Roland Sandner

Der Lottogewinn

Es war gegen acht Uhr abends, als das Telefon klingelte. Ich saß gerade am Schreibtisch und sortierte die Notizen der Gespräche, die ich im Lauf des Tages mit Klienten geführt hatte, in meinen Karteikasten. Ich kann mich immer noch nicht dazu durchringen, den neuen Computer für meine Fallnachbearbeitung zu verwenden, irgendwie erscheint es mir unangemessen, die Seelenqualen meiner Klienten einem elektronischen Gedächtnis anzuvertrauen. Dabei glaube ich nicht, dass eine Festplatte unsicherer oder unzuverlässiger ist, ich bin einfach nur altmodisch. In meiner langjährigen Berufserfahrung habe ich gelernt, dass die wesentlichen Details einer therapeutischen Sitzung ohnehin nur unzureichend dokumentiert werden können. Zerfahrene Gesten, unstete Blicke, die Haltung, die jemand in dem bequemen roten Sessel einnimmt, den ich für meine Klienten vor ein paar Jahren gekauft habe, die emotionale Spannung, die sich im Lauf der üblichen 50 Minuten abbaut, all das habe ich in meinem schier unerschöpflichen Gedächtnis gespeichert und kann es in Sekundenbruchteilen wieder abrufen, wenn der Klient zum nächsten Termin erscheint.
Ich überlegte, ob ich um diese Zeit noch ans Telefon gehen sollte. Meine Klienten wissen, dass ich nur bis 18 Uhr alle zehn Minuten vor der vollen Stunde persönlich erreichbar bin, für Terminvereinbarungen oder -absagen nutzen sie meistens den Anrufbeantworter, da mein Telefon ohnehin während einer Sitzung abgeschaltet ist. Ich beschloss, das Klingeln zu ignorieren und zu warten, bis das Telefon auf den Ansagetext umschaltete.
Offensichtlich hatte ich vergessen, das Gerät einzuschalten. Ich hatte in der Zwischenzeit meine Konzentration beim Sortieren der Karteikarten ohnehin verloren, also hob ich ab.
"Ja, bitte?" sagte ich mit einem Tonfall in der Stimme, der dem Anrufer meinen Unwillen zeigen sollte.
"Gott sei Dank sind Sie da." Ich erkannte die Stimme, es war ein Mann, der seit sieben Wochen bei mir in Behandlung war. Er kam zu mir, weil er sich völlig überschuldet hatte und überzeugt war, dass die Ursache für sein Unvermögen, finanzielle Angelegenheit zu handhaben, irgendwo in seiner Kindheit verborgen war. Ich hatte ihn gestern Abend als letzten Klienten und er machte den Eindruck, als ob er sehr gelöst und zufrieden mit dem Fortschritt seiner Therapie sei. Jetzt konnte ich in seiner Stimme den Ausdruck völliger Verzweiflung hören.
"Entschuldigen Sie die Störung. Ich, ähm, ich bin mir nicht sicher, ob es richtig ist, sie überhaupt anzurufen. Ich weiß nicht, wie ich's ausdrücken soll, aber ich bin völlig in Panik, ich, ich weiß nicht mehr, wer ich bin und was passiert ist, nein, was passiert ist, weiß ich und ich weiß auch warum, aber ich wollte das doch nicht. Mein Gott, was mach ich nur?"
Ich ließ ihm eine kleine Pause, bevor ich ihn fragte: "Können Sie mir sagen, was geschehen ist?"
"Ja, nein, zumindest nicht hier am Telefon. Oh Gott.", er fing an zu weinen. "Ich weiß nicht mehr weiter. Was mach ich nur?"
Allem Anschein nach hatte der Mann einen akuten psychotischen Schub. Ich atmete tief durch.
"Bitte hören Sie mir jetzt ganz genau zu. Ich habe Ihnen bei unserer ersten Sitzung die Nummer der psychiatrischen Notfallambulanz gegeben. Ich möchte, dass Sie jetzt auflegen und dann sofort dort anrufen. Die Leute dort sind sehr nett, man wird sich sehr kompetent und menschlich um Sie kümmern."
"Nein!" Er schrie förmlich ins Telefon. "Ich möchte mit Ihnen reden."
"Sie wissen, dass ich für solche psychischen Notfälle nicht ausgebildet bin. Ich bin kein Arzt und ich kann es nicht verantworten, wenn Sie sich in dieser Situation etwas antun würden."
"Was sollte ich mir denn noch antun? Ich hab's mir doch schon angetan, verstehen Sie das nicht?"
Aus irgendeinem Grund, der tief in unserer Verantwortung für unsere Klienten begründet ist, nehmen wir Therapeuten das Wort "Selbstmord" nur äußerst ungern in den Mund. Vielleicht haben wir auch nur einfach Angst, mit unserem Versagen konfrontiert zu werden, wenn sich einer unserer Klienten umbringt. Ich schwieg ein paar Sekunden.
"Sie könnten vielleicht auf den Gedanken kommen, sich das Leben zu nehmen."
"Mir das Leben zu nehmen?" Er lachte hysterisch. "Nein, nein, nein, alles bloß das nicht. Das Gegenteil ist der Fall, das komplette Gegenteil." Die letzten Worte flüsterte er nur noch.
Ich wurde neugierig. "Kommen Sie vorbei", sagte ich. "Aber fahren Sie nicht selbst, nehmen Sie ein Taxi."

Ich war während der letzten Minuten des Gesprächs aufgestanden und sah zum Fenster hinaus. Auf dem Rasen im Garten lagen noch immer Laubreste und verdorrte Äste, die der Sturm in der vergangenen Woche von den Bäumen geweht hatte. Die paar Buchen und der alte Apfelbaum hinten am Zaun, von dem eigentlich nur die Nachbarskinder profitierten, waren nun völlig kahl. Ich mag keine Äpfel, meinetwegen sollen andere sie essen, wenn sie das Bedürfnis danach haben. Der Nebel war mittlerweile ziemlich dicht geworden, und auf den vertrockneten Überresten der Stauden in dem kleinen Beet vor meiner Terrasse bildete sich leichter Raureif. Ich liebe diese Jahreszeit, mit ihrer frühen Dunkelheit und den nahezu lautlosen Nächten. Im Sommer, oftmals bis in den Oktober hinein, kann ich immer den Lärm des nahen Biergartens hören, das Lachen der Gäste und das Klirren der Bierkrüge. Ich lache nicht gerne. In meinem Beruf, falls man das überhaupt so nennen kann, gibt es wenig Raum für Lachen und ich denke, ich würde diejenigen, die sich mir anvertraut haben, mit zu viel Humor nur verunsichern.
Was ich tat, war unverantwortlich. Der Mann gehörte in die Notfallambulanz und zwar auf schnellstem Weg. Aber das kurze Gespräch hatte eindeutig mein Interesse geweckt, und eine meiner vielen Schwächen besteht darin, dass ich meine Neugier nicht zügeln kann. Was war passiert, das den Mann so in Panik versetzt hatte? Und was war das Gegenteil von sich das Leben nehmen? Was hatte er getan? Ich fuhr mit beiden Händen durch die Haare und atmete tief ein. Cassandra, meine Hündin, die bislang vor sich hindösend neben dem Sofa gelegen hatte, schien zu spüren, dass irgendetwas Beunruhigendes in der Luft lag. Sie stand auf und lief aufgeregt mit angelegten Ohren durchs Wohnzimmer, ihren Schwanz seltsam zwischen den Hinterbeinen eingezogen. Ich habe keine Ahnung, welcher Hundrasse sie angehört. Vor ein paar Jahren habe ich sie bei einem Urlaub auf Rhodos streunend aufgelesen, eigentlich war sie mir über den Weg gelaufen und dann nicht mehr von meiner Seite gewichen. Es war erstaunlich einfach gewesen, sie unter Umgehung aller Formalitäten nach Deutschland zu bringen und seither hatte ich einen griechischen Strassenköter.

Es war etwa eine viertel Stunde vergangen seit dem Telefonat, als es an der Tür klingelte. Der Mann sah völlig verstört aus. Er war kreidebleich, offensichtlich hatte er trotz der Kälte stark geschwitzt, da ihm die Haare in feuchten Strähnen ins Gesicht hingen. Er sah an mir vorbei in den Hausflur, in dem wie immer eine Menge ungeputzter Schuhe kreuz und quer durcheinander standen. Er sagte kein Wort, machte allerdings einen seltsam gehetzten Eindruck. Als er an der Treppe zum ersten Stock vorbeikam, blickte er suchend nach oben und sah dann ein paar Schritte weiter durch die offene Küchentür prüfend in den Raum.
"Sind Sie sicher, dass Sie allein sind?" fragte er, als er sich im Wohnzimmer in den roten Sessel gesetzt hatte.
Ich bestätigte und blickte ihn gleichzeitig fragend an. Er war etwa eins neunzig groß, aber so wie er jetzt eingesunken im Sessel saß, hätte man auch glauben können, er wäre von eher unterdurchschnittlicher Größe. Er schien seine gesamte Körperspannung verloren zu haben. Ich brachte ihm unaufgefordert ein Glas Wasser und sah, wie seine Hände zitterten, als er das Glas nahm. Eine Weile saßen wir uns schweigend in der klassischen Therapiekonstellation gegenüber.
Als er schließlich zu sprechen anfing, war ich überrascht, wie brüchig seine Stimme mit einem Mal klang.
"Glauben Sie an Übersinnliches?" fragte er. Bevor ich antworten konnte, sprach er mit festerer Stimme weiter. "Nein, ich sollte meine Frage vielleicht präzisieren. Glauben Sie an den Teufel?"
Ich ließ mir Zeit mit der Antwort und sagte schließlich: "Ich glaube nicht an Gott, also warum sollte ich an den Teufel glauben?"
"Oh, sie sollten", sagte er. "Bis heute Abend habe ich das auch nur als albernes Gerede abgetan, als haltlose Drohung der Kirche, um ihre Schäfchen bei der Stange zu halten. Bis mir vor etwa einer Stunde das Schrecklichste passiert ist, was einem Menschen zustoßen kann."
"Erzählen Sie's mir."
Er machte eine Pause.
"Wie Sie ja wissen, habe ich fürchterliche finanzielle Schwierigkeiten. Meine Kreditwürdigkeit ist seit Jahren weg, mein Konto ist um Unsummen überzogen und zurzeit bekomme ich kein Geld von der Bank. Als ich gestern nach unserer Sitzung nach Hause fuhr, war ich schrecklich verzweifelt. Ich hatte keine Ahnung mehr, wie ich meinen Verpflichtungen nachkommen sollte."
"Sie wirkten so gelöst auf mich", sagte ich.
"Äußerlich ja, und es tut mir auch gut, wenn ich bei Ihnen bin, aber meistens fällt nachher die ganze Euphorie, die ich in der Therapie gewinne, innerhalb von wenig Minuten in sich zusammen."
"Das hatten Sie mir gegenüber bisher nie erwähnt."
Ohne auf den Einwurf einzugehen, fuhr er fort: "Sie sollten wissen, ich spiele regelmäßig Lotto, jeden Mittwoch und Samstag. Ich weiß, es ist lächerlich, ich sollte das wenige Geld, das mir bleibt, nicht auch noch in diesen Unsinn stecken. Aber es ist so eine Art Strohhalm, an den ich mich klammere. Vor jeder Ziehung denke ich mir, diesmal hast Du Glück, diesmal trifft's endlich auch mal dich. Ich schau mir die Ziehungen nie im Fernsehen an, sondern immer erst am nächsten Tag abends im Internet. So bleibt mir wenigstens die Illusion eines Gewinns einen Tag länger erhalten."
"Ich verstehe", sagte ich, "aber was hat das mit dem Teufel zu tun?"
"Gestern Abend, in meiner Verzweiflung." Er stockte, bis ich ihn durch ein leichtes Nicken zum Weitersprechen aufforderte.
"Ich habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich war so am Ende. Also sagte ich ,Hör zu Teufel, wenn's dich gibt, dann hilf mir aus der Scheiße. Lass mich heute im Lotto gewinnen. Wenn ich mindestens hunderttausend gewinne, dann kannst Du meine Seele haben.' Und ich hab mir dabei gedacht, mein Gott, jetzt wirst du verrückt, du bist komplett durchgedreht."
Ich sagte nichts, sondern sah ihn einfach nur prüfend an. Das Ganze klang absurd und eindeutig nach einem psychotischen Schub.
Er stand auf und ging auf meinen Computer zu.
"Können Sie bitte Ihren Rechner einschalten?"
Ich drückte auf den Schalter und wartete bis die Oberfläche des Betriebssystems bereit war.
"Darf ich mich setzen?" fragte er. Ich nickte. Während er sich ins Internet einwählte, sagte er: "Ich wusste, dass etwas passiert war. Gestern Abend, genau zu der Zeit, als die Zahlen gezogen wurden, spürte ich mit einem Mal, wie eine eisige Kälte durch meine Glieder zog."
"Sie reden sich etwas ein", unterbrach ich ihn. "Was immer passiert ist, war Zufall, nichts weiter." Es musste in seinen Ohren wie ein matter Erklärungsversuch geklungen haben, denn er ließ sich durch Nichts beirren.
"Sehen Sie", sagte er und zeigte auf den Bildschirm. "Das ist die Webseite der Lottogesellschaft. Ich habe dort ein Online-Konto und bekomme alle Gewinne auf dieses Konto gutgeschrieben. Nun ja, bisher war noch nie was gutzuschreiben." Er sah mich eindringlich an, dann blickte er wieder auf den Bildschirm, und tippte seinen Benutzernamen und ein notwendiges Passwort in zwei Eingabefelder. "Bis heute."
Eine neue Seite öffnete sich, die aussah wie ein Kontoauszug einer Bank. Seine Hand zitterte stark, als er auf die Zahl in der obersten Reihe zeigte. Dort war deutlich die Gewinnsumme zu lesen, 100.000 Euro.
Ich hielt die Luft an und atmete dann hörbar aus.
"Glauben Sie immer noch an Zufall?" fragte er und als er weiter sprach, wurde seine Stimme mit jedem Wort schriller.
"Begreifen Sie, was da steht? Ich bin meine Geldsorgen los, aber um welchen Preis?" Er schwitzte jetzt stark. "Um den Preis der Hölle! Ich habe dem Teufel meine Seele verkauft! Verstehen Sie jetzt, warum ich nicht im Traum darauf komme, mir das Leben zu nehmen? Begreifen Sie, was passiert ist?"
Ich trat ans Fenster und drehte ihm den Rücken zu. Die Nebelschwaden waren jetzt so dicht, dass ich den Apfelbaum nicht mehr sehen konnte. Sie hatten mittlerweile die Farbe angenommen, die mir so vertraut war.
"Können Sie mir helfen?" fragte er leise.
Ich sagte lange nichts und betrachtete sein Spiegelbild im Fenster.
"So wie's aussieht, sitzen Sie ganz schön in der Klemme", sagte ich.
Er zuckte zusammen, weil das offensichtlich nicht die Antwort war, die er erwartet hatte. Dann, unendlich langsam, als er anfing, zu begreifen, weiteten sich seine Augen und er stieß einen lang gezogenen Schrei aus.
"Finden Sie nicht auch, dass es hier ein wenig nach Schwefel riecht?" fragte ich, als ich mich umdrehte und langsam meine Maske abnahm.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.12.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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