Steffen Kutzner

Kalte Tage

Derselbe namenlose Stau. An einem namenlosen Tag mit namenlosen Beteiligten. Aber natürlich waren es zum grössten Teil dieselben Beteiligten, wie jeden Morgen gegen acht, weil sich jeden Morgen um dieselbe Zeit ein Stau auf der Autobahn stadteinwärts bildete. Es ging nichts mehr, nicht vor, nicht zurück.

Anna Römer, 55, war Frührentnerin, Witwe und eine Passagierin des Busses 392 Richtung Stadtzentrum, der ebenso, wie alle Anderen an diesem Morgen ein Glied des Staus war. Anna Römer war seit zwei Jahren in Rente, stand aber jeden Früh um sieben auf, um in denselben Bus zu steigen, mit dem sie auch früher jeden Tag zur Arbeit gefahren war. Sie amüsierte sich so sehr über diesen Stau, und die naiven Leute, die glaubten morgens gegen acht einfach so in die Stadt kommen zu können, dass sie dieses Opfer auf sich nahm. Wahrscheinlich, so glaubte sie, war das aber nur eine Ausrede – eher wollte sie ihre Gewohnheiten nicht aufgeben.
Sie saß am linken Fenster des Busses, der auf der rechten der drei Fahrspuren stand und schaute gelassen auf die Autos. Sie fand es faszinierend, dass 50.000 Pendler seit Jahren jeden Morgen wieder aufgeregt feststellten, dass sich eben dieser Stau bildete. Sie war eine Zeit lang selbst mit dem Auto gefahren, gab aber nach kurzer Zeit auf, weil man jeden Tag neben etwa denselben Leuten stand. Da hinten stand dann der rote BMW mit dem griesgrämigen Fahrer, der gestern zwei Reihen vor einem stand und neben einem stand heute der alte Mazda, der gestern hinter dem LKW fest hing. Es ödete sie an. Anna sah lächelnd auf das hupende, schimpfende Meer von Autofahrern herab, die sich etwa 50 Zentimeter unter ihr befanden und beobachtete. Sie beobachtete gern. Dadurch versuchte sie ihre Autoaggressionen ab zubauen, die sich nach Jahren gebildet hatten, weil sie früher oft von ihrem Vater, einem Nazi und Perversem vergewaltigt worden war. Das lag schon Jahrzehnte zurück, aber sie hatte es natürlich nie vergessen.
Sie war einen typische nette, alte Dame mit krausem, grauen Haar, einer schmalen Brille und einem hellgrauen Faltenrock. Sie hatte immer ein sanftes Lächeln auf den Lippen und ihre gütigen Augen schauten vergnügt auf den still stehenden Verkehr. Sie liebte Dieses Chaos. Sie liebte es auch Theorien über die Leute anzustellen, die sie grade beobachtete. Sie war dann wie ein Schiff auf der Autobahn. Umgeben von Hektik segelte sie gelassen mit dem Wind in Richtung Stadt.
In diesem Moment beobachtete Anna eine junge Frau, die auf der linken Spur in einem pinken Seat Marbella saß und aufgeregt in ihrer ebenfalls pinken Handtasche kramte. „Vielleicht hatte sie ihre Brieftasche vergessen.“, dachte sie, aber denn entschied Anna, dass jemand mit rosafarbenem Nagellack in einem pinken Auto nicht nach einer Brieftasche sucht.
Sie lächelte etwas mehr, blickte zum Himmel und genoss den Augenblick.
Direkt neben dem Fenster von Anna Römer stand ein roter New Beetle, in dem Benjamin Ross, 23, saß. Er war einer der Leute die glaubten morgens um acht einfach so in die Stadt zu kommen. Benjamin ist ein schwuler Kunststudent, auf dem Weg zur Uni. Er wollte auf keinen Fall die Vorlesung über frühgotische Kunst in Kirchengebäuden verpassen. Dieses Thema interessierte ihn nicht, aber er fand den Lehrer, Herrn Paulis so anziehend. Er wusste, Herr Paulis war verheiratet, aber er gab die Hoffnung nie auf, jemanden zu finden, der mehr war, als ein One Night Stand, jemand, der sein Interesse für Kinder und Tiere teilte, jemand für die romantischen Abende. Ben pfiff leise vor sich hin, er war ausgeschlafen und bereit für einen neuen Tag. Er hatte sich vorgenommen, heute nach der Vorlesung zum Pult von Herrn Paulis zu gehen, ihm zu sagen, wie toll er seine Vorlesungen fand und ihn vielleicht zu einem Kaffee einzuladen.
Als aus dem Radio sein Lieblingssong tönte –Ginny come lately von Brian Hyland-, drehte er die Lautstärke auf, und begann laut mitzusingen. „Unter der Dusche und im Auto sind wir alle Weltstars.“, pflegte er zu sagen. Er verstummte, als plötzlich ein alter Mann neben seinem Fenster auftauchte.
Direkt vor ihm, auf der mittleren Spur, thronte Micheal McAndrews. Der Sohn eines Iren und einer Amerikanerin war das, was man als „Pseudo-Elvis“ bezeichnete. Er trug Schlangenlederstiefel mit Sporen und einen Texas-Hut nebst Goldkettchen, dass kalt auf seiner behaarten Brust lag. Sein geschmackloses Hemd war bis auf die untersten vier Knöpfe geöffnet. Sein Irish Pub, war vor Wochen pleite gegangen. Daraufhin hatte er sein Mercedes Cabrio, in dem er grade saß, bei E-Bay versteigert, sich von dem Geld ein Flugticket nach Irland gekauft und war jetzt auf dem Weg zum Flughafen. Seinen Wagen, den er natürlich an den Käufer gegeben hatte, wollte Micheal einfach am Flughafen abstellen. Irgendjemand würde ihn schon klauen und dann konnte er die Versicherungssumme einheimsen, solange niemand was von der offenen Lieferung bei E-Bay mit bekam. Das alles funktionierte aber nur, wenn er seinen Flug um 08.33 Uhr erwischte. Seine Sonnenbrille, die er immer, auch nachts trug, verbarg seine halb zusammen gekniffenen Augen und der Zahnstocher, den er im Mundwinkel hängen hatte, erinnerte an die alten Western-Schauspieler der siebziger. Aber das alles war ihm eigentlich egal – alles, was ihm wichtig war verbarg er unter seinem Hut: eine Rock´n´Roll Tolle, die er jeden früh in Kleinstarbeit zurechtrückte. Selbst der King selbst hätte es nicht perfekter haben können. Sein rechter Arm war um die Kopfstütze des Beifahrersitzes geschlungen und sein linker Arm hing an der Fahrertür runter. Johnny Cash plärrte irgendeinen Song aus dem Radio. Micheal rutschte etwas tiefer in den Sitz, saß so breitbeinig da, wie es ihm möglich war und begann auf dem Zahnstocher zu kauen. Seine monstermässige Gürtelschnalle glitzerte im faden Licht des Morgens. Als das Arschloch hinter ihm einen Schmalzsong aus den dunklen Zeiten, der leuchtenden 50er aufdrehte, trat er die Kupplung und begann verschwenderisch mit dem Gaspedal zu spielen.
Links von Benjamin und Micheal, auf der linken Spur, stand Patrizia Becker. Sie war die junge Frau in dem pinken Seat, die Anna gleich beobachten würde. Sie war ein angehendes Model von 20 Jahren. Patrizia spielte mit ihren wasserstoffblonden Löckchen, kaute Kaugummi, machte Blasen und wackelte mit dem Kopf zum Takt der Musik. Bei ihr lief „It´s my Party“ von Lesley Gore. Ihr linker Fuß, der ebenfalls im Takt der Musik wippte, hatte rosa lackierte Zehnägel, genauso wie ihr anderer Fuß und ihre Fingernägel. Sie hatte eine helle, fast nervende Stimme und nicht sehr viel Intelligenz, aber sie war charmant, hilfsbereit und liebenswert. Ihr „Tanz“ erstarrte jäh, als ihr auffiel, dass am rechten Ringfinger etwas Nagellack abgeplatzt war. Sie starrte schockiert auf den Finger und flüsterte ein verzweifeltes „Oh nein!“ in den Raum ihres kleinen Wagens. Sie beugte sich rüber zum Beifahrersitz, krallte sich ihre (pinke) Handtasche und begann hektisch nach einem Fläschchen Nagellack zu suchen. Aber alles was sie fand war eine Schatulle mit Puder und Lidschatten und ein Kondom. Patrizia war enttäuscht. Der Tag war für sie gelaufen. Sie stellte das Radio aus, knallte ihre Handtasche auf den Beifahrersitz und begann genervt zu hupen.
Hinter ihr schwitzte Richard Braun, 49. Sein dunkelbrauner Volvo, älter als die Steinkohle und ebenso reif zur Verschrottung, stotterte zufrieden vor sich hin. Richard war ein leicht übergewichtiger, nervöser Werbemanager. Er musste in 16 Minuten bei einem Meeting sein, von dem er sich eine Beförderung erhoffte. Das Konzept, dass er sich ausgedacht hatte, sollte die Umsatzzahlen von Schokoriegeln steigern. Nicht dass das nötig gewesen wäre, aber Richard hatte es sich in den Kopf gesetzt. Und was er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, war erst wieder verschwunden, wenn er seinen Plan umgesetzt und durchgesetzt hatte. Auf seinem Beifahrersitz lagen diverse Pläne und grosse Papierrollen, die die Grundlage seiner Präsentation waren. Der hektische Workaholic hupte schon die ganze Zeit energisch. Er zottelte ein Taschentuch aus seiner Blue-Jeans und tupfte sich den Schweiss von der Stirn. Seit er vor 45 Minuten losgefahren war, hatte er nur an die Präsentation gedacht. Sie könnte ein Wendepunkt in seinem Leben werden. Und zwar dieses Mal zum Guten. Er kurbelte das Fenster runter, warf das Taschentuch zwischen die Leitplanken und schloss kurz die Augen, als ein kühler Wind über sein Gesicht wehte. Es war Mai, aber der Wind schien noch von April oder März zu sein. Ein angenehmer Schauer lief ihm über den Rücken. Aber selbst dieser Windhauch ärgerte ihn, weil er vor einiger Zeit ein Mercedes Cabrio bei E-Bay ersteigert hatte und der Verkäufer hatte sich seit Ende der Auktion nicht mehr gemeldet. Er hätte einfach das Verdeck runter geklappt und die kühle Brise am ganzen Körper gespürt. Es musste so ähnlich aussehen, wie das da vorne, vor dem VW. Er hupte weiter.
Rechts neben ihm, hinter Benjamin, hockte Hans-Erich Mittenberg und frohlockte. Er hatte keinen Grund sich auf zuregen. Die geile Blonde in dem rosa Kleinwagen hatte sich so fantastisch Richtung Beifahrertür gebeugt, dass Erich ihr Dekoltee in ihrem Rückspiegel sehen konnte. Was für ein Anblick. Der 82-jährige spürte die Erregung in seiner braunen Corthose. Er war auf dem Weg zu seinem Sohn, Albert Paulis. Er wollte ihm ein letztes Angebot machen, die Familienehre zu retten. Sein Sohn war damals mit so einer jüdischen Schlampe durchgebrannt, hatte ihren Namen angenommen und unterrichtete jetzt nach seinem Wissen an der Universität in der Stadt vor ihm. Er hatte vergessen, wie sie hiess (sowohl die Uni, als auch die Stadt), aber es spielte auch keine Rolle. Wenn Albert sich von seiner Frau scheiden liess und zurück kam, würde Erich ihm sein ganzes Vermögen vermachen. Wenn nicht, würde er es der Wohlfahrt geben. Seine Tochter, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit der geilen Hure vor ihm hatte, war als sie 18 wurde ausgezogen und hatte gedroht ihn anzuzeigen, wenn er jemals wieder in ihre Nähe käme. Erich hatte sich oft an ihr vergangen, aber im Alter, so glaubte er, spielten die Sünden der Vergangenheit keine Rolle mehr und werden vergeben und vergessen. „Vergeben und vergessen“ war einer seiner Lieblingsausdrücke. Er starrte die Blonde weiter an. Vor Erregung ergoss sich ein wenig Urin in seine Hose. Soviel sexuelles Verlangen hatte er nicht mehr gespürt seit die Sache mit seiner Frau vorbei war. Sie stand nicht auf seine Sadomaso-Spiele, aber er wollte nicht darauf verzichten und so hatte er sie vor über 35 Jahren im Keller des Hauses erwürgt. Er hatte einfach eine Saite aus ihrem heiligen Flügel im Wohnzimmer gerissen und es getan. Dabei war in ihm eine solche Lust aufgestiegen, dass er die Leiche seiner Frau mit Wachs konservierte und ihre Haare, die ihr mit der Zeit ausfielen, durch Klaviersaiten ersetzte. Er liebte es sie an einem riesigen Holzkreuz, dass er sich im Krieg gebaut hatte,! aufzuknüpfen und sich mit Spiritus anzuzünden. Das liebte er noch immer, aber im Laufe der Zeit wurde er immer unbeweglicher und der Kanister wurde immer schwerer. Seine Frau verbrannte er in einer gewaltigen Zeremonie, als der Geruch zu widerlich wurde. Seine Tochter war kurz vorher ausgezogen, daher musste er seine ganzen Triebe an seiner Frau auslassen. Jetzt wurde ihm so heiss, dass aus seinem grauen 1944er Mercedes, der angeblich mal Hitler gehört haben soll, ausstieg. Er machte sich auf den Weg zu der Blondine. Der arischen Hure wollte er zeigen wo der Hammer hängt. Es war Zeit für etwas Disziplin...

Anna riss ihren Kopf zur Seite, als sie glaubte, im Augenwinkel ihren Vater gesehen zu haben. Im selben Moment krümmte sich Richard Braun in seinem Wagen, als er einen Schlaganfall erlitt und Micheal McAndrews zog sich einen Splitter seines Zahnstochers in die Zunge. Wenige Sekunden danach wurde es plötzlich sehr warm.

Der junge Türke, der an diesem Morgen hinter Anna Platz genommen hatte, war frisch geduscht und roch nach einem intensiven Deo. Er hatte seine Fingernägel geschnitten, seine Tasche genommen und nachdem er sein Ticket bezahlt hatte, setzte er sich auf einen freien Platz. Jetzt stand er im Stau und begann zu schwitzen. Er wollte nicht schwitzen. Er musste gut riechen. Schliesslich warteten 40 Jungfrauen auf ihn! Die ältere Dame vor ihm riss plötzlich ihren Kopf zu Seite, als ein alter Mann über die Strasse ging. „Es ist Zeit.“, dachte der Türke.

Steffen Kutzner

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.11.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Langsam gehe ich auf das sechzigste Lebensjahr zu. Da hinter mir nahezu jede emotionale Erinnerung »verschwindet«, besitze ich keinerlei sichtbare Erinnerung! Vieles von dem, was ich Ihnen aus meinem Leben berichte, beruht auf alten Notizen, Erinnerungen meiner Frau und meiner Mutter oder vielleicht auch auf sogenannten »falschen Erinnerungen«. Ich selbst erinnere mich nicht an meine Kindheit, Jugend, nicht an meine Heirat und auch nicht an andere hochemotionale Ereignisse, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin.

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