Jopie den Dulk

Der Garten

Tante Ellei war schön. Sie war groß und schlank gewachsen. Und sie hatte langes, rotes lockiges Haar. Johanna liebte sie über alles – und - sie wurde wiedergeliebt – das wusste sie. Tante Ellei war wie der liebe Gott. Man konnte ihr alles sagen, und sie wurde niemals böse – und sie war immer da. Johanna konnte sie im Unterschied zu Gott, sehen und anfassen. Und der Onkel Vogel, das war ihr Mann. Der war auch nett. Die beiden wohnten im Vordereingang des Hauses Nummer zwanzig im zweiten Stock rechts. Und sie hatten keine Kinder. Wie Johannas Eltern aber hatten sie einen Garten. In diesem Garten gab es nur Blumen und Erdbeeren.
Johannas Lieblingsplatz – und ganz nebenbei bemerkt auch einer der sichersten, war der Kirschenbaum im Garten der Eltern. Man kam da ganz leicht hinauf über den Tisch, über den Hühnerstall, und dann ganz vorsichtig über einen querhängenden Ast auf den Schuppen, wo die Kaninchen drin waren und das Werkzeug. Und dann konnte man schon im Baum weiterklettern so hoch man wollte. Oft saß Johanna auf diesem Baum, stopfte sich mit süßen prallen Kirschen voll, wenn es gerade welche gab, oder sie träumte von der schönen Prinzessin, von Prinzen, Feen und Zwergen, und von tollen Rittern natürlich. Wirklich aber wartete sie auf den großen weißen Hut. Und wenn der große weiße Hut mit Tante Ellei darunter auftauchte, dann war alles vergessen. „Tante Ellei, Taante Ellei! Ich komme jetzt runter.” „Komm nur Füchslein, aber sei vorsichtig beim klettern“, rief Tante Ellei und sah so aus, als freute sie sich auf den kleinen Besuch. Onkel Vogel brummelte etwas von einem rothaarigen Affen. Alle, die Johanna lieb hatten, nannten sie Füchslein. Wohl wegen der roten Irrlichter in dem dunklen Schopf, oder wegen ihrer Vorliebe für rote Kleider. Vielleicht aber auch, weil sie immer flink unterwegs war. Gerade hatte man sie gesehen, und schon war sie wieder verschwunden. Die Leute, die sie wohl nicht so gern mochten, nannten sie „Kind“. „Was hat das Kind denn jetzt wieder angestellt“, „Kind, wie du wieder aussiehst“, „Kind, du bringst mich noch ins Grab“, „Kind, du bist ein Nagel für meinen Sarg“ und anderes mehr. Wenn ich so darüber nachdenke, musste Johanna ein schreckliches Kind gewesen sein.
Tante Ellei saß unter ihrem großen Hut in einem Schaukelstuhl, den Onkel Vogel ihr mitten in die Blumen gestellt hatte. Und Füchslein sauste hinein in die ausgebreiteten Arme – ohne Rücksicht auf die offensichtliche Zerbrechlichkeit der jungen Frau, die von diesem stürmischen Kinde überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurde. „Erzähl mal Füchslein, wie geht es der schönen Prinzessin heute, was machen die Feen, Zwerge und Ritter?“ „Och, denen geht’s gut.“ Niemals hatte Johanna verraten, dass die Prinzessin rote lange Haare hatte und einen großen Sonnenhut und dass sie, Johanna, als tapferer Ritter ständig damit beschäftigt war, sie zu retten – wovor auch immer. –
Tante Ellei war wie ein Buch, voll mit Geschichten und Bildern. Jeden Tag gab’s etwas Neues zu hören. Tante Ellei hat niemals aus einem Buch vorgelesen. Sie hat ihre Geschichten immer erzählt und gemeinsam haben sie die Bilder gemalt. Da verflog die Zeit im Augenblick. Und Onkel Vogel musste die Sitzungen immer gewaltsam unterbrechen. „Dieses kleine Füchslein ist unersättlich“, knurrte er jedes Mal mit einem Augenzwinkern.
An einem Tag im Sommer brach Johanna plötzlich aus einer solchen Geschichtenstunde aus. „Ich möchte einen Garten“, platzte sie heraus, „so schön, wie deiner ist“. „Dann mach dir doch einen“, antwortete Tante Ellei, als wäre es die normalste Sache der Welt. „Hast du den hier auch selber gemacht?“ Und Johanna zeigte auf all das Blühen um sie herum. „Nein, den hat der Onkel Vogel für mich gemacht“, sagte Tante Ellei und lächelte so ein bisschen listig, „und wenn du ihn lieb bittest, hilft er dir vielleicht“. Onkel Vogel arbeitete in einer entfernten Ecke des Gartens und hatte keine Ahnung, was hier von den zwei Frauen ausgeheckt wurde. „Onkel Vogel, ich brauche einen Garten, dringend!“ – „Bitte!“ setzte sie vorsichtshalber noch nach. „Dann mach dir einen!“ brüllte er zurück. Das kam Johanna ja nun schon bekannt vor. „Und wie?“ „Du musst lernen zu warten, Füchslein“, war die aufschlussreiche Antwort. Das war vielleicht ein guter Rat fürs Leben, aber im Moment konnte Johanna überhaupt nichts damit anfangen. Nach einer ganzen Weile, Johanna hatte sich wieder Tante Ellei´s Geschichten zugewandt, fand sie dann doch, sie habe genug gewartet. „Jetzt habe ich gewartet, Onkel Vogel“ – keine Reaktion. Also noch einmal: „Onkel Vogel“, rief sie durch den Garten, „ich weiß jetzt, wie man wartet – ehrlich!“ „Sehr gut Füchslein“ antwortete Onkel Vogel. Mehr kam nicht. Irgendwie hatte Johanna ja auch das Gefühl, dass das heute nichts mehr mit dem Garten würde. Warum die Erwachsenen sich doch nicht so ausdrücken konnten, dass man auch wusste, woran man war. Die klare Anweisung lautete, lerne zu warten. Und Johanna hatte gelernt zu warten – nur ein paar Minuten zwar, aber sie war fertig mit lernen.
Ein paar Tage später rief Onkel Vogel hinauf zum Kirschenbaum: „Komm runter, du rothaariger Affe, jetzt hast du genug gewartet, jetzt bekommst du deinen Garten!“ Als Johanna in Ellei´s Garten ankam, staunte sie nicht schlecht. Onkel Vogel hatte bereits ein ziemlich großes Stück Wiese umgegraben. Nicht so groß etwa, dass Tante Ellei´s Schaukelstuhl hineinpassen würde, aber es war ja auch Johannas Garten – und die hatte ohne weiteres darin Platz. Onkel Vogel hatte außerdem eine kleine Schaufel und einen Rechen besorgt – Werkzeug, mit dem Johanna umgehen konnte.
Johanna machte sich also an die Arbeit. Dabei wurde ihre Ausdauer schon ordentlich auf die Probe gestellt. Es hat tagelang gedauert, bis alle Wurzeln und Steine entfernt waren. Und dann musste die Erde auch glatt gerecht werden. Dann gab’s wieder Arbeit für Onkel Vogel. Er musste das ganze aufteilen in kleine Beete. Die Sonne war schon ein bisschen müde geworden, und Tante Ellei kam nicht mehr so häufig in den Garten, und Johanna half Onkel Vogel, Tante Ellei´s und ihren Garten für die kalte Jahreszeit vorzubereiten. An einem Nachmittag brachte er einen Korb mit Zwiebeln in den Garten und zeigte Johanna, wie sie in die Erde gesteckt werden mussten. „Für deinen Garten kannst du auch welche haben.“ „Onkel Vogel, ich will doch keine Zwiebeln, ich will nur Blumen in meinem Garten haben,“ lehnte Johanna erbost ab „für Tante Ellei“ fügte sie etwas leiser mit einem Blick auf den leeren Schaukelstuhl an. Onkel Vogel nahm Johanna bei der Hand und ging mit ihr hinüber zu dem Beet, wo noch die letzten Dahlien blühten. „Siehst du, das ist so,“ erklärte er, „wenn etwas wachsen soll, muss zuerst etwas in die Erde hinein. Manchmal erledigen das die Lebewesen und manchmal macht das auch der Wind. Manchmal sind das Samenkörner und manchmal eben Zwiebeln.“ Johanna begann zu verstehen. „Natürlich, die Blumen müssen essen. Und dann wollen die eben Körner oder Zwiebeln.“ Den Kommentar ließ Onkel Vogel unbeantwortet. Statt dessen nahm er eine erblühte Dahlie aus der Erde und zeigte Johanna die Knollen. Für die war nun alles klar. „Und wenn sie trinken wollen, holen sie den Regen, oder du musst gießen.“ „Richtig! Und den Regen fange ich hier ein.“ Er zeigte auf die große Tonne, die mit einer Holzplatte abgedeckt war. Wie vom Donner gerührt blieb Johanna stehen. „Was, du fängst den Regen und sperrst ihn ein – weiß das Tante Ellei?“ Johanna verstand nicht, warum Onkel Vogel so fürchterlich lachte, der konnte gar nicht mehr aufhören. Sie dachte daran, wie schrecklich es war, in einem Zimmer oder im Keller eingesperrt zu sein. Aber sie wusste wenigstens, dass sie eingesperrt wurde, weil sie etwas angestellt hatte. Aber der Regen? Johanna fand Regen schön. Auf jeden Fall war es besser, den Eltern nichts davon zu erzählen – in so einer Tonne würde sie es sicher nicht aushalten. Onkel Vogel hatte noch immer ein ganz rotes Gesicht vom Lachen, als Johanna streng zu ihm aufschaute: „Also gut, ich sage Tante Ellei nichts davon – aber lass ihn wieder raus!“ Für diesen Tag war die Gartenarbeit für sie beendet. Johanna lief einfach davon, raus aus dem Garten, vorbei an den anderen Gärten und hinein ins Vorderhaus. Völlig abgehetzt kam sie oben im zweiten Stock an. Sie öffnete die Wohnungstür und rief nach Tante Ellei. „Ich bin hier, im Wohnzimmer. Vergiss nicht die Türe zuzumachen und komm her.“ Tante Ellei lag auf dem Sofa und legte das Buch zur Seite, in dem sie gerade gelesen hatte. „Na, schon fertig mit der Gartenarbeit?“ fragte sie und ließ es zu, dass Johanna sich neben sie aufs Sofa legte. „Wo ist Onkel Vogel, kommt der auch gleich?“ „Der hat noch was zu erledigen,“ war die grimmige Antwort. Und um zu zeigen, dass das alles war, was sie zu sagen hatte, kuschelte sich Johanna ganz fest in Elleis Arm. Die nahm ihr Buch wieder zur Hand und überlies Johanna für eine Weile ihren krausen Gedanken. Als Onkel Vogel kam, stand Johanna auf und verabschiedete sich. Sie ging noch einmal zum Garten. Die Türe war verschlossen, aber sonst hatte sich nichts verändert.
Johanna war ziemlich sauer, und sie zog sich für die nächsten Tage auf ihren Hochsitz zurück. Onkel Vogel wusste genau, dass sie dort oben saß und ihn beobachtete. Aber er rief sie nicht herunter. Irgendwann hatte er dann wohl doch genug von dem Theater. Das war an dem Tag, als er den Deckel von der Regentonne nahm. „Hör jetzt endlich auf mit dem Mist. Komm da runter, und wir reden vernünftig miteinander.“ „Erst muss der Regen aus der Tonne.“ Johanna war wirklich stur. „Na dann nicht, bleib wo du bist. Aber es wird Regen geben in den nächsten Tagen und du tätest gut daran zu beobachten, was der Regen so alles macht.“ „so ein Quatsch,“ dachte sich Johanna, aber sie sagte nichts. Onkel Vogel hatte Recht, in den nächsten zwei Tagen regnete es ordentlich. Und obwohl Johanna sich ziemlich albern vorkam, beobachtete sie den Regen doch genau. Onkel Vogel konnte ja ziemlich albern sein, wenn es aber darum ging, Johanna in die richtige Richtung zu stupsen, so nahm er das sehr ernst.
Als das Wetter besser wurde und die beiden sich wieder im Garten trafen, fragte er sogleich: „Also Füchslein, was kannst du über den Regen berichten?“ „Na was schon, der kommt vom Himmel und macht alles nass.“ „Und dann?“ „Dann ist er weg.“ „Wohin ist er gegangen?“ „In die Pfützen und in den Boden.“ „Aha!“ rief Onkel Vogel. „Da haben wir’s. Und jetzt komm mit.“ Onkel Vogel nahm die Gießkanne, füllte sie mit dem Wasser aus der Regentonne und begann, damit die Dahlien zu gießen. „Und Füchslein, was denkst du passiert jetzt mit dem Regen?“ „Den trinken die Blumen.“ „Siehst du, ich sammle den Regen in der Tonne, damit ich, wenn es notwendig ist, die Blumen gießen kann. Es regnet ja, Gott sei Dank, nicht jeden Tag. Das Regenwasser ist für die Pflanzen besser, als das Wasser aus der Wasserleitung.“ Das war klar, und Onkel Vogel wurde vergeben.
Endlich konnte man mit der Gartenarbeit fortfahren. Johanna setzte allerlei Zwiebeln ein, und jede Menge Samen kamen in die Erde. Onkel Vogel wusste, dass Johanna Tausendschönchen gerne hatte und zeigte auf eine Tüte. „Das hier werden Tausendschönchen,“ verriet er, aber auf die Frage, was denn sonst noch alles blühen würde, schwieg er sich aus. „Warte bis zum Frühjahr,“ war die nun schon ausreichend bekannte Empfehlung. Aber Johanna ließ nicht locker. „Die da auch?“ zeigte sie auf den Teerosenstrauch, Tante Elleis Lieblingsblumen und selbstredend, wie hätte es auch anders sein können, die von Johanna. Die Rosen blühten immer zu Johannas Geburtstag und Tante Ellei vergaß niemals, ihr an diesem Tag eine dieser herrlichen Blüten als Geschenk zu überlassen. „Warte,“ war Onkel Vogels einziger Kommentar, während er begann, die Beete mit dicken Strohmatten abzudecken, um sie dem rauen Walten des Winters zu überlassen.
Und der tat wie immer sein bestes. Aber auch der härteste Winter muss einmal das Feld räumen und Platz machen für eine freundlichere Zeit. Als es endlich soweit war, wurde das feuchte Stroh von den Beeten entfernt und Johanna staunte. Was da schon alles aus der Erde herausguckte. Schneeglöckchen konnte man schon richtig erkennen, Krokusse auch. Aber sonst sah man nur grüne Spitzen und Johanna, der das zwar alles schon ganz gut gefiel, wollte trotzdem wissen, ob das jetzt schon alles war, oder ob da noch was kommt. Und obwohl sie die Antwort sowieso schon wusste, konnte sie sich nicht verkneifen zu fragen. Prompt kam die Antwort. „Warts ab.“ ‚Warum muss man als Kind nur immer warten. Die Erwachsenen warten nie. Die wollen immer alles ‚sofort’ von einem.’ Aber diese Gedanken behielt Johanna lieber für sich.
Als es noch zu kühl war, um im Garten zu sitzen, blieb Tante Ellei oben in ihrer Wohnung. Aber sie verpasste nichts. Johanna besuchte sie, wann immer es möglich war und berichtete ihr von jeder noch so winzigen Veränderung im frühlingshaften Garten.
So ging das Frühjahr dahin, alle möglichen Blumen blühten auf, und es war wie immer eine bunte Pracht. Die Sonne tat ihr bestes, und es wurde wärmer. Und mit den wärmenden Sonnenstrahlen kam auch Tante Ellei wieder in den Garten, und Onkel Vogel übertrug Johanna schon einmal wichtige Aufgaben wie Unkraut jäten, verwelkte Blüten entfernen, neue Pflänzchen setzen und viele kleine Dinge mehr, um mehr Zeit mit Tante Ellei verbringen zu können. Sie haben viel miteinander geredet. Und wenn Tante Ellei müde war, und das wurde sie sehr oft, dann ist er aufgestanden und hat ganz leise geseufzt, und manchmal hat er vielleicht auch geweint. So vorlaut und wissbegierig Johanna auch war, in solchen Momenten hat sie sich still verhalten. Dennoch haben Onkel Vogels Füchsinnen nach wie vor Spaß an ihren Unterhaltungen und Geschichten gehabt und viel gelacht.
Der Sommer kam, andere Blumen entfalteten ihre Pracht, der Garten sah jetzt ganz anders aus, und Johannas Garten stand dem von Tante Ellei in nichts nach. Fast in nichts.
Es war soweit, Tante Elleis Rosenbusch begann endlich zu blühen. Johanna betrachtete ihren eigenen Garten. „Und wo sind meine Teerosen?“ „Hast du denn welche gepflanzt?“ wunderte sich Tante Ellei. „Bestimmt hat mir der Onkel Vogel welche gegeben,“ sagte Johanna voller Überzeugung. Fragend schaute Tante Ellei hinüber zu ihm, sah das verneinende Kopfschütteln und tröstete Johanna: „Nicht traurig sein, das holt er bestimmt nach.“ „Wann?“ wendete sich Johanna an Onkel Vogel. „Alles zu seiner Zeit, wart’s ab Füchslein.“ Er lachte und ging weiter seiner Arbeit nach.
Langsam neigte sich der Sommer dem Ende zu, und auch Tante Elleis Gartenstunden wurden wieder kürzer.
In diese Zeit viel Johannas Geburtstag, und wie jedes Jahr hatte Johanna fürchterliche Sorge, dass dieser wichtige Tag vergessen würde. Das allerdings hätte schwierig werden können, weil Johanna das Ereignis immer wieder erwähnte und in Tante Elleis Garten regelmäßig den Teerosenstrauch inspizierte. Schließlich erwartete sie ja auch in diesem Jahr, an ihrem achten Geburtstag eine der Blüten als Geschenk. Der Tag verlief wie immer zuerst einmal ganz normal. Aufstehen, Frühstück und ab in die Schule. Dort nahm niemand so recht Notiz von ihrem Geburtstag. Kein Wunder, denn Johanna bekam niemals eine Geburtstagspartie mit ihren Freundinnen und Schulkameradinnen. Folglich war die Sache absolut uninteressant für die anderen.
Daheim im Wohnzimmer stand ein großer Flügel, ein Instrument das sich, außer dass man darauf musizieren konnte, auch in vielerlei anderer Hinsicht als äußerst nützlich erwies, wie sich im Laufe der Zeit herausstellte. Als Johanna aus der Schule nach hause kam, waren auf dem Flügel die Päckchen mit den Geschenken aufgebaut. Und nach dem Mittagessen durfte Johanna die Päckchen im Beisein der Pflegemutter auspacken. Da waren vorwiegend nützliche Dinge, wie Kleidung, Wäsche, etwas für die Schule. Spielsachen gab es eher nicht. Aber was Johanna ungemein schätzte, das war, dass sie immer damit rechnen konnte, auf jedem Gabentisch mindestens ein Buch vorzufinden. Bücher waren eine tolle Sache. Dort fand man immer einen Platz, wohin man flüchten konnte, wenn die Realität mal wieder so richtig nervte. Nachdem das Auspacken und das Danke sagen erledigt war, wurde Johanna zu ihren Hausaufgaben und danach in ihre Freizeit entlassen. Was letztendlich nichts anderes bedeutete, als dass die Füchsin sich auf den Weg zur Füchsin machte. Da das Wetter nicht besonders gut war an diesem Tag, konnte davon ausgegangen werden, dass Tante Ellei in ihrer Wohnung auf sie wartete. Aber Johanna fand die Türe verschlossen und auch auf ihr Läuten gab es keine Antwort. Das war noch nie da. „Die haben mich echt vergessen,“ dachte sie traurig und setzte sich auf den Treppenabsatz. Nach einer ganzen Weile, nach nochmaligen läuten, klopfen und rufen gab sie endlich auf – keiner da, und sie ging nach unten. Im Garten der Eltern kletterte sie, wie immer, wenn sie etwas schwieriges zu bewältigen hatte, auf ihren Hochsitz. Dort konnte sie sicher sein, dass niemand ihr folgte und sie ihre Ruhe hatte. Oben angekommen, blickte sie hinüber in Elleis Garten und was sie da sah, machte sie wirklich sauer. Onkel Vogel und Tante Ellei schienen echt ihren Spaß zu haben. Sie plauderten und lachten und es hatte den Anschein, dass sie überhaupt nicht daran dachten, was für ein wichtiger Tag heute war. Schmollend lehnte sich Johanna in einer Astgabel zurück. „Na dann eben nicht,“ dachte sie und beobachtete die beiden aus den Augenwinkeln heraus. Plötzlich, völlig unerwartet hob Onkel Vogel seine Hände wie einen Trichter vor den Mund und posaunte laut in die Gegend: „Alle rothaarigen Affen, die heute Geburtstag haben, runter von den Bäumen und her zu mir!“ Johanna nahm die Abkürzung – war natürlich verboten – aber das war ein Notfall. Rüber auf Nachbars Zwetschgenbaum, auf denen ihre Gartenlaube, runter an der Regenrinne, die über der großen Regentonne endete – Gott sei Dank war die verschlossen – über die Gemüsebeete, durch die Lücke im Zaun, über den schmalen Weg und hinein in Tante Elleis Garten. Strahlend und voller Erwartung baute sie sich vor Onkel Vogel auf. Der schaute in die Runde: „Noch jemand, der heute acht Jahre alt ist?“ Eifersüchtig drehte sich Johanna um. „Da vermasselt mir doch nicht etwa irgendeiner die Tour,“ dachte sie, sagte aber nichts. Die beiden Erwachsenen hatten einen Mordsspaß. Lachend nahmen sie den so verunsicherten Rotschopf in die Arme und das Fest konnte endlich beginnen. Eine Riesenschachtel, die tatsächlich größer war als Johanna, musste geöffnet werden. Da war nämlich das Geschenk von Tante Ellei und Onkel Vogel drinnen. Aber ohne Fleiß kein Preis. Das sah Onkel Vogel wieder einmal ähnlich – für jedes Jahr ein Knoten – also genau acht. Und er musste sich bei jedem Knoten wirklich sehr viel Mühe gegeben haben. „Was issn drin?“ wollte Johanna von Onkel Vogel wissen. „Mach’s auf, und du weißt Bescheid.“ „Dazu brauche ich dein Messer.“ „Nimm das, was du selber hast – deine Finger und – Geduld... Du brauchst kein Messer – und meins schon gar nicht.“ Diese Hinterhältigkeiten kannte sie ja nun schon zur Genüge, und sie machte sich ohne weiteren Kommentar an die Arbeit – hatte ja doch keinen Sinn zu meckern, und sie schaffte es doch recht schnell, die Schnüre zu lösen und die Schachtel zu öffnen. Ratlos schaute Johanna abwechselnd zu den beiden und zu dem Inhalt der Schachtel. Ein Haufen Gestrüpp lag da vor ihr und sonst nichts... „Das, Füchslein, sind deine Rosen, die gehören dir ganz allein, und wenn du sie jetzt einpflanzt, hast du an deinem neunten Geburtstag deine eigenen Geburtstagsrosen – genau wie diese.“ Und Tante Ellei pflückte von ihrem Teerosenstrauch eine Blüte und schenkte sie Johanna. Onkel Vogel hatte den Spaten schon bereitgestellt. Er grub ein großes Loch an einer Seite von Johannas Garten, und gemeinsam setzten sie den Strauch ein und bedeckten seine Wurzeln mit Erde. Zum Schluss bekam er noch einen ordentlichen Schluck aus der Regentonne. Und danach begab man sich hinauf in die Wohnung. Dort gab’s dann noch einen Kuchen mit Kerzen darauf zum auspusten. Irgendwann dann wurde Tante Ellei müde, das Fest wurde beendet, und Johanna machte sich mit ihrer gelben Rose in der Hand auf den Heimweg. Nicht wissend, dass das die letzte Teerose war, die Johanna jemals an ihrem Geburtstag zum Geschenk gemacht wurde. Zu Hause angekommen, wurde sie sofort mit der Frage überfallen, was für ein Geschenk sie bekommen hätte. „Die hier, aber in groß“, antwortete Johanna und stellte die Blüte in ein Glas mit Wasser.
Allmählich wurde der Herbst ungemütlich und der Winter kam schnell. Während der Herbstarbeiten im Garten beobachtete Johanna ihren Rosenstrauch genau – vielleicht wächst er ja doch schon ein bisschen. Sicher ist er der schönste Teerosenstrauch der Welt geworden, aber niemals je hat das Füchslein eine Blüte von ihm gesehen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.12.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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