahnschere erstechen wollten. Gar nicht nett. Und das zu Thanksgiving, ts ts ts. Aber man kann das ja auch verstehen, immerhin hat ihr Vater sie bloß gestellt.“ Sie pralle Blonde beugte sich über Daniel. Er wollte sich losreißen, sie wegstoßen und irgendwie hier raus, doch er konnte sich nicht wehren als die Spritze sich in seinen Arm bohrte.
„Und jetzt beruhigen wir uns wieder, Daniel, du wirst es sehen, bevor du stirbst, wirst du es lesen: ‚Letzter Aussätziger im Sterben - Matthew Arrington schafft endlich eine Welt ohne Gewalt und Drogen’. Und dein Vater hat Recht. Ihr möchtegern-Musiker werdet nicht mehr in die Köpfe der Jugend grölen können. Ihr werdet nicht mehr zum Boykott aufrufen, gegen eine Welt, in der alle zufrieden Dadapop hören und ihre Regierung unterstützen. Die Welt ist bereit für die Zukunft. Bye Dannyboy, sag dem Rock’n’Roll gute Nacht, die Zukunft wird Dada.“ Mit einem buhlerischen Lächeln und einem Augenaufschlag wendete sich die Blonde der Tür zu.
Als der Langhaargie einschlief verkündete die Regierung die Vernichtung aller Platten, auf der unkommerzielle Musiker ihre Hasstiraden verbreiten. Hunderte Aussätzige sollten noch gelehrt werden, ihre Überzeugung zu ändern und als Daniel Arrington, Sohn des mächtigsten Mannes der Welt seine Augen zum letzten Mal schloss, hingen an der weißen Wand gegenüber seines Bettes Fotos von der Exekution seines Bassisten Dave Marcum, seines Drummers Loyd Stratton und seiner Bumsfreundin Kyra, die Fuck-Dada-Shirts trugen, ihre Augen zum letzten Protest schwarz geschminkt hatten und deren Tattoos Geschichten von einer Welt erzählten, in der auch Daniel einmal gelebt hatte.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Marlene Wolfback).
Der Beitrag wurde von Marlene Wolfback auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.11.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Marlene Wolfback als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Flaschenpost ahoi! - Ein Bodenseekrimi für Kinder von Thurid Neumann



Dieses Buch ist Band 2 zu einer Bodensee-Krimi-Reihe für Kinder zwischen 6 und 12 Jahren. Nachdem die zwei Jungs und zwei Mädchen in den Sommerferien ein Jahr zuvor das Geheimnis um ein verschwundenes Testament und den Erben von Schloss Krähenstein aufgedeckt haben, retten sie dieses Jahr ein Mädchen aus den Fängen ihrer Entführer.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Mensch kontra Mensch" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Marlene Wolfback

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Nachtflug von Marlene Wolfback (Lebensgeschichten & Schicksale)
Unglaublich dreist von Rainer Tiemann (Mensch kontra Mensch)
Rettung unserer Katze von Paul Rudolf Uhl (Tiergeschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen