Keno tom Brooks

Tote Kinder

Ich hatte mich an die hinterste Ecke des Tresen gesetzt, ganz an der Wand, wo das Licht nur noch schwach und zögernd die dreckigen Ritze und Furchen der Theke beleuchtete. Ich saß dort, mein Buch mit den vielen leeren Seiten aufgeschlagen, ein Weizenbier vor mir und drehte den Kugelschreiber zwischen den Fingern.
»BROOKS, du sitzt hier wie einer, der´s aufgegeben hat,« dachte ich mir und nahm einen ordentlichen Schluck.
»NEIN, BROOKS, DU BIST EINER DERS AUFGEGEBEN HAT! Alle Träume, alle Verlangen, alle Versprechen, alle Normen und Kontrollen. Alle Wünsche, Vorstellungen, Ideale. Vogelfrei und unsterblich. Unabhängig, unerpressbar, ohne Verantwortung, Heimat, Heim, Familie. Ich hab´ den ethisch-moralischen Errungenschaften unserer zweifelhaften Zivilisation den Rücken gekehrt. Der Versuch, ihnen nachzuhetzen ist kläglich gescheitert. Gescheitert am Menschsein. Ich sitze hier und weiß, das nichts mehr zu ändern ist. Der Leben ist ein gleichmäßiger Fluss hinab ins große Meer. Liebe, Freundschaft, Vertrauen, Verlässlichkeit. Alles nur Worte per definitionem. Jeder hat seinen eigenen Begriff, seine eigene Vorstellung und seine eigene Illusion dieser Worte und ihrer Bedeutung. Jeder lebt seine eigene Wahrheit. Sie ist ein subjektiver Strom von persönlichen Ereignissen. Verfälscht, verschönt, stellenweise durch die nebelige Lupe betrachtet, fokussierend unwirklich. Gemeinsamkeit aller, die keine Gemeinsamkeiten haben. Unendlichkeit der Endlichen.«

Ich beginne den Kampf mit der Leere des Papiers.

Ich habe in einer Burg hoch oben über einer alten Stadt gewohnt. In einer mächtigen, großen Stadt mit hohen, kunstvoll verzierten Häusern, die von Macht und Reichtum erzählen. Einer Stadt mit hohen, wehrhaften Türmen und großen, weiten Plätzen über die der kühle Abendwind in die Gasen weht und alles schlechte mit sich nimmt. Einer prächtigen Stadt, umgeben von wehrhaften hohen Mauern. Unerstürmt und nie erobert. Ich war immer allein in dieser Stadt. Ich war zufrieden in dieser Stadt. Viele versuchten, sie zu erobern, aber ich stand nur lachend auf den Zinnen und sah amüsiert den vergeblichen Bemühungen der Belagerer mit ihren Schleudern und Kanonen zu, deren Geschosse und Ansturm wirkungslos an den Grundfesten zerschellte. Bis eines Tages ein Mädchen vor diesen Mauern stand und Zauberworte murmelte, die ich noch nie gehört habe und Stück für Stück lösten sich die Mauern in Nichts auf. Die Türme verschwanden und die schweren Tore öffneten sich. Die Menschen vor der Stadt strömten hinein und Plätze und Straßen, Häuser und Geschäfte füllten sich mit buntem, lautem Leben und mit kindlicher Freude.
Bunte Stoffe wehten vor den Fenstern und wo das Mädchen ging, blühten Blumen und die Bäume wurden grün. Ich lernte viel von diesem Mädchen, hörte ihr zu. Wie ein Traumwandler ging ich durch meine Stadt, die bunt und laut und fröhlich um mich herum sang und tanzte. Trunken von Glück und Faszination taumelte ich durch die Strassen, trank Wein an den Ständen, tanzte und lachte mit den Menschen zu den Klängen der Musik. Tagelang, Nächtelang. Ich berauschte mich an dem Leben, an seiner Energie, dem Adrenalin des Bewusstseins. Und vergaß das Mädchen, das meine Stadt mit ihrem Lachen und ihrem Blick verzaubert hatte. Vergaß das Mädchen, das all´ dies für mich geschaffen hatte.
Eines morgens wachte ich auf und hörte die Stille, die mich umfing. Eine vollständige, dickflüssige, spürbare Stille. Ich blickte hinaus und sah eine leere, verlassene, graue Stadt unter mir. Die Blumen waren verblüht und welkten, die Bäume verloren ihre Blätter im Wind. Die Brunnen waren versiegt, die Plätze verweist. Die Häuser sahen mich traurig und vorwurfsvoll aus ihren schwarzen, gähnenden Höhlen an. Kein Ton drang an mein Ohr.
Sie war weg. Gegangen in der Nacht und ließ mich in meiner wehrlosen einsamen Stadt zurück.
Früher war ich glücklich in dieser Stadt, weil ich sie nicht anders kannte als verlassen, grau, kalt und leer.
Heute ist nur noch ein trübes Bild von ehemaliger Schönheit und pulsierendem Leben in meinen verblassenden Erinnerungen. Heute laufe ich Tag und Nacht durch die leeren Gassen, unruhig, einsam, allein. Manchmal steige ich die Stufen des neuen Turmes empor und schaue über die Mauern der Stadt, die mächtiger und stärker sind, als je zuvor. Ich stehe dort oben, schaue in die Ferne und warte.
Ich lese die Zeilen nochmal. »BROOKS, du wirst im Alter ein sentimentaler, weicher Märchenerzähler,« denke ich und blicke von den wenigen Zeilen in meinem Buch zu Kaamel hinter der Theke, der mit seinen immer gleichförmigen Bewegungen und den immer gleichen Sätzen in seinem Universum glücklich zu sein scheint. Glas hoch, zapfen, abstellen, Kasse, tippen, freundlich lächeln, Bier auf die Theke, Strich auf den Deckel. Weiter. Weiter. Weiter. Bis zum Feierabend. Ich bestelle einen Caiphiriña und er nickt nur kurz.
Er scheint seine innere Kraft aus dieser Gleichförmigkeit zu ziehen. Keine überflüssigen Bewegungen. Sparsam mit der Lebensenergie. Vielleicht ist er schon drüber weg. hat´s schon lange aufgegeben, schon drüben in Ägypten. Vielleicht hat er schon längst eine Kugel im Kopf und vergessen zu sterben? Übrig geblieben. Leben aus Versehen. Vergessen von Zeit und Raum, die sein Körper noch fühlt. Sein Geist erstarrt. Hat er sich je gefragt nach den Zielen in seinem Leben? Hatte er je eines? Aus den Augen. Verloren, Vergessen. Versandet im Strom des Tuns und Seins. Irgendwo hat ihn das Lebensmeer wieder an den Strand zurückgeworfen! Immer wieder, bis er erschöpft liegenblieb! Kaamel stellt meinen Caiphiriña wortlos vor mich auf die Theke und nimmt das leere Weizenglas mit. Ich nahm den Strohhalm raus und dachte unwillkürlich an Hemmingway.
»BROOKS, das einzig vernünftige, was der getan hat, war saufen, ein paar arroganten Arschlöchern eins auszuwischen und sich eine Kugel in den Kopf zu jagen. PROST ERNIE!«

Was hält einen am Leben? Das einzige, was einen treibt, ist, Dinge haben zu wollen, die niemand braucht und nicht das zu bekommen, was jeder bereits hat. MTV, Modezeitschriften, Werbung. Plastikwelt. Frauenbewegung, Gleichberechtigung, Quoten. Ins Aus geschossen. Selbstverwirklichung, Töpferkurs, Karate und Fussball. Kleine Fluchten. Geld, Ruhm, Macht.

Tote Kinder.

Was zählt? Was ist wirklich? Was ist wichtig, richtig und gut? Welche oder wessen Ralität ist tatsächlich? Nach welchen Regeln leben wir? Unseren eigenen, den der anderen? Den der Werbung oder der Staatspropaganda? Welche Verlangen und Lüste sind deine, welche die illusionären Visionen anderer?
»BROOKS, das ist alles Quatsch. Du fühlst das Papier unter deinen Händen, du hörst die Musik in deinen Ohren, riechst den süßlichen Geruch von Limetten, siehst die Menschen an der Theke stehen.«
Simulation. Vorbereitung. Welt am Draht. Matrix. Wahrheiten ohne Wahrheit, Inhalte ohne Inhalte, Sein ohne Sein. Was war dein Antlitz vor der Geburt deiner Eltern? Bodenlosigkeit tut sich auf. Fallen durch glatte Röhren. Fässer ohne Deckel und Böden. Endlosigkeit. Nachdenklichkeit endlos.ig nachlaufen. Ein Leben lang den Geistern und Gespenstern der wahren Welt nachlaufen. Den Götzen und Dämonen der Echtzeit. Den Zauberern und Wunderheilern des Jetzt und Hier.

»BROOKS, du bist ein hirnloser Affe!«

Ich trank den Rest von meinem Caiphiriña und bestellte noch einen. Was schreibe ich da eigentlich? Existenzialismus? Nein. Frozen Man Syndrome! Aufgegeben. Das schwimmen gegen den Strom ist zu anstrengend, wenn die Masse einen hinabdrückt, schiebt und in tiefe Strudel zieht. Vielleicht sollte man nicht mehr in der Mitte schwimmen. Eine seichte Strömung bergauf suchen. Nicht mehr mit denen reden, die brüllend miteinander zu Tal stürzen sondern langsam und einsam am Rande Kreise ziehen. Die, die mit dir schwimmen sind zu leise, zu beschäftigt, dich zu hören oder selbst zu sprechen. Einsamkeit. Das Leben rauscht an dir vorbei und du siehst aus der Ferne, vom Rande, unbetroffen und aus der Stille heraus zu. Der Strom, der aus dem Anfang kommt und im Nichts endet trägt sie fort. Rasend mitschwimmend. Fortgerissen. Schneller und schneller. Dann: das Meer. Auflösung.
Kaamel stellte noch einen Caiphiriña vor mich hin. Diesmal ließ er den Strohhalm gleich weg. Langsam füllte sich die Bar. Es war fünf oder sechs Uhr. Zu früh für die meisten, sich Gedanken zu machen. Einsame Herzen sitzen fett und drall geschminkt an der Theke und an den Tischen. Blinzelnder Augenaufschlag, Wangenglühn, Lippen zittern. Häßliche Kerle mit Bierschaum in den Bärten sind entzückt, haarige Hände greifen nach Weizenbier mit Bananensaft und lächeln zurück in die maskenhaften Fresken der Übriggebliebenen. Orangenhaut und Froschkönigsyndrom gegen Oberlippenbart und Bierbauch. Schicki-Micki in Wurtsfetthausen. Deutsche Kleinstadt im Würgereiz. Stromlinie. Bergab.
Ich kippe meinen Caiphiriña.
»Kaamel, noch einen für den guten alten BROOKS!«
Kaamel nickt mit erhobenem Haupt aus dem Strom heraus, während er an mir vorbei in die Endlosigkeit treibt.
Alkohol hilft nur kurz, die Wogen zu glätten. Schreiben. Schreiben ist das schwimmen heraus aus dem Strom in ruhige Zonen, in Nebenarme. Schreiben, bis die Seele glüht, bis der Kopf leer ist. Schreiben, bis ich mit dem Stift in der verkrampften Hand einschlafe. Schreiben ist die Freiheit, die ich nicht aufgebe, so lange ich atme. Uneinschränkbar von Ethik, Tradition, Gewohnheit. Schreiben ist das Fliegen über dem Fluss. Sich niemals dem Mittelmass und der Masse beugen, niemals der Allgemeinheit nachgeben, dem Konsens folgen. Keine Kompromisse, kein Erbarmen. Never surrender.
»HÖSCHT« Ich trank das Glas aus und schaute auf die glitzernden Stückchen Eis. »Sogar bis in dich hinein verfolgt dich die wässrige Mittelmässigkeit.«
Ich schreibe mehr als ich denken kann und denke schneller als ich schreiben kann. Ich denke an Verzweiflung, Selbstgerechtigkeit, Arroganz, Stolz Mut, Schwachsinn.

»Menschen ändern sich ständig!«

Platitüden vom Nebentisch.

»Kaamel, Caiphiriña!«

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.11.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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