Markus P. Baumeler

Murmel und Bär

Spazieren im Wald, fast täglich. In jeder Hand einen alten Schistock. - Ein groß gewachsener älterer Herr, mit wachen Augen, einfach gekleidet, aber gepflegt, der mich stets freundlich grüsst. Irgendwann, nach Monaten, spricht er mich an: "Das ist aber ein feiner Hund. So gehorsam, so lebensfroh, braucht keine Leine!" Und nach einer Weile: "Bis vor einem Jahr hatten auch wir immer einen Hund. Der letzte ist an Altersschwäche gestorben. Ich kann keinen mehr haben. Wo soll er auch hin, wenn ich krank werde?!" Seit kurzem lebt das Kätzchen einer verstorbenen Nachbarin bei ihm.

Irgendwann sind unsere Begegnungen nicht mehr zufällig. Niemals eine Absprache. Jeder weiß die Waldwege und die Zeiten des andern. Wir mögen uns, sind besorgt, wenn wir uns ein paar Tage nicht treffen. Er erzählt mir ein langes Leben. "Dreiundneunzig sind Sie, das ist nicht wahr.(?!)" - "Meine Frau war fünfzehn Jahre jünger." An die Möglichkeit, sie könnte vor ihm gehen, warum hätte er daran denken sollen? Sie lebten bis zur Pensionierung in Genf, führten dort mit einem Kompagnon eine Anwaltskanzlei. Dann fürs Alter der Kauf eines Hauses am Bodensee. Ein großes Haus. Von "Villa" hat er nie gesprochen. Es ist eine.

Kurz nach dem Umzug habe es bei ihr mit dieser verdammten Leukämie angefangen. Nach drei Jahren galt sie als geheilt. Kurz darauf erkrankte sie erneut schwer, diesmal an MS. Er pflegte sie über sechs Jahre, bis zu ihrem Tod. "Leider konnte meine Frau keine Kinder kriegen. Sie hat darunter gelitten."

Aaron, unser Schäfermischling, ist längst sein Liebling. Bär hat für ihn immer was dabei. Eines Tages bringt er ihm einen riesigen bunten Spielzeugknochen. Er sei gestern Nachmittag im Zoogeschäft gewesen. "Gell, Aaron, das ist ein guter Kauf." Aaron wedelt "ja".

Unsere Namen brauchten wir nicht. "Bär" habe ich von Murmel erfahren. Nämlich, eines Morgens kommt Bär in Begleitung. Er stellt mir den Herrn an seiner Seite als seinen ehemaligen Kompagnon vor. "Besuch aus Genf." - Sein Stolz! Der Stolz beider! "Wissen Sie, Murmel ist noch ein junger Spund, erst zweiundneunzig." - "Die beiden Alten von der Mupped-Show!", lacht's in mir. - Also, da stehen sie vor mir: Murmel und Bär. Diese Namen gehörten bisher nur ihnen, und jetzt sollte ich in diese erlauchte Zweisamkeit aufgenommen werden.? - Mein Stolz! - "Murmel bleibt bei mir, bis wir uns verleiden. Vielleicht fahren wir zwischendurch mal für zwei Wochen ins Tessin."

Anderntags wieder: Murmel und Bär. Diesmal nicht spazierend, sondern ziemlich mitgenommen auf einer Bank sitzend, gleich dort, wo Bär und ich jeweils unsere Autos abstellen. Bär fährt einen knallroten Mitsubishi-Colt mit zerbeulten Alufelgen, tiefer gelegt, mit Front- und Heckspoiler. Fast täglich eine kleine, manchmal auch eine größere Delle mehr. - "Haben gestern auf alte Zeiten angestoßen. War wider Erwarten etwas anstrengend. Zwei Flaschen Wein und eine Flasche Kirsch", berichtet Bär, mit betont vorwurfsvollem Blick zu Murmel. - Wir lachen.

Jeder Morgen bringt nun neue Überraschungen. Manchmal kann ich's kaum erwarten. Einmal waren sie einen ganzen Abend lang in irgendeinem Chat, haben sich dort als Achtzehnjährige ausgegeben. - "Durch Murmel werd' ich noch zum Säufer. Gestern waren's wieder zwei Flaschen Rotwein." - "Ja, aber nur eine halbe Flasche Kirsch", beschwichtigt Murmel. "Schau mal, wie du wieder angezogen bist. Diese schockfarbenen Jeans und die verdreckten Turnschuhe mit schwarzgelben Schnürbändeln", stichelt Bär und streckt ihm seine blitzblank polierten Halbschuhe hin. Murmel kontert: "Und du mit deinem asthmatischen Pubertätsferrari! Glaubst du, die jungen Mädchen würden dir deshalb hinterher schauen?"

Dann kommt der Tag, an dem sie mir überbringen, nun sei das mit dem Tessin definitiv. Morgen würden sie fahren. Nachher müssten meine Frau und ich ihn aber besuchen. Am zwanzigsten November sei sein vierundneunzigster Geburtstag. Dazu wolle er uns einladen. Murmel komme auch. Ob ich ihm meine Telefonnummer gebe, damit wir dann noch die Details regeln könnten. - Obwohl ich mich freue für sie, lasse ich die beiden ungern ziehen.

Vierzehn Tage später, es ist Sonntagnachmittag, klingelt das Telefon. "Bär hier, hallo!" - Ich bin ganz außer mir. - Sie seien gestern durch Locarno geschlendert und hätten in ihrem "jugendlichen Leichtsinn" eine Mittelmeer-Kreuzfahrt gebucht. "Morgen geht's schon los." Deshalb sei er halt an seinem Geburtstag noch nicht zurück. Aber selbstverständlich würden wir die Feier im Dezember nachholen. "Jetzt will Murmel Sie noch grüssen. Murmel, komm her, aber mach's kurz!"

Heute ist der zehnte Dezember. Schon seit Tagen machen wir uns Sorgen. Keine Nachricht von Bär. Ich fasse mir ein Herz und fahre zu seinem Haus, das ich von außen kenne. Sofort sehe ich, es steht leer. Gardinenlose Fenster, der Garten und die Plattenwege mit einer dicken Laubschicht bedeckt. Eine Frau aus der Nachbarschaft fragt misstrauisch, wen ich suche. Ich erkläre und wirke offenbar glaubhaft. Der Besitzer sei kürzlich auf einer Kreuzfahrt verstorben. Herzschlag. Das Haus sei zum Verkauf ausgeschrieben. Das Vermögen habe er testamentarisch irgendeiner Stiftung für Rumänien vermacht.

Bär, du bist nun daheim. Dein Grab kann ich nicht besuchen, weil du kremiert werden wolltest und eine Seebestattung verfügt hast.

Wie findet man ein(en) Murmel in Genf?

Lebt wohl, ihr zwei Lieben!


© Markus P. Baumeler, 10.12.2004

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