Brigitta Firmenich

Die Uhr

Die Uhr

oder die festgehaltene Zeit

In die alte Holzuhr hatten wir uns sofort verliebt. Uns gefiel der schön geschnitzte Holzkasten, mit dem man sie an die Wand hängen kann. Aber das alleine war es nicht. Diese Uhr weckte in uns Erinnerungen an eine Zeit, in der noch alles ganz mechanisch ging, in der die digitale Darstellung von Stunden und Minuten noch unbekannt war. Sie war für uns ein Relikt aus einer Epoche, in der die Menschen sich die Zeit nahmen, morgens oder abends ihre Uhren mit einem Kantschlüssel aufzuziehen. Und das mußten wir nun auch. Der Kantschlüssel mußte auf einen Metalldorn gesteckt werden. Dann drehte man so lange, bis man auf Widerstand stieß. Dabei mußte man aufpassen, daß die Feder nicht überdreht wurde und zurückschlug. Sonst konnte man sich schnell blaugeschlagene Finger holen.
Die Uhr hatte ein großes, gut sichtbares Zifferblatt, das durch die Zeiger und den Perpentikel aus Messing sehr wertvoll aussah. Am schönsten war der wohltönende Schlag. Er sagte uns jede Viertelstunde lauttönend die Zeit an. Es war fast so wie früher bei Tante Marie. Auch sie hatte eine solche Wanduhr in ihrem kleinen Häuschen gehabt. Zum Aufziehen war sie regelmäßig zur gleichen Tageszeit auf den Stuhl gestiegen, der unter der Uhr gestanden hatte.

Als wir den Gongschlag unserer Uhr zum ersten Mal hörten, war es um uns geschehen. Wir suchten einen schönen Platz an der Wand im Esszimmer aus. Dort würde sie mit ihrem sanften Tick-Tack eine wohnliche Atmosphäre schaffen.

Lange Jahre hatten wir Freude an ihr, lauschten beinahe andächtig den Schlägen, zählten mit, ob sie sich auch nicht vertat. Nur manchmal, wenn sie uns mitten im schönsten Gespräch unterbrach, oder ganz unmusikalisch falsch als Musikuntermalung tönte, störte sie. Sie schlug so kräftig, klangvoll und laut, daß das Haus widerhallte. Von den gerade beginnenden Acht-Uhr-Nachrichten im Fernsehen konnten wir wegen des achtmaligen Gongens unseres guten Stückes den Anfang nicht verstehen. Die Zeiten hatten sich geändert. Das neue Medium hatte die Uhr abgelöst und zeigte sekundenbruchteilgenau die neue Zeit an. Die lautstarke Uhrzeitverkündung durch eine laut dröhnende Uhr aus der guten alten Zeit wollte einfach nicht mehr in unsere hektische und digitale Zeit passen. Eines Tages beschlossen wir, den Gong nicht mehr aufzuziehen. Am Anfang vermißten wir den vertrauten Klang, warteten innerlich darauf, daß er wieder lautdröhnend erschallte. Dann gewöhnten wir uns an die Stille.

Als eine Renovierung der Wohnung anstand, wurde die Uhr von der Wand genommen, neue Tapeten wurden angeklebt und danach sollte das gute Stück wieder an seinen angestammten Platz kommen. Doch zuvor wollten wir noch einmal ihren Gongschlag hören. Etwas trotzig zeigte uns die Uhr, daß sie nicht mit sich machen läßt, was Menschen wollen. Sie hatte ihr Eigenleben. Trotz zahlreicher Versuche ließ sie sich keinen Klang mehr entlocken. Sie streikte. Ein leises “kläääääng“ war die einzige traurige Reaktion auf unsere Bemühungen. Wir beschlossen, ihr ihren Willen zu lassen und hängten sie einfach wieder auf. Wenig später schlug sie zu unserer Überraschung doch noch. Aber sie schlug zu einer völlig ungeraden Zeit. Es war weder Viertel, noch Halb, noch Voll. Sie machte eine vage Anzahl von Schlägen und wiederholte diese in unregelmäßigen Abständen, als ob sie uns sagen wollte, es sei schließlich nicht von ihr zu verlangen, zu festgesetzten Zeiten zu schlagen. Sie sei schließlich ein Individuum. Mehrere Tage lang zeigte sie uns ihren Unmut, dann war sie wieder still und wir gönnten ihr die Ruhe, indem wir den Gong nicht mehr aufzogen.

Eines Tages kam der Moment, da spielte sie auch bei der Zeitangabe nicht mehr mit. Sie ging zu langsam. Wir drehten am Rädchen. Sie ging zu schnell. Wir drehten das Rädchen wieder in die andere Richtung. Endlich hatte sie ihren Rythmus wieder gefunden, ging eine Zeitlang richtig, bis sie irgendwann aus uns unerfindlichen Gründen stehenblieb. Wir dachten zunächst, sie sei abgelaufen und wollten sie aufziehen. Aber die Feder war gespannt. Wir fanden heraus, daß sie nur etwas schräg hängen wollte, um zu laufen. Deshalb markierten wir mit einem kleinen Strich ihre Lieblingsstellung auf der Tapete. Einige Jahre ging es gut. Doch auch eine Uhr altert, und eines Tages blieb sie für immer stehen.

Bisher konnten wir uns noch nicht von ihr trennen. Sie hängt nach wie vor am gleichen Platz, immer noch ein bißchen schräg, für den Fall, daß sie es sich doch noch einmal anders überlegt und gehen oder schlagen möchte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.12.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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