Rita Latz-Orlowski

Mein schönstes Weihnachtsfest

Es ist schon sehr lange her – über 50 Jahre. Der Krieg war vorbei. Wir wohnten in einer Halbruine, besassen fast nichts mehr, lebten von den nicht gerade üppigen Lebensmittelkarten. Trotzdem legte meine Mutter einen kleinen Vorrat zurück, damit wir das Fest würdig begehen konnten. Es gab selbstgebackene Plätzchen und „Marzipankartoffeln“: zerstampfte Pellkartoffeln mit etwas Bittermandelöl und Puderzucker und die Kügelchen in Kakao gewälzt. Ich habe nie besseres genascht!


Der Clou war aber, dass meine Mutter durch das ganze Chaos eine Schachtel mit Weihnachtsschmuck gerettet hatte. Wir hatten wohl das schönste Weihnachtsbäumchen mit goldenen Kugeln, Kerzen und Lametta. Wir sassen geradezu andächtig davor und fühlten uns wohl und heimelig.


Und dann gab mir meine Mutter noch eine grosse Schachtel: „Mach sie vorsichtig auf!“ sagte sie. Ich riss erwartungsvoll das Papier auf, öffnete die Schachtel…. Noch eine Lage Seidenpapier… da war sie!!! Meine Puppe Rosemarie!!! Es war eine Puppe mit beweglichen Armen und Beinen und mit Schlafaugen… Ich weinte vor Freude, denn ich hatte seit langer Zeit kein Spielzeug mehr gehabt und noch nie so eine schöne Puppe! Und ich hatte mich so nach ihr gesehnt!


Wir hatten die Puppe vor langer Zeit in einem Schaufenster gesehen. Ich war nur mit Mühe von diesem Fenster weg zu bekommen. Ich wusste, dass sie viel zu teuer war – aber ich wollte sie wenigstens ansehen. Und als ich sie jetzt in den Händen hielt, erinnerte ich mich, wie meine Mutter von jeder Ration Zucker ein oder zwei Esslöffel abgenommen und in ein besonderes Glas geschüttet hatte. Als meine Mutter etwa 500 g zusammengespart hatte, verkaufte sie ihn auf dem Schwarzen Markt: für 500 g Zucker bekam man dort 80 Mark – und 80 Mark kostete die Puppe…


Dieses Weihnachtsfest werde ich nie vergessen, und ich denke voller Dankbarkeit an meine Mutter.

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