Christopher O.

Das Haus in der Kälte

Der Motor stöhnte noch einmal kurz auf, spuckte schwarzen Qualm und wurde schließlich zur nächsten Leiche des Tages. Voller Wut schlug der Fahrer mit der geballten Faust aufs Lenkrad, drehte fluchend den Zündschlüssel, doch nichts geschah. Das Fahrzeug würde sich keinen Meter mehr bewegen.
Die ersten zarten Schneeflocken begannen zu fallen, bedeckten die Straße mit einer dünnen weißen Schicht. Kein Geräusch durchbrach die gespenstische winterliche Stille. Der Fahrer lehnte sich zurück und dachte nach. Ewig konnte er hier nicht bleiben. Allmählich wurde es dunkler. Der Schneefall war heftiger geworden, und die Lichtkegel der Scheinwerfer bohrten sich in einen dichten weißen Schleier, den sie kaum durchdringen konnten.
Wenn er sich recht erinnerte, hatte er nicht weit entfernt ein Licht im Wald und den Schemen eines Hauses gesehen. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, wer hier so weit draußen im Wald leben sollte, es war ihm jedoch auch ziemlich gleichgültig. Hauptsache, er fand Hilfe. Er schloss den Reißverschluss seiner Jacke, griff nach dem Rucksack, den er bei seiner Abfahrt auf den Beifahrersitz geworfen, und öffnete die Tür. Die Tasche hatte nicht das Gewicht, das er sich vor einigen Stunden erhofft hatte.
Ein Schwall kalter Luft und tanzender Schneeflocken kam ihm entgegen und ließ ihn trotz der dicken Jacke frösteln. Lange würde er es in dieser Kälte nicht aushalten. Hoffentlich war das Haus wirklich so nahe, wie er es in Erinnerung hatte.
Seine Füße versanken im Schnee, als er aus dem Fahrzeug stieg und die Tür hinter sich zuschlug. Der Knall hallte unheimlich laut durch die Stille. Er sperrte das Auto ab und zog sich die Kapuze über den Kopf. Dann marschierte er los, in die Richtung, in der er das Gebäude vermutete.
Wo war in der kurzen Zeit nur der viele Schnee hergekommen? Er dachte an das Märchen von Frau Holle und musste unwillkürlich lächeln. Doch sein Lächeln hielt nur kurze Zeit an, denn nach einer Weile wurden seine Füße bereits schwer. Schneeflocken tanzten vor seiner Nase und verhüllten die Sicht wie ein dicker Vorhang. Seine Fußspuren waren bereits nach wenigen Schritten spurlos verschwunden, als wäre niemals jemand diesen Weg gegangen.
Er hob den Kopf, weil er einen Lichtschein wahrgenommen hatte. Er hatte befürchtet, dass er wegen des dichten Schneefalls das Haus nicht mehr ohne weiteres sehen würde, denn es hatte nicht direkt an der Straße gestanden. Doch da war es, das Licht umgab es mit einem geisterhaften Kranz.
Es war ein großes altes Haus, mit Giebeln und Erkern, umgeben von einem kleinen Park. Dieser war von einer niedrigen Steinmauer begrenzt, die ihn nicht vor Blicken oder sogar Eindringlingen schützen sondern einfach nur als Zierde dienen sollte. Der Mann drückte das Eisentor zur Seite, das ohne ein Geräusch von sich zu geben nach hinten glitt.
Das Gebäude sah im Tageslicht wahrscheinlich wunderschön aus, aber die Dunkelheit und das seltsame Leuchten verliehen ihm etwas Unheimliches. Es passte einfach nicht hierher, in den Wald, wo es weit und breit keine Menschenseele gab. Welcher Einsiedler mochte sich ein solches Haus bauen?
Er schlurfte durch den Schnee, schwer atmend, schenkte seiner Umgebung keinen Blick. Die kunstvoll geschnittenen Bäume und Hecken und der gepflegte Rasen machten diesen Ort noch unglaublicher, noch unrealistischer. Er rechnete halb damit, dass das Haus jeden Moment verschwinden würde, so dass er schließlich wieder alleine im Nirgendwo stand und ohne Hoffnung auf Rettung erfrieren müsse.
Vor ihm ragte das massive hölzerne Eingangstor in die Höhe. Eine breite Steintreppe führte hinauf. Der Eingang lag fast im Dunkeln. Auf den ersten Blick konnte der Mann einen eisernen Türklopfer erkennen, der Kopf eines kleinen, gemein grinsenden Teufels, aus dessen Nase der dicke Klopfring ragte. Er legte die Hand auf den Ring. Plötzlich spürte er etwas Feuchtes über seine Finger gleiten und zog die Hand entsetzt zurück. War die Zunge des Teufels vorhin eigentlich auch schon zu sehen gewesen? Bei diesem Gedanken stieß er ein freudloses Lachen aus. Seine Hand würde er jedenfalls nicht wieder auf dieses Ding legen.
Plötzlich wurde das Tor geöffnet, und einen kurzen Moment glaubte er, ein Wesen zu erblicken, das einfach nicht von dieser Welt stammen konnte. Mit hoch erhobenen Haupt stand es vor ihm, umgeben von einer Korona aus blendend hellen Licht wie eine goldene Krone oder ein Heiligenschein. Als er jedoch die Augen zu Schlitzen zusammenpresste, um besser sehen zu können, wurde das engelsgleiche Wesen zu einer hochgewachsenen alten Dame, die in dem Licht einer Deckenlampe stand.
Er versuchte, etwas zu sagen, doch er brachte keinen Ton heraus, sein Mund fühlte sich an wie zugefroren.
„Kommen Sie rein. Sonst erfrieren Sie mir noch da draußen.“ Ihre Stimme klang ungewöhnlich jung und kräftig für ihr Alter. Sie ergriff ihren ungebetenen Gast am Arm und zog ihn zu sich ins Haus. Mit einem kräftigen Krachen fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss und verbannte die Kälte, die gerade einzudringen versuchte, nach draußen.
„Mein Name ist Bachmann. Mein Auto ist hier in der Nähe stehen geblieben. Kann ich ...“ brachte er unter Zähneklappern hervor, doch die Frau unterbrach ihn. „Jetzt wärmen Sie sich erst einmal auf.“ sagte sie lächelnd und führte ihn in einen Raum, aus dem wohlige Wärme in den Flur strömte.
Das Wohnzimmer war ein warmer und wunderschöner Ort, eingerichtet mit eleganten Holzmöbeln und einem roten Perserteppich. In den Regalen standen unzählige wertvolle Bücher.
Über dem Kamin, in dem ein lebhaftes Feuer prasselte, hing ein altes Ölgemälde. Es zeigte eine junge blonde Frau (die Kassiererin) in einem blauen Kleid. Sie saß auf einer Bank, hielt ein Buch in der Hand und starrte genau auf den Betrachter mit einem seltsam eindringlichen Blick (Sie starrt genau auf mich. Sie weiß, dass ich da bin).
Bachmann schloss die Augen, und durch seinen Kopf zuckten Bilder von Blut und Tod. Er hörte Schreie, die vor einigen Stunden ausgestoßen worden waren, der Körper der Frau kippte nach hinten, Schüsse. Ruckartig öffnete er die Augen wieder. Daran durfte er jetzt nicht denken. Die Frau auf dem Gemälde war unglaublich schön (Die Ähnlichkeit ist schon frappierend.) Das lange blonde Haar floss über ihre Schultern, ihr Gesicht schien perfekt zu sein mit einer kleinen Nase, einem wohlgeformten Kinn und kaum zu sehenden Knochen. Ihre Haut war zart und leicht gebräunt. Das Kleid verbarg ihren wunderschönen Körper nicht zu sehr. Nur ihr Gesichtsausdruck störte, denn er zeigte eindeutig tiefe Trauer.
Bachmann blinzelte. Plötzlich war das wunderschöne Gesicht einer roten fleischigen Masse gewichen. Er hörte Schreie, Schüsse, roch Blut. Er wollte schreien, weglaufen, doch die Dämonen der Vergangenheit hielten ihn in ihrem Griff. Erst das Zufallen der Tür riss ihn wieder aus seiner Erstarrung. Bachmann wollte schreien. Aber der Schrei blieb in seiner Kehle stecken, als er sah, dass das Blut war verschwunden.
Seine Gastgeberin hatte eine Tasse dampfenden Kaffees in der Hand. Mit einem herzlichen Lächeln stellte sie das Gefäß auf den kleinen Tisch vor Bachmann und setzte sich in den Sessel ihm gegenüber. Bachmann nippte an dem Getränk, doch das wärmende Gefühl, das ihn eigentlich durchströmen sollte, blieb aus. Nicht einmal das munter vor sich hin prasselnde Feuer konnte die Kälte vertreiben, die von ihm Besitz ergriffen hatte.
„Kann ich Ihnen noch etwas zu essen anbieten?“
Bachmann schüttelte den Kopf. „Könnte ich von Ihnen aus einen Freund anrufen? Er würde mich dann abholen kommen.“ Thomas ließe sich bestimmt dazu überreden, ihn eine Nacht bei sich zu verstecken. Am nächsten Tag konnte er dann weitersehen. Hier wollte er jedenfalls nicht bleiben.
„Das Telefon funktioniert im Moment nicht.“ zerstörte die Frau seine Hoffnungen. „Der Sturm muss irgendetwas beschädigt haben.“ Sie schwieg einen kurzen Moment „Aber Sie können heute Nacht bei mir schlafen. Ich fahre Sie dann morgen in die Stadt.“
Bachmann war nicht wohl bei dem Gedanken, die Nacht in diesem seltsamen Haus verbringen zu müssen.
Ihm gefiel das Haus nicht, er mochte die Frau nicht, trotz ihrer Freundlichkeit. Sie hatte ihn zu sich aufgenommen, ohne Fragen zu stellen, hatte ihn so weit versorgt, dass er allmählich wieder aufzutauen und sich wieder lebendig zu fühlen begann, und versprochen, ihn am nächsten Tag in die Stadt zu bringen, aber dennoch misstraute er ihr.
Er dachte an das Bild und an seine Vision, und die Angst lief ihm wie ein eiskalter Schauer den Rücken hinab.
„Es ist schon spät.“ sagte die Frau. „Ich würde eigentlich gerne jetzt ins Bett gehen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“
Bachmann antwortete mit einem leichten Nicken.
„Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.“
Die Alte zeigte wieder dieses merkwürdige Lächeln, während sie ihn die Treppe hinaufführte. Sie hatte ihm noch nicht einmal ihren Namen gesagt, erinnerte er sich, aber eigentlich war ihm das ziemlich gleichgültig. Morgen würde sie ihn in die Stadt bringen, und sie würden sich nie wieder sehen. In seiner Jackentasche spürte er plötzlich das Gewicht der Pistole. Jetzt war ein guter Augenblick, der Frau eine Kugel durch den Kopf zu jagen und dann mit ihrem Wagen zu fliehen. Schließlich konnte sie ihn identifizieren. Seine Hand zuckte, als sie nach der Waffe greifen wollte wie ein selbstständiges Wesen, doch Bachmann zog sie zurück. Was konnte diese Alte schon sagen? Sie wusste rein gar nichts über ihn. Es war schon genug Blut geflossen an diesem Tag.
Die Frau drückte eine Tür auf und führte ihn in einen kleinen Raum, dessen Einrichtung im Gegensatz zu dem Rest des Hauses etwas ärmlich war. „Ich habe nicht oft Gäste.“ sagte sie entschuldigend.
In einer Ecke stand ein altes Bett, das wahrscheinlich nicht lang genug für Bachmann war. Die restlichen Möbel waren ein Tisch mit zwei klapprigen Stühlen und ein massiver Kleiderschrank, der groß genug schien für Bachmanns gesamte Garderobe zu Hause. Bachmann hatte erwartet, dass sein Schlafzimmer nicht geheizt wäre, aber die Luft war wohlig warm. Diese Wahnsinnige schien wirklich das ganze Haus zu heizen, sogar die Räume, die sie nicht brauchte. (Oder sie wusste, dass ich komme.)
Sie ging zum Kleiderschrank und öffnete die rechte Tür. Bachmann sah mehrere Hemden und Hosen, die auf den Regalbrettern lagen. Seine Gastgeberin entnahm dem Schrank einen hässlichen weißen Schlafanzug, den sie ihrem Besucher in die Hand drückte. (Wieso hat sie Klamotten in diesem Schrank?) Als nächstes nahm sie ein Paar Hausschuhe heraus.
„Ich hoffe, die Sachen passen Ihnen. Sie sind von meinem verstorbenen Ehemann.“ Sie schloss die Schranktür wieder, was mit einem lauten Quietschen quittiert wurde. „Wenn Sie noch etwas benötigen, bedienen Sie sich selbst.“ Dann marschierte sie mit einem gemurmelten „Gute Nacht“ in den Flur. Die Tür fiel dumpf und irgendwie endgültig hinter ihr ins Schloss.
Bachmann warf den Schlafanzug auf den Boden. Er legte die Pistole auf den Nachttisch, so dass er sie jederzeit schnell erreichen konnte. Die Jacke hängte er über einen Stuhl, bevor er sich aufs Bett fallen ließ. Diese Nacht würde er in seiner Kleidung verbringen, damit er notfalls schnell fliehen konnte.
Er legte den rechten Arm unter den Kopf, atmete tief durch und starrte an die Decke. Verzweifelt versuchte er einzuschlafen, doch seine Gedanken fanden keine Ruhe. Schließlich huschten seine Blicke wieder zu dem Schlafanzug. Bachmann seufzte und erhob sich, die Müdigkeit unterdrückend. Er war neugierig. Langsam bückte er sich und untersuchte die Kleidungsstücke. Sie waren aus dickem weißem Stoff, edel aber potthässlich. Er hielt die Hose an seine Hüfte und blickte hinab. Sie passte wie angegossen. Nun untersuchte er die Hausschuhe. Schuhgröße 44, genau seine Größe. (Sie hat mich erwartet.) Bachmann schüttelte den Kopf. Das war Blödsinn. Dies waren die Klamotten ihres Mannes, hatte sie gesagt. Warum sollte er nicht Bachmanns Größe gehabt haben? Es konnte sich um einen Zufall handeln. Doch die Zweifel verschwanden nicht.
Er drehte den Schlüssel in der Eingangstür zwei Mal und vergewisserte sich, dass die Tür auch wirklich verschlossen war. Dann überprüfte er die Ladung seiner Waffe, bevor er sich wieder ins Bett fallen ließ.

Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben, während sie hektisch die Kasse leerte und die gebündelten Scheine in den Rucksack schaufelte. Plötzlich erklangen Sirenen, sein Finger krümmte sich vor Schreck, und das hübsche Gesicht der jungen Frau verwandelte sich in eine blutige Masse. Ihr Körper kippte nach vorne, Schreie erklangen, Schüsse. Er griff nach dem Rucksack, wandte sich zur Tür und rannte.
Schüsse, Blut, Körper, die an der Wand zusammensackten.
Uniformen, überall Männer in Uniformen, die hinter ihren Wagen in Deckung gegangen waren und mit ihren Gewehren auf die Eingangstür zielten.
Der Lärm der Schüsse, der Gestank des Pulvers erfüllten die Luft, als er sich zur Seite warf und Schutz suchte.
Ein Mann torkelte auf ihn zu, die Arme ausgestreckt, das Gesicht vor Schmerz verzerrt. Sein einst blütenweißes Hemd war übersät von dunkelroten Flecken, die schnell größer wurden und die weiße Fläche gierig auffraßen.
Er wandte sich ab, wollte den Toten nicht sehen, der auf ihn zukam, denn er musste schon längst tot sein bei diesen Verletzungen.
Die junge Frau hatte sich wieder erhoben. Die blutige Masse, die einst ihr Gesicht gewesen war, schien zu pulsieren, als sie langsam zu ihrem Mörder ging.
Auch die anderen kamen näher. Schrecklich entstellte Gesichter, die Schmerz und Trauer und Hass ausdrückten, verletzte Gliedmaßen, aufgerissene Brustkörbe. Sie kamen näher, obwohl sie nur noch am Boden liegen durften, die Bewegung war unnatürlich. Es durfte nicht sein. Er schrie auf, es war ein Schrei des puren Entsetzens und der Angst. Flammenzungen leckten aus den Wänden, verschlangen die Einrichtung und die wenigen Leichen, die liegengeblieben waren. Stimmen sprachen, spieen ihm Flüche und Verwünschungen entgegen, unmenschliche Stimmen, verzerrt durch den Tod. Sie torkelten ihm entgegen, ihre Hände nach ihm ausgestreckt. Er war unfähig, irgendetwas zu tun, sich zu bewegen, zu fliehen. Er konnte nur liegen bleiben und auf das Ende warten. Eiskalte Finger legten sich um seinen Hals, zerrten an seiner Kleidung, bohrten sich in seine Haut. Der Schmerz durchzuckte seinen gesamten Körper, marterte sein Hirn wie glühende Nadeln. Er versuchte zu schreien, doch ihm entfuhr nur ein leises Röcheln, als die Hände zudrückten und die Schmerzen langsam von einem dicken dunklen Schleier verdeckt wurden.

Bachmann saß kerzengerade im Bett, Schweiß rann über seine Stirn, durchnässte sein Hemd. Der Traum hielt ihn noch immer in seiner grausamen Umarmung und ständig zuckten Bilder durch sein Gehirn.
(Schüsse, Blut spritzte. Völlig Panik feuerte er um sich, der Schrei eines kleinen Kindes drang durch den Lärm, die Manifestation unendlicher Angst und Qualen.)
Es hatte niemand sterben sollen. Das war nicht geplant gewesen. Alles war plötzlich außer Kontrolle geraten.
(Sie verfolgten ihn durch die halbe Stadt, bevor er einem von ihnen auflauern und außer Gefecht setzen konnte. Doch es waren so viele. Sie waren überall. Es gab keinen Ausweg. Er rannte und rannte und rannte. Suchte nach einer Fluchtmöglichkeit vor seinen Verfolgern. Einer tauchte plötzlich vor ihm auf. Er hob die Waffe und drückte ab. Der junge Mann in der Uniform hatte ihn nicht kommen sehen und zu spät reagiert. Die Schüsse warfen ihn nach hinten an die Mauer, wo er mit noch immer vor Schreck geöffneten Mund auf den Boden sank. Vielleicht hatte er eine Frau, vielleicht war er Vater gewesen. Keine Zeit für solche Gedanken. Der einzige Gedanke durfte die Flucht sein. Die anderen waren der Feind.)

Bachmann atmete tief durch, als die schrecklichen Bilder langsam verblassten. Es war alles so unglaublich schief gegangen. Vor weniger als vierundzwanzig Stunden hatte er sein Leben ruiniert.
Er ließ sich keuchend aufs Bett zurücksinken und schloss die Augen, hoffte, sich wieder dem Schlaf hingeben zu können. Nach wenigen Sekunden jedoch schnellten seine Augenlider wieder nach oben. War da nicht ein Geräusch gewesen? Seine Blicke wanderten von einer Zimmerecke in die nächste, versuchten, im fahlen Licht des Vollmondes einen Eindringling ausfindig zu machen. Sie entdeckten nichts. Nur die üblichen Geräusche in einem alten Haus, tröstete er sich. Die Lider senkten sich, ein schwarzer Schleier legte sich über sein Bewusstsein. (Die Schreie schwollen an und nahmen ab, als würden sie sich näheren und sich wieder zurückziehen. Der Schleier hatte sich rot gefärbt, Bachmann sah nichts anderes mehr als dieses Rot, es wurde immer kräftiger, Hände griffen nach ihm, riefen ihn zu sich, dunkle Stimmen aus einer anderen Welt, Stimmen von Wesen, die es nicht geben durfte, die sämtlichen Naturgesetzen spotteten. Sie wollten ihn; ihre Klauen nach ihm ausgestreckt kamen sie näher, immer näher. Und er konnte nicht laufen, konnte nicht fliehen, wartete bewegungslos auf das Ende, während er seinen Beinen befahl, ihn zu einem sicheren Ort zu tragen. Aber sie gehorchten nicht. Und er spürte eine kalte Hand auf seiner Schulter.)
Fluchend stieß er die Decke weg. Er würde in diesem Haus kein Auge zumachen.
Er erhob sich und ging zum Fenster. Der Vollmond beleuchtete eine bizarre Szenerie außerhalb des Hauses. Die Landschaft war ganz unter dem weißen Leichentuch verschwunden. Die weiße Pracht versetzte ihn nicht in Hochstimmung wie es bei anderen Menschen geschah, sondern stürzte ihn in ein tiefes Loch der Hoffnungslosigkeit. Es kam ihm vor als habe der Schnee alles Leben erstickt.
Entsetzt wandte er sich um. Dieses Mal waren es eindeutig Schritte gewesen, draußen auf dem Flur. Er hatte die Holzdielen gleichmäßig knarren gehört, als ob ein Mensch sich verstohlen durch den Gang schleichen würde.
Bachmann nahm die Pistole von seinem Nachttisch. Vorsichtig ging er zur Tür, darauf bedacht, kein unnötiges Geräusch von sich zu geben. Es war nichts mehr zu hören. Seine Hand legte sich um den Schlüssel, drehte ihn einmal. Das scharrende Geräusch des sich im Schloss drehenden Schlüssels durchbrach die nun herrschende Stille. Bachmann hielt inne, versuchte, sein Atmen unter Kontrolle zu bringen. Er befürchtete, dass dieses Geräusch auch hinter der Tür noch vernehmbar sei.
Allmählich beruhigte er sich, sein Herz klopfte weniger wild, der Schweiß versiegte. Wieder packte er den Schlüssel, lauschte auf Geräusche von draußen, wartete, ob der Lärm irgendeine Reaktion ausgelöst hatte. Nichts geschah. Er vernahm kein Knarren, kein Schleifen, keine sonstigen Anzeichen von Bewegung. Wer auch immer dort gewesen war, entweder war er verschwunden oder hatte sich in einer Ecke verkrochen und lauerte dort.
Bachmann nahm seinen ganzen Mut zusammen und drehte den Schlüssel ein zweites Mal. Mit einem munteren Klicken, das durch das gesamte Gebäude zu hallen schien, öffnete sich das Schloss. Bachmann packte die Klinge, drückte sie sachte nach unten und zog behutsam. Die Tür scharrte über den Boden.
Er wartete einen Moment, darauf gefasst, dass ihm etwas entgegenkam. Nichts schlang sich jedoch um seinen Hals oder sprang an seine Kehle. Kein fremdes Atmen störte die beinahe unnatürliche Ruhe, die auf einmal eingetreten war. Im Flur herrschte undurchdringliche Finsternis. Ein Schwall eisiger Kälte drang auf ihn ein, ließ ihn erzittern. (Die blöde Kuh hat die Heizung abgestellt.) Doch es war nicht einfach nur die Kälte des Winters, die ihn frösteln ließ. Etwas anderes schien sie zu begleiten. Bachmann glaubte einen Moment, eine weiße Wolke wahrzunehmen wie der Dampf in einer Sauna. Sie schwebte lautlos um ihn herum, schien ihn zu beobachten und verschwand schließlich als wäre sie nie da gewesen. (Sie war niemals da.) Seine Blicke bohrten sich in die Finsternis, suchten nach einer weiteren merkwürdigen Wolke. (Es gab sie nicht.) Nichts. (Aber sie hat geleuchtet.) Etwas hinderte ihn daran, auch nur einen Fuß in den Gang zu setzen, während die beiden Stimmen in seinem Innern sich weiter stritten. (Es war nur Einbildung.)
Der Widerstand verschwand. Es konnte nur Einbildung gewesen sein.
Still und dunkel lag der Flur vor ihm. Vorsichtig schlich er zur Treppe. Etwas zog ihn nach unten ins Erdgeschoss, eine Kraft, die an ihm zerrte und nagte, die mehr war als nur bloße Neugier.
Mit der rechten Hand am Geländer kletterte er die schmale Stiege hinab, die hölzernen Stufen knarrten bedenklich unter seinen Schritten. Unten angekommen hielt er kurz inne und horchte auf Geräusche. Er glaubte ein leises Schnarchen zu hören. Die Frau, deren Namen er immer noch nicht kannte, schlief also noch. Wessen Schritte hatte er dann wahrgenommen?
Das Wohnzimmer lag dunkel und still vor ihm. Die Tür war geöffnet, obwohl er ganz sicher war, dass die Frau sie hinter sich verschlossen hatte. Vielleicht war sie noch einmal hierher gekommen und hatte die Tür dann hinter sich offen gelassen.
(Oder jemand anderes ist hier.)
Er überquerte den dicken Teppich, marschierte an den Bücherregalen vorbei und wich dem Schemen einer kleinen Kommode aus. Über sich konnte er die Bewegungen des Kronleuchters erahnen, der sich langsam drehte. Seine Schritte wurden genau zu dem Gemälde über dem Kamin gelenkt, erst dort ließ das Ziehen nach, und er wurde frei gelassen.
Er blickte sich um und versuchte etwas von seiner Umgebung wahrzunehmen. Alles lag in der nächtlichen Finsternis versunken da. Plötzlich rumpelte etwas hinter ihm. Bachmann fuhr herum, seine Blicke jagten durch den Raum, suchten fieberhaft nach dem Eindringling. War da ein Schatten, der schnell hinter dem Sofa in Deckung gegangen war? Ein leises Kichern drang an sein Ohr.
Bachmann zog die Pistole hervor und bewegte sich langsam, die Arme weit ausgestreckt, in Richtung des Lachens. Die geheimnisvolle Orientierung, mit der er vorhin seinen Weg gefunden hatte, war gleichzeitig mit dem Zug der fremden Kraft verschwunden. Nun war er verloren im Dunkeln. Er stieß sich das Bein an der Kommode und musste sich zusammenreißen, um nicht laut aufzubrüllen, als ein kurzer scharfer Schmerz durch seinen Körper zuckte.
Erneut schwebte ein leises Kichern durch den Raum, dieses Mal kam es aus der Richtung des Gemäldes in seinem Rücken, von dort, wo er vor Sekunden noch gestanden hatte. Blitzschnell fuhr er herum, gerade noch rechtzeitig, um einen körperlosen Schatten erkennen zu können, der sich aufzulösen begann. Seine Hand raste nach vorne, packte den Schatten. Er rechnete damit, dass sich seine Finger um warmes Fleisch legten, doch er spürte nichts. Dann war der Schatten verschwunden.
Langsam wich er zur Tür zurück, die Blicke auf den Ort gerichtet, wo vor kurzem noch der Schatten gewesen war. Seine Hand tastete sich an der Wand entlang auf der Suche nach dem Lichtschalter. Mit einem Mal flackerten alle Kerzen am Kronleuchter gleichzeitig auf und erfüllten den Raum mit einem unnatürlich hellen Licht. Der Kronleuchter drehte sich als ob jemand (oder etwas) ihn bewegte. Immer schneller wurde er gedreht, die Schatten der flackernden Flammen malten immer bizzarere Muster an die Wände. Bachmann warf einen Blick auf das Gemälde und stellte fest, dass es sich verändert hatte. (Eben hat sie noch nicht gelächelt.) Ein beinahe bösartiges und triumphierendes Lächeln stand auf dem Gesicht der jungen Frau. Ihre Blick bohrten sich in Bachmanns Körper, als wollten sie ihn aufspießen, und an ihren Händen und dem Buch klebte Blut. Das war zu viel für ihn.
Bachmann wandte sich um und rannte in den Flur, nur weg von diesem Licht und dem Bild. Hinter ihm ertönten Stimmen, die Beschwörungen zu murmeln schienen, und ein lautes Gerumpel hallte durch das Haus. Er drehte sich kurz um und sah, dass die schwere Kommode umgefallen war. Das Gemälde wackelte an der Wand, als ob es auf einmal mit Leben erfüllt wäre.Dann wurde es von seinem Platz abgehoben und schwebte langsam durch den Raum zu Bachmann, der entsetzt auf das sich verändernde Bild starrte, das sich ihm wie eine Rachegöttin näherte. Bachmann floh. Ein leiser, nicht enden wollender Singsang erklang, der immer lauter wurde und Bachmann verfolgte.
Die Stimmen kamen nun aus sämtlichen Richtungen und stürmten auf Bachmann ein, ließen ihm keine Chance sich irgendwo zu verstecken. Sie waren überall, und sie zerrten an seinen Nerven, zeigten ihm, dass er nirgendwohin fliehen konnte. Orientierungslos stolperte Bachmann durch das fremde Haus, verfolgt von den unheimlichen Stimmen und den Schatten, die wieder aufgetaucht waren und sich an seine Fersen hefteten.
In der Diele und in sämtlichen Räumen entzündeten sich weitere Kerzen, an den Wänden, auf Tischen oder in Schränken. Plötzlich fingen ihre Dochte Feuer, und sie brannten, tauchten die Zimmer in dasselbe unheimliche Licht.
Keuchend stolperte Bachmann durch eine weitere Tür. Er setzte einen Fuß hindurch und spürte auf einmal nichts mehr. Er schrie, versuchte sich umzudrehen und nach irgendetwas zu greifen, doch es war nichts in der Nähe, was ihn hätte retten können. Hart prallte er auf die ersten Stufen einer schmalen Steintreppe. Ein rasender Schmerz zuckte durch seinen Körper, schien seine Nerven zu verbrennen.
Doch er ließ sich nicht die Zeit, lange liegen zu bleiben und seine Wunden zu lecken. Er rappelte sich auf und betrachete die vor ihm liegenden Stufen. Das Licht, das durch den offenen Durchgang hineinfiel, entriss der Dunkelheit nur wenige Meter der Treppe. Die restlichen Stufen waren in der dicken Schwärze verschwunden. Es handelte sich nicht nur um das Fehlen von Licht, sondern die Dunkelheit schien Substanz zu haben.
Bachmann überlegte einen Moment, ob er es wagen sollte. Dann erklangen die Stimmen direkt vor der Tür. Bachmann beschloss, in das Untergeschoss zu fliehen. Ein so großes altes Haus hatte bestimmt einen verwinkelten Keller, in dem man sich verstecken konnte.
Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend und sich mit beiden Händen an den Wänden festhaltend stieg er die Treppe herab.
Feuchtigkeit rann die Mauern hinab, und gelegentlich traf ihn ein Wassertropfen im Kragen und kroch seinen Rücken herunter.
Ab und zu glaubte er, ein leises Klacken von Chitinfüßen zu hören, einmal spürte er etwas dickes mit pelzigen Beinen an seiner Hand, das er angeekelt wegstreifte. Immer tiefer in den Bauch der Erde führte ihn die Treppe, und mit jedem Schritt schien die Dunkelheit vor ihm an Substanz zuzunehmen Sie wurde dicker, beinahe fest, und Bachmann wurde das Gefühl nicht los, in den Schlund einer wartenden Bestie zu marschieren, die ihr Maul jeden Moment schließen und ihn für immer verschlingen würde. Einen Moment dachte er daran wieder umzukehren, aber die Stimmen verfolgten ihn und jagten ihn weiter nach unten.
Nach langer Zeit des Treppensteigens begannen seine Beine, lahmer zu werden. Er wusste nicht, wie viele Stufen er schon hinabgestiegen war. Er wusste nur, dass keine gewöhnliche Kellertreppe so entsetzlich lang sein konnte. Wer hatte unter seinem Haus eine solche Treppe? Was wurde dort unten gelagert? Bachmann konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die alte Besitzerin dieses Hauses auch nur einen Bruchteil der Stufen geschafft hätte, die er nun schon bewältigt hatte. Und noch immer war kein Ende abzusehen.
Nach, wie es ihm schien, Tausenden von Stufen spürte er endlich ebenen Boden unter seinen Füßen. Ein wenig Licht fiel durch einen Durchgang nicht weit vom Fuß der Treppe entfernt in den Tunnel.
Als Bachmann den Gang entlang schlich, hörte er vor sich Stimmen. Sie stimmten wieder ihren beschwörenden Singsang an. Wie Wellen schwollen sie an und sackten wieder ab, ließen einen Text erklingen, der für Bachmanns Ohren unverständlich war. Behutsam arbeitete er sich vor, beide Hände an den kalten Felswänden. Wieder spürte er ein Krabbeltier unter seinen Fingern, das flink in seinem Ärmel verschwand und sich seinen Arm hocharbeitete. Angeekelt schüttelte er sich, zwang sich jedoch, sich nicht von dem kibbelnden Gefühl irritieren zu lassen. Wenig später glitt es sein Bein herab, und etwas dickes pelziges plumpste vor ihm auf den Boden. Er blickte nicht nach unten um festzustellen, was über seinen Körper geklettert war.
Der Gesang verstummte, als er seinen Kopf durch die Türöffnung steckte. Er sah einen großen hallenartigen Raum, in dessen Mitte ein Steinpodest ähnlich einem Altar stand. Brennende Kerzen waren in einem weiten Kreis um den Altar aufgestellt; ihre Flammen flackerten wild. Langsam trat Bachmann näher. Seine Schritte hallten dumpf von den hohen Wänden. Bachmann befürchtete, dass die Geräusche jemanden alarmieren könnten und zog vorsichtshalber seine Pistole. Dann näherte er sich der Mitte der Halle, die ihn magisch anzuziehen schien.
Im unruhigen Licht der Kerzen erkannte er ein Symbol, das auf den Boden gezeichnet war. Es war ein unsymmetrisches Gebilde aus verschiedenen geometrischen Formen. Ungleichmäßig waren sie über einen Kreis verteilt, dessen Außenlinie den Kreis der Kerzen darstellte. Hauptsächlich waren Dreiecke zu sehen, doch er entdeckte auch mehrere Spiralen und komplizierte Gebilde.
Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, darauf bedacht, keine der komplexeren Figuren zu betreten, denn diese jagten ihm eine irrationale Angst ein. Die primitiven Formen erschienen ihm harmlos, doch er konnte, mochte sich nicht vorstellen, was die anderen bedeuteten.
Er ließ seine Hand über den kalten Stein des Altars gleiten. Seine Oberfläche war uneben und rau, so anders als die Altare, die er in Kirchen gesehen hatte. Es gab auch keine Verzierungen und keinen Schmuck. Nur diesen weißen Steinblock, auf dessen Oberfläche die Schatten der Kerzenflammen tanzten. Als er sich ein wenig tiefer beugte, fielen ihm braune Flecken auf. Bachmann berührte sie misstrauisch mit seinem Zeigefinger, zog ihn dann schnell wieder zurück. Vielleicht war es getrocknetes Blut. Er fasste seine Waffe fester, so dass seine Knöchel weiß hervortraten.
Er hob den Kopf, wandte den Blick ab von dem Blut. In der Bank hatte er genug Blut gesehen. Erneut zuckten Bilder durch seinen Kopf.
(Die Schreie hielten an, sie brachen nicht einmal ab, als die Kugel bereits ihren Kopf in Stücke gerissen hatte.)
Dieses Mal war es intensiver als jemals zuvor.
(Ihr Körper sackte von ihrem Stuhl, die Arme fielen seitlich hinab. Einen Moment herrschte eine entsetzliche Stille, die fast noch schlimmer war als das angsterfüllte Geschrei der Geiseln. Dann kamen die Schüsse.)
Er drückte seine Hände gegen den Kopf und brüllte einmal laut auf, als plötzlich schreckliche Schmerzen sein Gehirn durchbohrten und die Bilder noch verworrener, noch erschreckender wurden.
(Blitze in verschiedenen Farben. Sie durchrissen den Himmel, den Boden, ja sogar die Menschen, die auf der trostlosen Oberfläche dieser Welt krochen wie Insekten, getreten, geschlagen, gequält, ohne Aussicht auf Erlösung, auf ewig gefangen.)
Bachmanns Knie gaben nach und er sank zu Boden, die Hände noch immer mit voller Kraft an den Schädel gedrückt, stöhnend und keuchend mit dem einzigen Wunsch, dass diese Qualen endlich enden mögen.
(Er sah sie, sie schwebten über ihm, glitten zu ihm herab und verhöhnten ihn, schwache leuchtende Schemen, stärker als er es je sein würde, denn sie hatten anders gelebt als er, sie waren die Opfer. Und nun hatten sie Macht über ihn)
Er kniete vor dem Altar und begann, erbärmlich zu heulen, bevor er vorn überkippte und mit dem Kopf gegen den Steinblock prallte.
(Dieses Mal würden sie ihn erwischen, sie würden ihn mit zu sich nehmen und bei sich behalten – für immer.)

Wie lange er dort gelegen hatte wusste er nicht. Doch wie durch ein Wunder hatte er den Aufprall ohne größere Schäden überstanden. Bachmann fasste sich an den Kopf und erwartete, Blut zu spüren. Die grausamen Kopfschmerzen waren seltsamerweise endlich verklungen. Er zog sich an dem Altar hoch und blieb einen Moment auf schwachen Beinen über den Steinblock gebeugt stehen, versuchte, wieder zu Kräften zu kommen. Aus den Augenwinkeln bemerkte er seine Pistole, die ihm bei seinem Sturz aus der Hand geglitten war. Vorsichtig, damit seine Schmerzen nicht wieder aufflammten, bückte er sich und nahm sie an sich. Jetzt fiel im auf, dass seine Wahrnehmung sich geändert hatte. Die Wände waren merkwürdig bunt, der Boden schien leicht zu leuchten, und alles um ihn herum nahm er nur verschwommen war.
(Gehirnerschütterung.)
Seine Finger umfassten den kalten Stahl. Er fand es merkwürdig, dass die Waffe so kalt war, obwohl die Temperatur in der Halle gestiegen war. Es war, als gehöre die Pistole nicht in diese Welt. Er lächelte spöttisch über diesen Gedanke und packte die Waffe fester. Doch sie fühlte sich seltsam an, ungewohnt glitschig. Im ersten Moment befürchtete er, sie könne ihm wieder entgleiten.
Schritte erklangen hinter ihm. Blitzartig fuhr Bachmann herum. Am Durchgang zur Treppe stand die alte Frau. Sie lächelte ihn an, als hätte sie keinerlei Angst, obwohl er mit einer Pisotle genau auf ihren Kopf zielte. Sie kam einige Schritte näher.
(Sie ist zu alt für diese Treppe.)
„Bleiben Sie stehen.“ Bachmann deutete mit der Pistole direkt auf ihren Kopf.
„Ich weiß, dass Sie mich ohne Weiters töten können.“ Ihre Stimme war dunkler und kräftiger als zuvor. Sie schien nicht aus ihrem Mund zu kommen, sondern von überallher, aus dem Boden, der Decke, den Wänden. „Sie haben bereits Menschen getötet.“ Sie tat noch einen Schritt. „Woher wissen Sie das?“
„Bei einem Banküberfall haben Sie Unschuldige umgebracht.“ Ein Schritt.
(Sie kann es nicht wissen. Sie kann es nicht wissen.)
„Ich wollte sie nicht töten. Wir haben die Kontrolle verloren.“
„Sie haben sie ermordet.“ Ein weiterer Schritt. Sie hatte nun den Kerzenkreis betreten. „Wir werden nun über Sie richten.“ Sie hob die Arme hoch über den Kopf und begann mit Kreisbewegungen. Gleichzeitig fiel ihr Gesicht ein, blutige Wunden erschienen, unter ihrem Hemd breitete sich Blut aus. Bachmann erkannte in ihre nun eine Frau aus der Bank. Auch sie hatte den Tag nicht überlebt. Warmer Wind kam auf und umwehte Bachmann. Die unnatürliche Wärme wurde stärker, der Boden unter seinen Füßen färbte sich rot, schien vor Hitze geradezu zu pulsieren. Und begleitet wurde dieses Pulsieren von einem tiefen Pochen wie das Klopfen eines gigantischen Herzens.
Die Schatten in den Ecken wurden lebendig. Sie näherten sich Bachmann, umkreisten ihn, zeigten ihm ihre verzerrten Gesichter. Da war wieder die Bankangestellte, der alte Mann, das kleine Mädchen, der Polizist. Sie alle flogen um Bachmann herum, betrachteten ihn, aus ihren Gesichtern sprühte ihm der pure Hass entgegen.
Bachmann schoss. Mehrmals hintereinander betätigte er den Abzug. Die Kugeln zerrissen die Geistwesen, sie zerstoben in unendlich viele kleine Wolken, die sich sofort wieder zu einem Wesen vereinigten. Er feuerte weiter, zielte auf jede Bewegung und drückte ab. Der Lärm der Schüsse wurde von den Wänden tausendmal verstärkt, untermalt von einem leisen Heulen. Die Schatten kamen immer näher, zogen ihre Kreise immer enger, ließen sich nicht mehr von den tödlichen Geschossen aufhalten, die ihnen schon einmal ihr Leben genommen hatten.
Nebel kam aus dem Boden wie weiße Watte. Innerhalb weniger Sekunden hatte er Bachmanns Knöchel erreicht und stieg weiter. Durchsichtige Arme hoben sich flehend aus dem Meer von weißem Dampf und griffen nach Bachmann. Sie packten seine Beine, zerrten an seiner Hose. Er senkte die Pistole und schoss. Doch der Griff der körperlosen Arme wurde noch stärker. Langsam ließ er sich zu Boden sinken. Er konnte dieser Kraft nichts mehr entgegensetzen. Einen kurzen Moment tauchte sein Gesicht in den Nebel, und er sah weitere Körper, Gesichter, die ihn anstarrten, bleich, ohne Leben. Aus großen Augen sahen sie ihn an, öffneten und schlossen ihre Münder wie Fische, unendlich große Qualen standen in ihren Gesichtern. Eines erkannte er. Er war bei dem Überfall dabei gewesen und von der Polizei erschossen wurden. In diesem Moment erkannte Bachmann, dass er zu diesen Nebelwesen gehörte, dass dies sein Schicksal, seine Strafe für die Morde war.
Er strampelte mit den Beinen, versuchte, den Griff der Monster zu lockern. Sie zogen ihn jedoch zu sich, sein Kopf tauchte mehrmals in den Nebel, und die Wesen flossen durch ihn hindurch, durch seinen Mund, seine Augen, seinen Körper. Mit letzter Kraft hob Bachmann die Pistole und presste sie gegen seinen Kopf. Ein Schuss musste sich noch in der Waffe befinden. Mit einem triumphierenden Lächeln drückte er ab. Sie würden ihn nicht bekommen.
Das Geschoss löste sich aus der Waffe, bohrte sich durch Bachmanns Schädel und verließ ihn wieder auf der anderen Seite. Bachmann erwartete jeden Moment die Schwärze, die ewige Dunkelheit.
Die Wesen zerrten weiter.
In diesem Moment erkannte er, dass er bereits tot war. Er hatte den Aufprall auf den Steinblock nicht überlebt.
Die Monster packten fester, als sie seinen Widerstand schwinden spürten. Er hatte verloren, nun gehörte er ganz ihnen. Er konnte ihnen nicht einmal mehr durch den Tod entkommen. „Nein.“ hörte er sich flehen. „Ich wollte es nicht.“ Seine Stimme wurde leiser, als sie ihn erneut zu sich zogen und durch ihn hindurchflossen. „Ich wollte niemanden töten.“ Die Wesen reagierten nicht, hörten nicht auf sein Flehen, seine späte Reue. Unbarmherzig rissen sie ihn zu sich, während die stillen Schatten der Opfer über die Szenerie kreisten und das Werk der geisterhaften Armee beobachteten.
Eine Stimme erklang in seinem Gehirn, leise und lauernd erinnerte sie ihn an eine Schlange. (Hast du nicht Freude empfunden?) (Freude empfunden? Freude empfunden?) Ein ungewöhnliches Echo mehrerer anderer Stimmen folgte den Worten wie ein Chor, der einen Refrain sang. (Hattest du nicht auch Spaß am Töten?) (Spaß am Töten?) (Spaß am Töten?)
Jetzt mischten sich andere Stimmen ein, die einen schreiend, anklagend, die anderen leise, trauernd.
(Er wollte schießen.) (Er hatte Spaß daran.) (Du freutest dich über das viele Blut und die Leichen.) (Ich möchte nicht sterben.) (Wir kriegen dich.) (Ich will wieder zurück.) (Ich hatte noch so viel vor.) (Wir haben dich lächeln sehen.) (Du hast mich verraten.) (Du hast mich im Stich gelassen.) (Mama!)
Sie wurden lauter, triefend vor Trauer und Unglück, bis Bachmann das Gefühl hatte, dass sein Kopf zu zerbersten drohe, so grauenvoll wurde der Druck von innen. Die Schatten kreisten noch immer dort oben, während die Wesen am Boden Bachmann weiterhin umspülten. Er drohte in einem Meer von bösen Seelen zu ertrinken. Er erkannte, dass ihn schlimmeres erwartete, als er sich jemals vorstellen konnte. Bei diesem Gedanken verstärkte er seinen Widerstand gegen die unheimlichen Hände, die seine Gelenke, seine Gliedmaßen, seinen Hals umklammert hielten und ihn unermüdlich nach unten in ihre Menge zogen. Je mehr Widerstand er leistete, desto kräftiger zogen die Arme.
Bachmann wurde auf einmal ganz ruhig und ergab sich seinem Schicksal. Er hatte keine Chance mehr.
Wie eine gigantische Welle flossen sie über ihn, zerrten ihn in die Tiefe, die er nie wieder würde verlassen können.
Die Ewigkeit erwartete ihn.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.11.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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