Brigitta Firmenich

Kristina

Kristina

Kristina sehnte sich nach Wärme und der Leichtigkeit des einfachen Lebens. Wenn sie auf ihrer Lieblingsinsel im Süden ankam, ließ sie alle Probleme hinter sich. Das Hotel, in dem sie Jahr für Jahr ihren Urlaub verbrachte, lag inmitten einer großen Bananenplantage, die sich fast bis zum Meer erstreckte. Kristina spazierte gleich nach ihrer Ankunft durch die Anlage. Sie begrüßte den warmen Wind, der durch ihre dunklen, langen Haare wehte und ihre Haut prickeln ließ, atmete die Salzluft genießerisch ein und fühlte sich jung und lebensfroh. Ihr allabendlicher Spaziergang führte sie zu einem schmalen Pfad, der am steilen Felshang oberhalb des Meeres entlangführte. Vom Abgrund trennte sie nur ein niedriges, weißgetünchtes Mäuerchen. Sie nahm auf ihrem Weg die Schönheiten der Landschaft in sich auf, streckte schnuppernd die Nase in die Luft, um den süßen Duft der Gräser und Büsche aufzunehmen.

Sie sah zum Himmel hinauf, der ihr in seinem tiefen Blau unendlich erschien. Einige weiße Wolken ließen sich sanft im leichten Wind treiben. Auf den Felsen sonnten sich Eidechsen, die in Ritzen der zugemauerten Höhleneingänge verschwanden. Kristina vermutete hinter den Nischen Höhlen der Ureinwohner. Dunkle Rauchspuren waren an den oberen Felsrand gezeichnet und die dunklen Muster schienen noch heute die frühere Anwesenheit von Menschen an diesem Ort zu bekunden. Die spanischen Eroberer hatten die Insel gewaltsam eingenommen und fast alles, was an die Ureinwohner erinnerte, vernichtet. Kristina konnte jedoch am steilabfallenden Hang zum Meer hin noch Terrassen erkennen, auf denen zu früherer Zeit Getreide, Gemüse und Obst angebaut worden war und auf denen nun wilde Blumen und Büsche in allen Farben wuchsen.
Wenn das Meer ruhig war, konnte sie im Wasser die Fortführung der Terrassen erkennen. An anderen Stellen fiel die Felswand fast senkrecht ab. Sie schaute zum Meer hinunter und erschauderte, fühlte sich von diesem Anblick trotzdem magisch angezogen. Die anbrandenden Wassermassen schleuderten Gischtfontänen hoch. Kristina ging langsam weiter. Die Sonne stand noch ziemlich hoch, als sie die Stelle erreichte, wo der schmale Pfad sich zu einem kleinen Platz erweiterte. Sie lehnte sich mit dem Rücken an den Fels, sah auf die niedrige Mauer, die den Weg vom Abgrund trennte. Gedankenvoll sah sie in die Ferne. Riesige Ozeanschiffe wirkten klein wie Spielzeugboote am Horizont und sie begriff, wie klein Menschen und Dinge sind. Sie wurde ganz ruhig. Der weite Himmel spannte sein blaues Zelt über Land und Meer. Einige weiße Wolken, die am Horizont zu einem Band verschmolzen, unterbrachen das tiefe Azur. Die große Sonne schien zum Anpacken nah. Als sie mit großer Geschwindigkeit dem Horizont zusank, war sie einen Moment lang eingewickelt in das Wolkenband, dann zwängte sie sich hindurch. Sie glühte noch einmal auf, als sie das Meer zu berühren schien, um im nächsten Augenblick am Horizont zu erlöschen. Ganz in diesen Anblick versunken saß Kristina da, traumhaft weit entfernt. Sie hatte ihre Sandalen ausgezogen und es war ihr, als entstiegen der Erde, die sie mit ihren nackten Füßen berührte, uralte Bilder. Sie konnte sich nicht von der Stelle losreißen, empfand zugleich Schwäche und eine neue prickelnde Stärke. Der Wind war stärker geworden. Kristina zog sich ihre Jacke an und setzte sich auf die warmen Mauersteine, die die Wärme des Tages gespeichert hatten und sie nun, einem Ofen gleich, wieder abgaben.

Plötzlich sah sie sich aufrecht auf einem großen Stein am Rande des Terrassenfeldes sitzen. Sie hatte als junge Bäuerin Feldarbeit fast beendet und war erschöpft. Überall um sie herum waren fröhlich schwatzende und singende Menschen, die die Felder mit einfachem Werkzeug bearbeiteten. Es war Herbst und die Sonne schien mild. Der kräftige Wind zauste die blonden Haare der großgewachsenen Menschen. Ein muskulöser junger Mann mit blauen Augen kam gerade auf sie zu. Er sah, daß sie müde war und bat sie, sich nicht zu überanstrengen. Aber nach einer Weile stand sie etwas schwerfällig auf und ging wieder auf´s Feld. Leicht gebeugt bearbeitete sie mit einem hölzernen Grabstock, an dessen unterem Ende eine Steinspitze angebunden war, das Erdreich. Sie war hochschwanger und es konnte nicht mehr lange dauern bis zur Geburt ihres ersten Kindes. Als es bereits dämmerte, ging sie mit dem Mann zu einer der Höhlen, die oberhalb der Felder waren. Dort wohnten sie, zusammen mit Schafen, Ziegen und Schweinen. An kühleren Tagen sorgten die Tiere für Wärme. Draußen war ein Hund angebunden, der sie laut bellend begrüßte. Die Tiere verlangten ihr Futter und sie versorgten sie. Die Frau legte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Bettstatt aus Stroh.

In der Mitte der Höhle war eine Feuerstelle, deren Rauchabzug im einem Spalt hoch oben im Fels war. Der Mann hatte Dung und Stroh angezündet. Das Feuer züngelte gierig an der aufgestapelten Nahrung. Über der Feuerstelle hing ein großer Topf, in dem nach einiger Zeit das Wasser zu brodeln begann. Der reißende Wehenschmerz wurde heftiger und der junge Mann rief nach der Hebamme, die bei der Geburt helfen sollte. Eine zerknitterte alte Frau kam in Begleitung einer jungen, die den Beruf von ihr erlernte. Der junge Mann ging aus der Höhle und überließ den Frauen die Arbeit. Als kurze Zeit später laute Schmerzensschreie nach draußen drangen, gefolgt von der kräftigen Stimme eines Neugeborenen, rief die Alte den Vater des Kindes und zeigte dem strahlenden Mann seine Tochter. Er hatte sich zwar als erstes Kind einen Sohn gewünscht, freute sich jedoch genauso über ein gesundes Mädchen. Voller Dankbarkeit kniete er sich nieder und stimmte Dankgesänge an. Sie waren an die Gottheit “Achaman“, dem Himmelsgebieter sowie an Sonne und Mond und Sterne gerichtet.
Am nächsten Tag kamen die Nachbarn in die Höhle, bewunderten die Schönheit und Kraft des Kindes und brachten Speise und Trank als Geschenke mit. Hungrig stürzten sich die jungen Eltern auf den mitgebrachten “gofio“, eine Speise aus geröstetem Gerstenmehl. Lachen und Gesang schallten schon bald aus der Höhle und der ganze Stamm feierte den Zuwachs. Die Eltern des Kindes waren begierig zu wissen, was aus ihm einmal werden würde, welche Zukunft es hätte. Deshalb gingen sie an einem der folgenden Tage, wie es alter Brauch war, zur Seherin des Stammes, die zugleich Heilerin war. Die Seherin sah das Kind lange aufmerksam an, sah, daß es gesund war und wollte seine Zukunft voraussagen. Deshalb warf sie Steinchen und Knöchelchen in die Luft, die auf der Erde angekommen ein Bild ergaben, das sie deuten konnte. Was sie sah, war so schrecklich, daß sie es den Eltern nicht sagen konnte. Sie schickte sie wieder weg, sie sollten später noch einmal wiederkommen, wenn das Kind ein wenig älter sei. Sie sagte ihnen, daß der Mond nicht günstig stünde und sie deshalb im Moment keine klare Aussage machen könne. Sie wußte sofort, daß in dem entsetzlichen Bild, das sie gesehen hatte, der Untergang ihres Volkes besiegelt war. Es kam ihr vor, wie eine Vertreibung aus dem Paradies. Aber sie wollte es nicht glauben, versuchte es wieder und wieder, wollte etwas anderes sehen, das Unheil abwenden, Glück herbeizwingen. Und doch sah sie immer wieder das Gleiche. Blut. Viel Blut würde fließen. Diese Schreckensbotschaft überbrachte sie sofort dem Stammesfürsten, dem “Mencey“. Sie warnte ihn vor einem fremden Volk, das versuchen würde, das Land zu erobern und riet ihm, das Volk in die Berge ziehen zu lassen. Es war für den Stammesfürsten nicht leicht, diesem Rat zu folgen. Denn dort, wo sie lebten, gab es das fruchtbarste Land der ganzen Insel. Die Winde des Atlantiks brachten den Regen, der sich vor dem hohen Bergrücken ausregnete und die Glut der Sommersonne wurde durch den Wind gemildert. Wenn sein Volk in eine andere Gegend ziehen würde, müßten sie alles hinter sich lassen, was ihnen Nahrung gab. Aber die weise Frau riet noch einmal eindringlich zur Flucht. Denn sie hatte in ihrer Vision gesehen, daß das fremde Volk Waffen hatte, die man auf der Insel nicht kannte und daß das Blutvergießen kein Ende nehmen würde. Jeder Junge, der eine Waffe halten konnte und jeder gesunde Mann mußte bleiben. Sie wurden alle zur Verteidigung des Landes gebraucht. Schweren Herzens beschloß der “Mencey“, die Frauen und Kinder in Begleitung von wenigen alten Männern auf die lange beschwerliche Wanderung nach Masca zu schicken.

Es würde sicher Wochen dauern, bis sie dort angekommen wären, wenn sie es überhaupt lebend erreichten, vielleicht halb verhungert, mit blutigen Füßen und zerfetzter Kleidung. Aber wenn sie Masca erreicht hätten, wären sie in Sicherheit. Abgeschieden, in einem schwer zugänglichen Gebirgstal, lag dieser Ort, weit genug weg vom Orotavatal, in dem die Seherin die blutigen Kämpfe gesehen hatte. Die meisten Angehörigen des Stammes waren Bauern und Hirten. Ihnen blieb kaum eine Chance, mit ihren einfachen Werkzeugen den Feind, der das Land schon auf der anderen Seite einzunehmen versuchte, zu besiegen. Aber sie würden sich wehren. Sie würden sich mit den anderen Stämmen im Kampf gegen den Gegner zusammentun und die kleine Armee der Krieger unterstützen. Denn sie würden sich nicht bedingungslos dem Eindringling ausliefern, würden sich nicht der Religion und den Bräuchen dieser Menschen unterwerfen wollen. Und dann war es am Eingang des breiten Tales zum fürchterlichen Kampf gekommen. Obwohl sie ortskundig waren und der Gegner manche Einbußen hatte, war das Glück nicht auf ihrer Seite. Sie hatten noch nie so entsetzliche Waffen gesehen und sie erlitten vernichtende Verluste. Nachdem der Feind mehr als 2000 Einheimische getötet hatte, stürzten sich einige der Inselherrscher vor Verzweiflung ins Meer, nur wenige unterwarfen sich den Siegern.

Vor Schreck kam Kristina wieder zu sich. Was war nur passiert? Sie saß noch immer auf dem Mäuerchen. Die Sonne war schon lange untergegangen, die Nacht mit ihrer glänzenden Schwärze, die vom Wasser erhellt wurde, hatte Einzug gehalten. Da mußte sie doch wirklich eingeschlafen sein. Verwundert rieb sie sich die Augen, suchte ihre Schuhe, die unter der Mauerbrüstung versteckt lagen, stand langsam auf und tastete sich am Felsen entlang nach Hause. Als sie die Umrisse der Häuser sah, atmete sie tief auf. Sie befand sich wieder endgültig in der Jetztzeit. Aber innerlich schwebte sie noch. Es war ihr, als sei sie gerade erst fünfhundert Jahre zurückversetzt gewesen, als habe sie wirklich diese Greueltaten miterlebt, als habe sie wirklich gelitten. Ihr war, als spüre sie noch den Schmerz der Geburt, als fühle sie das rohe Fleisch an ihren Füßen, die durch die lange Wanderung zerschnitten waren. In ihren Ohren hörte sie noch leise das schwache Jammern ihres Kindes, dem sie durch die Strapazen keine Milch mehr geben konnte, weil die Quelle versiegt war. Sie empfand auch jetzt noch die Qual, als das Kind in ihren Armen starb, fühlte sich wie zerschlagen.

Kristina atmete auf. Es war nicht wirklich passiert. Oder doch? Gedankenvoll ging sie durch den Hintereingang in die Hotelanlage. Sie wollte niemandem begegnen. Nachdenklich betrat sie ihr Appartement, schaltete alle Lichter ein, um die Gespenster einer nicht gekannten Vergangenheit auszulöschen. Es war doch nur ein geträumtes Leben, nicht ihres, das ihr wie ein böser Traum im Kopf herumspukte. Müde ging sie zu Bett. Aber zum Einschlafen ließ sie zur Sicherheit ein kleines Licht an.



Diese Geschichte ist schon ein paar Jahre alt. Damals waren wir auf Teneriffa gewesen. Mich hatte die Geschichte der Guanchen nicht mehr losgelassen, so dass ich inspiriert wurde, etwas zu schreiben, was vielleicht so oder ähnlich dort geschehen ist.Brigitta Firmenich, Anmerkung zur Geschichte

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Brigitta Firmenich).
Der Beitrag wurde von Brigitta Firmenich auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.11.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Brigitta Firmenich als Lieblingsautorin markieren

Buch von Brigitta Firmenich:

cover

Sinfonie von Brigitta Firmenich



Der Gedichtband Sinfonie drückt Höhen und Tiefen der Gefühle aus. Es geht um das Leben an sich, um Liebe und Leid, Vertrauen und Schmerz, Leben und Tod. Es sind zumeist besinnliche Texte, in denen man sich sicherlich wiederfinden kann.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (4)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Märchen" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Brigitta Firmenich

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der Weg von Brigitta Firmenich (Besinnliches)
Die fünf Hühner von Christa Astl (Märchen)
Warum können Männer nicht so sein wie wir? von Eva-Maria Herrmann (Wie das Leben so spielt)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen