Sabine Gabriel

Wahre Ehen werden im Himmel geschlossen

Es begab sich aber zu der Zeit, als die Menschen noch direkten Kontakt zum Himmel hatten.
Mein Liebster war schon lange tot, und ich hatte noch eine wunderschöne Zeit mit ihm verlebt. Die ersten drei Tage nach seiner Beerdigung wartete er des Nachts auf mich und rief mich, auf dass ich zu ihm in mein Bett käme. Jedesmal, wenn ich seinen Ruf vernahm, beeilte ich mich, ins Bett zu gehen. Es war einfach wunderschön, in seinen Armen zu schlafen, so wie ich es auch zu seinen Lebzeiten genossen hatte.

Wie gern ging ich des Nachts auf einsamen Wegen spazieren! Immer war er bei mir. Ich fühlte seinen Arm auf meiner Schulter. Ich fühlte ihn, obwohl er kein Gewicht besaß – er war einfach da, und es war wunderschön.

Eines Tages bedeutete er mir, er müsse nun gehen, andere Aufgaben warteten auf ihn. Er dankte mir für meine Liebe, für die schöne Zeit mit mir und für alles, was ich für ihn getan hatte. Ich reichte ihm meine Hände, verneigte mich leicht vor ihm und dankte ihm für seine Liebe, für die wunderschöne Zeit mit ihm, die er mir geschenkt hatte und für alles, was er für mich getan hatte, ganz besonders auch dafür, dass er mich nicht sofort verlassen hatte. Wir versicherten uns gegenseitig unserer Liebe für den anderen, und dann entschwand er vor meinen Augen, löste sich auf und ward nicht mehr gesehen.

Und so lebte ich nun allein auf dieser Erde, erledigte meine Aufgaben, so gut ich es vermochte, und war da für alle die, die mich brauchten. Nie vergaß ich meine große Liebe, die so tief wie das Meer war, wurde getragen vom Ozean dieser Liebe, meisterte mein Leben alleine und fühlte mich doch niemals einsam und verlassen, wenn ich auch oft bittere Tränen weinte darüber, dass er nicht mehr hier unter uns weilte, dass ich meine Freuden nicht mehr mit ihm teilen konnte, sich alles veränderte und es bald nichts mehr gab, mit dem sich gemeinsame Erinnerungen verbanden. Das Leben ging weiter, und es fragte nicht nach ihm. Aber die Liebe, sie verband uns weiterhin, wob ein unsichtbares Band durch alle Welten und Zeiten hindurch.

Eines Tages – ich war wieder mal an seinem Grabe gewesen – war es dann soweit. Ich lag schon im Bette und konnte nicht aufhören zu weinen über all das, was ich mit ihm verloren hatte. Eines Tages also, da stand er vor mir, fragte feierlich: „Bist du bereit?“ Noch ehe ich antworten und meine Tränen wegwischen konnte, hatte er mich schon bei der Hand genommen.

Wie von Zauberhand trug ich auf einmal ein anderes Kleid, ein weißes langes Kleid mit einem weiten Rock, der fast auf dem Boden schleifte und einen weißen Schleier auf dem Kopf. Feierlich und gemessenen Schrittes schritten wir Hand in Hand über einen roten Teppich, der extra für uns ausgebreitet worden war. Wir gingen hindurch durch endlose mit Blumengirlanden geschmückte Tore, bis wir an eine Rolltreppe kamen, die nach oben führte. Wir fuhren die Rolltreppe hinauf.
Bis dahin erinnerte mich alles noch an etwas Irdisches, was ich hier auf Erden schon gesehen hatte, eine Weihnachtsdekoration, durch die ich bereits unzählige Male geschritten war, in Gedanken mit ihm an meiner Seite.

Aber dann auf einmal löste sich die Rolltreppe und alles um uns herum auf, irgendwie verließen wir die irdische Welt und traten ein in die himmlischen Sphären. Alles war hell und licht, es gab keine festen Konturen mehr, und der Weg führte immer noch weiter nach oben.
Vor einem Licht voller Liebe und Güte blieben wir stehen.

Ich wusste überhaupt nicht, wie mir geschah, alles war so fremd und eigenartig, aber es fühlte sich an so richtig und natürlich, dass ich sehr verwundert war, aber in keinem einzigen Augenblick Angst verspürte. Mein Liebster war an meiner Seite, hielt meine Hand und wirkte so sicher wie jemand, der weiß, was er tut. Also war ich trotz aller Verwunderung voller Vertrauen in das, was geschehen würde.

Das Licht sprach keine Worte, aber ich verstand es trotzdem. Es bedeutete uns, dass wir nun Mann und Frau seien, dass unsere Seelen nun verbunden seien durch alle Welten und Zeiten. Es bedeutete meinem Liebsten, dass er die Braut nun küssen dürfe, und es bedeutete mir, dass ich wieder auf die Erde zurück müsse, dass ich dort mein irdisches Leben leben müsse, dass ich auch weiterhin Liebe erfahren würde, vielleicht auch wieder einem Mann begegnen würde, mit dem mich eine tiefe Freundschaft verbinden würde, aber diese wäre dann eine Freundschaft für meine irdische Zeit, nach meinem Tode würde ich zurückkehren zu meinem Liebsten, zu meinem wahren und himmlischen Ehemann, zu der Seele, die von Anbeginn aller Zeiten für mich bestimmt war, und der ich von Anbeginn aller Zeiten ebenfalls bestimmt war. Dieses Licht bedeutete mir, dass ich in meiner irdischen Existenz meine irdische Existenz mit allen Konsequenzen und vollkommen zu erfüllen hätte und dass dies notwendig wäre, um dereinst gemeinsam mit meinem himmlischen Geliebten unsere gemeinsamen himmlischen Aufgaben erfüllen zu können.

Ich war total verwirrt, ich verstand gar nichts mehr.

Mein Geliebter nahm meine Hände, verneigte sich vor mir, berührte sanft mit seinen Lippen meine Lippen, verneigte sich, dankte mir – und bevor ich irgend etwas erwidern konnte, lag ich völlig verdattet wieder in meinem Bett.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.11.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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