Manfred Gries

Der Uhrheilemacher

Ich weiß nicht genau, wann ich ihm das erste Mal begegnet bin, es muss so um die Abendzeit gewesen sein. Die Zeit machte eine Pause und ließ mich meinen Gedanken nachhängen, alles war still um mich herum. Selbst das Ticken meiner Armbanduhr, die mir Wilhelmine geschenkt hatte, war nicht zu vernehmen. So stolz war ich gewesen, als ich sie das erste Mal an meinem rechten Handgelenk anlegte. Fast erwachsen kam ich mir damals vor. Und plötzlich blieb der kleine Zeiger einfach stehen, ich war wohl gerade zehn Jahre alt und die Zeit war der Abend. Das kleine schwarze Tuch hatte tagsüber in den geschlossenen Schallosyen des kleinen Kiosk gehangen und Mutter hatte geweint.

Unruhig schaute ich die Armbanduhr an und betrachtete sie im Mondschein, der durch mein Dachschrägenfenster fiel. Es war ´auf Kippe´ geöffnet. An diesem Abend trat er zum ersten mal in mein Leben, der Uhrheilemacher. Er setzte sich auf mein kleines Bett unter der Dachschräge und schaute mich an. “Willst du, dass die Zeit weitergeht?“ fragte er mich direkt. “Ja“, antwortete ich ein wenig traurig. “Dann musst du jetzt weinen. Denn nur mit deinen Tränen kann ich die kleinen Rädern schmieren, die stehen geblieben sind.“ Es war das erste mal, dass ich an diesem Tag weinte. Der Uhrheilemacher pustete meine Tränen in die Uhr und das leise Ticken verriet mir, dass die Zeit nun weitergehen würde. Oma Wilhelmine schaute lächelnd durch das kleine Dachfenster in das Zimmer, in dem ich mit meiner Uhr nun wieder alleine war.

Viele Jahre später, ich trug längst keine Armbanduhr mehr, blieb die Zeit erneut stehen. Der kleine Uhrheilemacher saß neben mir, hatte einen Reparaturzettel ausgefüllt von Wilhelmine in der Hand und fragte mich erneut: “Willst, dass die Zeit weitergeht?“ Meine Gedanken waren noch in Stalingrad bei meinem Vater. So lange hatte er diesen unsäglichen Krieg in sich herumgetragen, hatte ihn fast im Rausch des Wirtschaftswunders vergessen, da kehrte die Erinnerung zurück. Sie schlich sich in sein Leben, das damals stehen geblieben war. “Dein Vater hat seine Tränen mitgenommen in eine andere Welt“ - der Uhrheilemacher schien meine Gedanken zu erraten. Das Mondlicht schaute in mein Zimmer, eine kleine Studentenbude. “Willst du, dass die Zeit weitergeht?“ Erneut erklang die Frage des Uhrheilemachers in meinem Abend. “Ja“, antwortete ich und vernahm das Ticken jener Uhr erneut, die mir Wilhelmine geschenkt hatte und die ich längst nicht mehr trug. Kleine Blitze zuckten am Himmel, Granatfeuer dachte ich zuerst. Dann aber bemerkte ich, dass es Sternschnuppen waren. Eine leuchtete ganz besonders hell.

Zwischen den Stillstehzeiten habe ich den Uhrheilemacher eigentlich nie gesehen. Wahrscheinlich war er unterwegs - er hat ja auch sehr viel zu tun. Immer wieder bleibt irgendwo die Zeit stehen und es gibt was zu reparieren. Das erste Mal, dass ich ihn wiedersah, war an einem Nachmittag im Juni. Er hielt die Uhr von Oma Wilhelmine in der Hand und reichte mir einen Reparaturzettel. Nicht, dass ich überrascht gewesen wäre, nein, die neue Sternschuppe am Himmel hatte ich schon erwartet. Nur fehlten mir die Tränen. “Diesmal lassen wir die Zeit stillstehen“, begrüßte ich ihn, bevor er seine Frage stellen konnte. Und da Uhrheilemacher immer in Eile sind, verschwand er auch schnell wieder. Wilhelmine schüttelte den Kopf. Die Kinder setzten sich zu mir aufs Sofa und ich erklärte ihnen geduldig, dass ihre Mutter nun nicht mehr wiederkommen werde. Mein älterer Sohn, er war gerade zehn Jahre alt, schaute auf seine Armbanduhr, die wir ihm geschenkt hatten. Sie war stehen geblieben. Vom Uhrheilemacher weit und breit keine Spur. Nur tags darauf erkannte ich an ihrem Ticken, dass der wohl nachts da gewesen sein musste.

Seit jenem Tag schaut der Uhrheilemacher abends immer kurz in mein Zimmer, wenn ich am Schreibtisch nach Tränen suche. Die Zeit muss irgendwann weitergehen, dass weiß auch ich. Wilhelmines Reparaturzettel in der Hand schaut er mich für eine Weile an, liest in meinen Gedanken den Satz “Diesmal lassen wir die Zeit stillstehen“ und schleicht sich geduldig aus der Tür meines Arbeitszimmers, vorbei an der defekten Spülmaschine und der Anrichte, auf der die Kinder manchmal ihre Teller abstellen. Wenn er gegangen ist, spüle ich ab, fülle noch schnell eine Waschmaschine und lege mich dann zur Ruhe. Abends darauf sitze ich wieder am Schreibtisch, schreibe alles nieder, was in meinen Gedanken ist und suche zwischen den Zeilen nach Tränen. Langsam beginne ich meinen Vater zu verstehen, bekomme eine Ahnung von dem, was damals in Stalingrad passiert ist und wenn ich dann auf mein rechtes Handgelenkt schaue, kann ich ganz deutlich die kleinen Zeiger stillstehen sehen, noch bevor der Uhrheilemacher die Uhr von Wilhelmine in mein Arbeitszimmer trägt.

Manchmal fließen Tränen aus meinen Augen, einfach so. Mitten im Tag oder spät abends, jedenfalls immer dann, wenn der Uhrheilemacher nicht da ist. Er hat dann woanders zu tun. Und einen Ersatzuhrheilemacher gibt es nicht. Alles hat seine Zeit, selbst die Stillstehzeit. Ich spüle noch schnell ein paar Teller und etwas Geschirr, fülle eine Waschmaschine und bleibe beim Anblick des Trockners stehen. Er ist schon seit drei Jahren kaputt. Unsere Wäsche trocknen wir seitdem auf der Leine im Keller, die können wir selbst reparieren, wenn sie reißt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.12.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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