Johannes Schlögl

Der Albtraum oder 20. Jänner 2025

Seit einer Woche ließ sich die Sonne über der Stadt nicht mehr blicken. Es hatte den Anschein, als ob sie keine Lust verspürte, mit ihren Strahlen ein wenig Wärme in die erkalteten Seelen der Menschen zu bringen, die tagtäglich für ihren Lebensunterhalt arbeiten, schuften oder betteln mussten. Wolken hingen grau und schmutzig über der Metropole und man wurde das Gefühl nicht los, dass der tägliche Regenschauer um die Mittagszeit Tränen waren, die auf die halbtote Stadt hernieder prasselten. Die Einwohner hatte sich schon längst an diese triste Situation gewöhnt. Schweigend warteten sie an den Haltestellen der Elektrobusse, welche sie an die gewünschten Ziele brachten. Selten sah man Menschen miteinander reden, lachen oder gar schmunzeln. Nur mehr wenige Privatfahrzeuge schlichen über den Asphalt der Straßen ihrem Ziel entgegen. Leise und unauffällig huschten sie über Kreuzungen, um rasch wieder in irgendeiner Nebenstraße zu verschwinden. Das Brummen der Stadt, erzeugt durch Tausende und Abertausende von motorisierten Fahrzeugen war schon längst einer unheimlichen Stille gewichen. Nur der Regen, welchen um die Mittagszeit die grauen Wolken weinten, gab der Stadt für ein paar Stunden das Gefühl der Betriebsamkeit zurück, wenn er auf den Asphalt der Straße und Dächer noch intakter Gebäude lärmend niederprasselte. Jeder, der von außerhalb kam, merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Stadt lag in Agonie und mit ihr Millionen von Menschen. Nur am späten Nachmittag kam auf den Marktplätzen etwas Leben auf. Da schlichen die Bewohner aus ihren ungeheizten Wohnungen und kalten Kellern, um sich die besten Stücke aus den Abfallcontainern zu holen. Salate, Rüben und Kartoffeln. Im Prinzip wurde alles mitgenommen, was noch essbar war und das Überleben für einen weiteren kalten verregneten Tag sicherte. Schweigend und friedlich wurden die letzen Reste an Gemüse, Rinder- und Schweineknochen geteilt. Niemand drängte sich vor, schrie wütend herum oder entriss dem anderen dessen grün gefleckte Kartoffeln. Es war richtig unheimlich. Gegen Abend verschwanden die letzten Sammler schließlich von den Märkten, um sich in ihren Wohnhöhlen zu verkriechen. Dann waren die Plätze wieder leer. Jeden Tag, wenn Helene Jon den menschenleeren Marktplatz vor ihrer Wohnung gegen 18 Uhr überquerte, überkam sie das Gefühl der Hilflosigkeit. Und ihre Gedanken schwiegen auf dem langen Weg zu ihrem Arbeitsplatz. Zu oft schon hatte sie während des einstündigen Fußwegs durch die Stadt über die Menschen nachgedacht. Zu viel hatte sie erlebt und gesehen, um noch einen sinnlosen Gedanken darüber zu verschwenden. Schon vor geraumer Zeit hatte Helene sich zur Pflicht gemacht, erst dann wieder zu denken, wenn sie ihre alte Olympia Schreibmaschine auf den wackeligen kleinen Schreibtisch ihres Arbeitsplatzes gestellt und ein Blatt gelbliches Papier eingespannt hatte. Jeden Tag schleppte sie das 5kg schwere Gerät von ihrer 15m² Wohnung in ihr kleines Büro. Aber eigentlich war es kein Büro, sondern eine mickrige 2m² große Ecke in einem Bunker, der sich über einer Haltestelle der letzten noch fahrenden Untergrundbahn befand. Ein 70m² großer von meterdickem Beton umschlossener Raum in dem alles vorrätig war, was man für die Herstellung einer Zeitung benötigte. Sie und sieben andere Journalisten versuchten tagtäglich, Informationen zu sammeln, um diese in einem 8 Seiten starken Druckwerk den Menschen der Stadt zugänglich zu machen. Seit 3 Jahren schon stieg sie täglich durch einen Schacht die 70 Stufen hinab zur Zeitungsredaktion in der auch die Druckerei untergebracht war. Der Bunker wurde nur spärlich von ein paar an der Decke notdürftig montierten Neonlampen ausgeleuchtet. Strom war Mangelware und deshalb durfte die Druckmaschine, ein 50 Jahre altes Museumsstück, erst zwischen Mitternacht und 3 Uhr Morgens in Betrieb genommen werden. Es gab einfach zu wenig Energie. Dabei konnte man noch froh sein, dass das letzte verbliebene Kohlekraftwerk am Rande der Stadt vor Jahren in ein Museum umgewandelt und nicht abgerissen worden war. So konnte es nach 400 Tagen mühsamer Instandsetzung wieder reaktiviert werden. Doch es gab zu wenig Kohle. Obwohl Tausende und Abertausende Menschen im Ruhrgebiet 24 Stunden am Tag das schwarze Gold über und unter Tage aus dem Boden schlugen bekam das Kraftwerk nur einen Bruchteil davon ab. Das ganze Land lechzte nach Kohle. Und so musste diese auch dementsprechend verteilt werden.
Helene Jon begab sich an ihren Schreibtisch und packte die Schreibmaschine aus. Außer ihr waren noch drei andere Kollegen anwesend. Die Luft im Bunker war wie immer stickig und feucht. Aber durch einen Schacht, der zum darunter liegenden U – Bahnhof führte, wurde der von meterdickem Beton umschlossene Raum recht gut gewärmt. Die Stimmung war gedrückt. Niemand sprach ein Wort. Jeder versuchte seinem Hiersein einen Sinn zu geben, indem er einen Teil der Informationen sichtete, welche ein Bote von der letzten verbliebenen Presseagentur gebracht hatte. Er kam zweimal pro Woche mit einem Paket aus der weit im Norden liegenden Hauptstadt. Auch Helene Jon holte sich etwa 30 Seiten aus dem Karton und begann mit ihrer Arbeit. Mühsam quälte sie sich durch die Nachrichten, Informationen und 3 Tage alte Eilmeldungen und kam wie jeden Tag zum gleichen Ergebnis. Das kann man nicht veröffentlichen. Keine einzige Nachricht enthielt etwas, das den Lesern der Zeitung wieder ein wenig Hoffnung geben könnte. Aber gerade in diesen Zeiten war die Presse das einzige Medium, welches die Bürger noch halbwegs mit Zuversicht und Hoffnung versorgen konnte. Radios waren Mangelware und mit Fernsehen konnte man frühestens im kommenden Sommer wieder rechnen. Die EM Bomben hatten beinahe sämtliche Elektronik zerstört. Zu Tausenden jagten die über dem Land explodierenden Sprengsätze elektromagnetische Impulse in die Metropolen und Dörfer hinein. Eine perfide bis ins Letzte ausgereifte Technik hatte vor ein paar Jahren alles lahm gelegt und die hoch technisierte Welt zurück in das Zeitalter der Kohlekraftwerke geworfen.
Wie immer, wenn Helene Jon keine einzige Meldung finden konnte, die ein klein wenig Hoffnung versprach, stand sie auf und ging in die hinterste Ecke des Bunkers. Obwohl nur wenig Licht an diesen Ort drang, konnte man doch deutlich etwas sehen, das mit einem Nagel oder einem ähnlichen harten spitzen Werkzeug in die Wand geritzt worden war. In etwa einem Meter zwanzig Höhe waren offensichtlich von Kinderhand Blumen eingraviert worden. Und unter diesen Blumen hatte jemand versucht, die Figuren von einer Frau und zwei Kindern in den harten Beton zu kratzen. Doch waren diese nur sehr schemenhaft zu erkennen. Das darunter mit einem Meisel in die Wand geschlagene Datum konnte jedoch deutlich entziffert werden. Dieses Kunstwerk aus Kinderhand war demnach vor über 80 Jahren entstanden. Helene hatte schon seit Wochen mit dem Gedanken gespielt, auch etwas in die Wand zu ritzen. Aber es fehlte ihr der Mut. Vielleicht würde sie es heute wagen. Langsam drehte sie sich um und wollte wieder an ihren Arbeitsplatz zurück gehen, als ein gewaltiger Windstoss aus dem Luftschacht jagte, der Bunker gleichzeitig erbebte und Betonbrocken von der Decke stürzten. Sie sah noch einen Kollegen, der an der Druckerpresse stand, wie er sie mit entsetzten Augen ansah und „Helene!“ schrie....

*

„Helene! Aufwachen! Es ist bereits acht Uhr. Wenn du dich nicht beeilst, kommst du zu spät in die Redaktion!“ Helenes Mann stand am Ehebett und schüttelte seine Frau. Er war bereits korrekt angekleidet, duftete nach exotischem Rasierwasser und in seinem Anzug versprühte er den kühlen Charme eines Bankiers. Als er sah, dass seine Frau wach war verließ er wieder das Schlafzimmer, während er noch einmal seine Krawatte nachjustierte. „Vergiss nicht, dass wir heute Abend bei deiner Schwester eingeladen sind. Wir treffen uns bei ihr. Verspäte dich nicht wieder. Bis heute Abend!“ Helene hörte nur mehr, wie die Wohnungstür mit einem lauten Rumms ins Schloss fiel. Dann war es wieder ruhig in der Wohnung. Während sie sich aus dem Bett erhob, schaltete sie das Radio ein. „Guten Morgen. Heute ist Montag, der 20. Jänner. Die Nachrichten. Weitere Atombombentests haben in ....“. Helene ging zum geöffneten Fenster. Es regnete und das Thermometer, welches außen am Fenster angebracht war, zeigte 19 Grad an. Und das Mitten im Winter! Sie blickte gegen den von grauen Wolken verdeckten Himmel. „ ... und haben dem Staat ein Ultimatum gestellt, dass ....“, dröhnte es aus dem Radio. Noch den Albtraum im Kopf ging sie zurück ans Bett und schaltete das Radio ab. „Diese Idioten, diese verdammten Idioten!“ Mit einer mächtigen Wut im Bauch ging sie ins Wohnzimmer, suchte Papier und Bleistift, setzte sich an den Tisch und zeichnete die Blumen mit der Frau und den beiden Kindern aus dem Gedächtnis auf. Nur das Datum änderte sie. 20. Jänner 2025.

(Anm. d. Autors: diese Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten zu Namen, Personen oder anderen Geschichten wären rein zufällig und nicht gewollt.)

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Johannes Schlögl).
Der Beitrag wurde von Johannes Schlögl auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.12.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Johannes Schlögl als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Sonnenfinsternis: Im Hinterhof der Politik von Ulrich Pätzold



Ein Roman als Zeitgeschichte
Protagonist ist ein fiktiver Bundestagsabgeordneter, M genannt. Er setzt viel daran, politische Karriere zu machen, obgleich er nicht das Zeug zu einem großen Politiker hat. Ihn verfolgt eine schillernde Vergangenheit. Um mit obskuren und unzureichenden Informationen über seine Herkunft und Geburt ins Reine zu kommen, liefert er sich den Hilfestellungen einer Wahrsagerin aus ...

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Science-Fiction" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Johannes Schlögl

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

„Mehanika“ oder Einmal Urknall und zurück bitte! von Johannes Schlögl (Science-Fiction)
Der Tod ist der engste Verbündete des Lebens von Daniel Polster (Science-Fiction)
Auf ein Wort - Einfache Küchenzeile mit Wortspülen von Siegfried Fischer (Humor)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen