Klaus-D. Heid

PSYCHO



Kann schon sein, dass ich etwas zu grob war.

Vielleicht war eben das der Grund, weshalb Lynn wieder einmal total ausgeflippte und mir eine Riesenszene machte. Meine Schwester konnte es nun mal nicht leiden, wenn ich etwas über die Stränge schlug. Sie schrie mich dann immer an und keifte, dass ich mich gefälligst ‚wie ein Erwachsener‘ benehmen solle.

Wie ein Erwachsener? Hey – Schwesterchen, ich werde in sieben Tagen sechzehn Jahre alt. Ich finde, dass das unheimlich erwachsen ist, oder? Und hast Du vielleicht vergessen, dass ich älter als du bin? Du hast’s nicht vergessen? Nein? Ich bin fast ein ganzes Jahr älter als Du, Lynn! Ein Jahr! Also wer von uns beiden ist noch nicht erwachsen? Wer, Lynn?

Ja, ja – ich weiß ja, was Du sagen willst, Schwesterchen.

Na und? Nur, weil ich ein bisschen herumalbere, bin ich noch lange nicht verrückt! Ich bin nicht verrückt, Lynn! Ich bin’s nicht! Ich bin ausgelassen und fröhlich. Mehr nicht. Und ich mag’s, wenn ich nicht den ganzen Tag still in der Ecke sitze, um mir irgendeine beschissene Fernsehsendung anzusehen. Fernsehen ist nichts für mich, Lynn. Fernsehen ist vielleicht was für Dich – aber ich finde, dass nichts Gutes aus dem Fernseher kommt, Lynn. Das, was da raus kommt, kann ich nicht anfassen und damit kann ich nicht spielen. Es kommen nur bunte Bilder heraus, die ich nicht mit in mein Zimmer nehmen kann, Lynn. Nur dumme bunte Bilder, Lynn...

Natürlich hat das etwas damit zu tun!

Wenn du öfter mit mir spielen würdest, müsste ich nicht mit Gary spielen und dann hätte ich ihm auch nicht wehgetan. Meine Schuld ist’s jedenfalls nicht, dass er mit einem Mal angefangen hat, so ein Theater zu machen. Ist nämlich Deine Schuld, Lynn!

Hör schon auf, mich so böse anzusehen!

Das mit Gary kommt schon wieder in Ordnung, Lynn. Ich versprech’s Dir, okay? Ist wieder alles wie vorher, wenn ich’s Dir verspreche, ja? Bist Du mir nicht mehr böse? Bitte sag, dass Du mir nicht mehr böse bist, Lynn!

Warum tust Du das, hm? Ich habe Dir versprochen, dass alles wieder gut wird und dass Gary...

Nein, Lynn, Gary ist nicht tot. Er kann gar nicht tot sein, weil er ja jeden Morgen in mein Zimmer kommt, um mich zu wecken, Lynn! Siehst du, dass er nicht tot ist? Wenn er nämlich tot wäre, würde er mich nicht mehr wecken können – und wenn er mich nicht mehr weckt, wache ich nie mehr auf und schlafe für immer und ewig. Und deshalb ist Gary nicht tot! Ist er nicht, ist er nicht, ist er nicht, nicht, nicht, nicht...

Hör endlich auf, mir Vorwürfe zu machen, Schwesterchen.

Wieso soll ich plötzlich nicht mehr ‚Schwesterchen‘ zu Dir sagen, Lynn? Du bist doch aber meine Schwester, oder? Wieso siehst Du mich so böse an? Ich habe nichts Schlimmes getan.
Wenn ich etwas Schlimmes getan habe, werde ich von heute an immer den Wein aus dem Keller holen, Lynn. Du weißt, wie ungern ich in den Keller gehe, ja? Und weißt Du auch, dass ich nichts Schlimmes getan habe, Lynn?

SIEH MICH NICHT SO AN!

Wenn Gary nicht gesagt hätte, dass ich ein Idiot sei, wäre ihm gar nichts geschehen. Ist seine eigene Schuld, Lynn.

Nein – ich habe ihm nur einen kleinen Klaps verpasst.

Du bist wirklich böse auf mich, oder?

Lynn?

Warum sagst Du nichts? Bitte sah doch etwas, liebe Lynn!

Daddy ist schuld. Er hat Gary immer lieber als mich gehabt. Und Dich hat Daddy auch lieber als mich gehabt, Lynn. Jetzt hast du Gary lieber als mich – aber Gary ist das völlig egal. Ihm ist’s egal, weil er nie wieder mit Dir spielen will, Lynn! Und jetzt, wo Gary nicht mehr mit Dir spielen will, musst du mit mir spielen, musst nur noch mich lieb haben und kannst Daddy und Gary vergessen! Du hast mich doch lieb, Lynn?

Darf ich Dir etwas sagen?

Ich glaube, dass ich krank bin.

Möchtest du mal meine Stirn fühlen, Lynn? Ist doch ganz heiß, oder? bestimmt habe ich hohes Fieber und muss ins Bett. Du musst mir dann die ganze Nacht Geschichten vorlesen, Lynn! Das wirst Du doch tun, ja? Liest Du mir Geschichten aus dem Zauberbuch vor? Jetzt gleich? Ich gehe ins Bett und Du liest mir...

...die Geschichte von ‚Pete im Nebel‘ vor? Ich liebe diese Geschichte. Ich liebe sie aber ganz besonders, wenn Du sie mir vorliest, Lynn und wenn ich mich dabei an Dich kuscheln darf!

Nein, das will ich nicht! ich will das nicht, Lynn!

Sag Doktor Kollinski, dass ich ihn nicht sehen will. Sag ihm, dass ich schon schlafe und nicht zu Hause bin. Oder sag ihm, dass ich tot bin und dass er mir nicht mehr helfen kann, Lynn! Wirst Du das für mich tun? Bitte! Bitte sag‘s ihm, Lynn! sag ihm irgendetwas, damit er wieder geht.

Hallo, Doktor Kollinski.

Ja, es geht mir gut. Nein, ich habe nichts böses angestellt. Ich habe nur ganz artig gespielt und Lynn hat dabei zugesehen, Doktor.

Das mit Gary war Lynn, Doktor!

Lynn lügt. Lynn hat schon immer gelogen. Sie hat immer gelogen, weil sie mir wehtun will. Sie hat immer etwas ausgefressen – und dann gesagt, das ich es gewesen bin. In Wirklichkeit war’s aber immer Lynn, Doktor! Das schwöre ich. Ich schwöre bei meinem...

Wobei soll ich schwören, Doktor? Ist’s okay, wenn ich bei Ben, meinem Kuscheltier schwöre?

Sie sehen mich auch so böse an, Doktor.

Was machen denn die vielen Leute hier im Haus, Doktor? Und wo ist Lynn hingegangen? Ob Sie Lynn sagen würden, dass ich ihr nicht mehr böse bin? Sie müssen nämlich wissen, dass Lynn etwas ganz Schlimmes mit Gary gemacht hat. Versprechen Sie mir, nicht mit Lynn zu schimpfen? Sie hat’s nicht so gemeint, Doktor. Lynn ist immer ein bisschen übermütig, wenn sie mit uns spielt.

Darf ich jetzt in mein Zimmer gehen, Doktor?

Nein, ich möchte das nicht anziehen! Ich werde das nicht anziehen, Doktor! sagen sie den Männern, dass sie mich in Ruhe lassen sollen! Sagen Sie’s ihnen, sonst...

Lynn?

Der Doktor ist jetzt weg. Ich habe ihm und den fremden Männern gesagt, dass wir sie nicht brauchen, Du und ich. Sie sind einfach gegangen, weil ich es so wollte, Lynn! Hab ich das nicht gut gemacht? Sag, dass ich der beste Bruder bin, den Du je hattest, Schwesterchen. Nun sag’s schon! Du kannst es ruhig sagen, Lynn, denn Gary und Daddy können’s nicht mehr hören. Ich habe sie auch weggeschickt, damit wir unsere Ruhe haben. Du und ich – wir sind jetzt ganz allein, Lynn!

Möchtest Du, dass ich Dir das Gesicht wasche?

Ich finde, dass das nicht gut aussieht, wie Du aussiehst, Lynn. Und ich finde auch, dass Du endlich aufstehen solltest. Es ist bestimmt schon spät.

Ich war zu grob zu Dir und den Männern? Der Doktor? Aber ich habe doch gesagt, dass sie fort sind, oder?
Nein, Lynn, dass sind keine echten Menschen, die hier liegen. ich bin mir ganz sicher, dass es nur Puppen sind! Puppen, Lynn. Und auch Du siehst wie eine Puppe aus, wie eine schmutzige kleine Puppe, Lynn. Es gefällt mir nicht, dass Du nichts sagst. Daddy hat auch immer geschwiegen, wenn er böse mit mir war.

Als unsere Mutter Daddy verlassen hat, hat Daddy fast eine ganze Woche nicht mit mir gesprochen. Ich habe ihm immer und immer wieder versprochen, dass ich so etwas nie wieder tue – aber Daddy hat einfach nicht mit mir reden wollen. Was hätte ich denn sonst noch machen sollen, hm? Hätte ich ihm etwas schenken sollen, Lynn? Meinst Du, dass Daddy nicht böse auf mich gewesen wäre, wenn ich ihm etwas Hübsches geschenkt hätte?

„Mr. Pride? Hören Sie mich? Mr. Pride? Können Sie mich verstehen?“

„Natürlich verstehe ich Sie, Mrs. Fineberg. Was ist denn los?“

„Bitte verzeihen Sie, Mr. Pride – aber ich dachte für einen Augenblick, dass Sie... eingeschlafen wären. Es tut mir leid, Sir.“

„Schon, gut, Mrs. Fineberg. Was ist denn los?“

„Ich wollte Sie nur an Ihren nächsten Termin erinnern, Sir. Mr. Hathorne wartet bereits im Sprechzimmer auf Sie. Darf ich ihm sagen, dass Sie nun bereit sind, Sir?“

„Mr. Hathorne? Liegt die Akte auf meinem Schreibtisch?“

„Natürlich, Doktor Pride.“

„Ist gut, Mrs. Fineberg.“

„Und es ist auch wirklich alles in Ordnung, Doktor?“

„Bestens, meine Liebe. Ich habe nur ein wenig über meine Schwester und meinen Bruder nachgedacht, Mrs. Fineberg. Sie wissen ja, dass ich meine Geschwister und meinen Vater bei einem schrecklichen Unfall verloren habe, oder?“

„Natürlich, Sir. Und es tut mir sehr leid! Ist denn dieser Unfall der Grund dafür, dass Sie Psychiater werden wollten, Sir – oder ist diese Frage zu indiskret?“

„Vielleicht war das wirklich der Grund, meine Liebe. Vor allem, weil damals noch mehr Menschen ums Leben kamen. Unter den Unfallopfern befand sich auch ein Freund der Familie, ein Psychiater namens Kollinski.
Wir sollten aber Mr. Hathorne nicht zu lange warten lassen, Mrs. Fineberg. Lassen wie die Vergangenheit ruhen und kümmern wir uns um die Probleme der Gegenwart! Sagen Sie also Mr. Hathorne, dass ich gleich bei ihm bin. Ich möchte nur noch ganz kurz mit meinem Freund Ben sprechen, bevor ich zu ihm gehe, Mrs. Fineberg. Und schließen Sie bitte solange die Tür, ja?“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.12.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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