Gerda Schmidt

Blume der heiligen Nacht

Die ganze Nacht hatte es geschneit. Der Schnee fiel in weichen Flocken und deckte die Erde des Klostergartens wie mit einer Daunendecke zu. Besorgt eilte Bruder Anselm nach der Prim aus der Kapelle. Die Mönche des Klosters benutzten dieses kleine Gotteshaus für ihre Andacht. Nur an den Sonntagen oder zu Festtagen wurden die Messen in der großen Klosterkirche abgehalten. Schnell lief der kleine Mann den vereisten Steinweg entlang, um zu einem Beet zu gelangen, das direkt an der Klostermauer lag. Mit seinen plumpen Händen schaufelte er den Schnee so lange beiseite bis ein kleines Pflänzchen zum Vorschein kam. Es wirkte zart und zerbrechlich und doch streckte es sein geschlossenes Knospenköpfchen nach oben, als es von der Last des Schnees befreit wurde. Liebevoll fuhr der Mönch mit dem Zeigefinger über die Knospe. Er hatte es erst vor zwei Wochen in den Garten gepflanzt, weil es im Dormitorium drohte einzugehen. Dort fehlte es ihm an Licht und frischer Luft. Außerdem war es sowieso verboten Pflanzen im Schlafsaal zu halten. Hier im Schutz der Mauer sollte es noch zu seiner Blüte gelangen.

Bruder Anselm war kein gewöhnlicher Bruder, denn er lebte seit Geburt an in diesem Kloster. Am Weihnachtsabend lag ein kleines Bündel vor dem Portal der Klosterkirche. Erst beim genaueren Betrachten entdeckte Bruder Malachias ein Neugeborenes in ein Strohkörbchen gepackt. Seit diesem Abend wurde das Kind im Kloster aufgezogen. Ob es nun am Mangel der Muttermilch lag oder weil der Junge kaum aß, so blieb er immer etwas geistig unterentwickelt und eignete sich nicht für das Studium der heiligen Schrift. Deshalb erzog man ihn zwar im christlichen Glauben, aber seine Fähigkeiten taugten auch nicht sonderlich für ein Handwerk. Da er ein freundliches und sehr naturverbundenes Wesen besaß, ließ man ihn letztendlich bei Bruder Pius das Gärtnern erlernen. Dafür schien er sehr begabt und er besaß auch regerecht einen grünen Daumen. Es dauerte nicht lang und er veränderte das strenge Bild der Kirche in ein Blütenmeer mit angenehmem Odeur. Sonntags überraschte er die Gemeinde mit neuen Arrangements. Jedes Blumenbouquet sah schöner aus als das andere. Nur in der Winterzeit blieben die Blumenschalen leer. Traurig wollte der Mann mit dem naiven Blick etwas für diese trostlose Zeit finden.

Dieses Jahr im Frühling hatte er den Garten sehr sorgfältig gejätet und dabei eine Menge Wurzeln und alte Pflanzenteile aus der Erde gerissen. Dabei fiel ihm eine gesund aussehende Wurzel in die Hände, deren restliche Pflanzenteile beim umgraben abgetrennt wurden. Etwas neben dran fand er dagegen eine hübsche Pflanze, die keinen Lebensfaden mehr besaß. In seiner einfältigen Art nahm Bruder Anselm die beiden Teile, benetzte sie mit etwas Bouilion und setzte sie aufeinander. Dann hüllte er sie in sonnenwarme Erde. In einer dunklen Ecke im Dormitorium ließ er das ganze stehen. Nach etwa drei Monaten hatte sich ein kleiner Trieb gebildet, der sich langsam entwickelte. Erst im Herbst hatte die Pflanze mehrere Seitentriebe bekommen und schien stark genug für die Natur. Deshalb pflanzte der kleine Mönch die zierliche Pflanze zum Schutz gegen den Wind ganz nahe an die Mauer des Klostergartens. Nun kümmerte er sich täglich um sein Pflegepflänzchen. Erst in den letzten Novembertagen, die dieses Jahr einige Sonnentage mit sich brachten, konnte er eine Knospenbildung entdecken. Besorgt, was mit seinem Gewächs passieren würde, wenn der kalte Winter einbricht, versuchte er es zu schützen, wo es nur ging. Er häufte altes Laub um die Wurzel und band einen dicken Zweig zur Stütze an den Trieb. Auch übermäßigen Regen wehrte er ab, indem er eine alte Bastmatte wie einen Regenablauf zur Mauer befestigte. Mehr konnte er nun wirklich nicht mehr tun. Er wartete nur noch auf die Blüte, die dann weitere Knospe für das nächste Jahr zuließ.

In fünf Tagen feierte die ganze Welt Weihnachten. Der Abt des Klosters hatte sich für dieses Fest etwas Besonderes ausgedacht, denn dieses Jahr sollte auch die 200-Jahresfeier der Fraternité stattfinden. Die umliegenden Dörfer nahmen alle daran teil. Auf dem Vorplatz der Klosterkirche wurden Buden aufgebaut, die den Verkauf von gewürztem Wein und Lebkuchen anboten. Die Mittellosen bekamen eine warme Mahlzeit aus dem Refektorium des Klosters und wer wollte, konnte kopierte Abschriften der Bibel aus dem Scriptorium für wenig Geld erwerben.

Handwerker hatten Holzöfen und Kohlebecken herbeigeschleppt und sie in der Kirche verteilt, um das riesige Kirchenschiff ein wenig zu erwärmen. Mehrere Tage vorher wurde bereits damit begonnen. Nach der Lithurgie fand dann als Höhepunkt ein Krippenspiel statt. Vor dem Chorgestühl wurde ein kleiner Stall provisorisch aufgebaut. Bei der Wahl, wer Maria darstellen solle, gab es zuerst Uneinigkeiten, bis man sich auf die Frau des Krämers einigte. Josef und die heiligen drei Könige und ein paar Hirten besetzte man aus den Reihen der Mönch, die sich über die kleine Abwechslung im Alltag freuten.

Als nun das Fest des Herrn begann, erkrankte Bruder Antonius und musste ersetzt werden. Keiner wollte jedoch so kurzfristig und ohne Probe einspringen. Deshalb bestimmte der Abt Bruder Anselm zum Ersatzhirten. Der etwas schüchterne Mann wurde dabei ganz rot und freute sich sehr über seine Auswahl. Doch dann erschrak er, als er daran dachte, dass er kein Geschenk für das Christuskind hatte. Aufgeregt lief er im Kreuzgang auf und ab. Bruder Pius, zu dem er ein inniges Verhältnis hatte, beruhigte ihn soweit es ging. Doch dann verschwand er noch einmal schnell, bevor es losging.

Nachdem das Kind in der Krippe lag und die heiligen drei Könige ihr Gold, Weihrauch und Myrrhe abgeliefert hatten, waren die Hirten an der Reihe, dem Retter der Welt Ehre zu erweisen. Der erste legte ein kleines Lammfell in die Krippe. Der zweite hielt dem Jesuskid eine geschnitzte Panflöte hin. Dann war Bruder Anselm an der Reihe. Scheu trat er an die Krippe heran und verbeugte sich vor Maria und dem Kind. Dann zog er ganz behutsam etwas aus seiner Kutte und stellte es vor die Krippe. Es war eine kleine Pflanze mit mehreren Knospen. Als alle auf die Blume schauten, begannen sich die Knospen in der Wärme des Raumes zu öffnen. Fünf kleine gelb-weiße Blüten erstrahlten in dieser Nacht zu ersten Mal in voller Pracht. Durch die Reihen der Zuschauer und Beteiligten lief ein Raunen, das lange anhielt. Seit dieser Nacht nennt man diese Blume Christrose, weil sie in der Nacht blüht, in der Herr Jesus Christ geboren wurde.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.12.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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