Julia-Sarina Schmauder

Des Vampirs Nachtgesang

Er fühlte sich, als hätte man ihm das Herz bei lebendigem Leibe herausgerissen. Sein Innerstes war eine Mischung aus unbeschreiblicher Leere und alles verzehrendem Schmerz. Und egal, was er auch tun würde, dieses Gefühl würde sich nicht abschütteln lassen.
Mit großen, geräuschlosen Schritten marschierte er durch die verlassenen Straßen der nächtlichen Stadt, in der er nun schon so lange Zeit war, sich dessen Namen er aber nie hatte merken können. Aber was war schon ein Name? Namen konnte man ablegen und annehmen wie es einem beliebte. Wer wusste schon genau, ob jemand nicht unter einem anderen Namen lebte, mal so hieß und sich dann doch wieder anders nannte. Auch er trug schon lange nicht mehr den Namen, der ihm bei seiner Geburt gegeben worden war. Und es war ihm auch egal, wie ihn jemand nannte. Im Laufe der Zeit hatte er schon viele Namen gehabt - selbst zu Lebzeiten - und von wem er den jetzigen, bekommen hatte, wusste er nicht einmal mehr. Darum kümmerte es ihn auch wenig, wie die kleine Stadt hieß. Vielleicht fiel es ihm deswegen so schwer sich ihren Namen zu merken.
Es war spät und der Morgen rückte immer näher. Aus weiter Ferne tönte leises Gemurmel und Rufen an seine Ohren, vielleicht von denen, die nicht schlafen konnten oder nie schliefen. Außer in einer kleinen Backstube am Ende der Gasse, durch die er vor einigen Minuten gegangen war, brannte nirgendwo Licht; überall waren die Fenster dunkel und schwarz.
Er konnte die Menschen hinter den Fenstern riechen, er wusste, dass sie schliefen. Aber das würden sie nicht mehr lange tun, denn bei Sonnenaufgang würden sie sich wieder ihrem Tagewerk zuwenden. Doch im Moment noch schliefen sie alle selig, manche von ihnen träumten vielleicht sogar. Der Duft ihres Blutes, die Wärme ihrer Haut - all das konnte er fühlen. Selbst ihre regelmäßigen Atemzüge drangen leise an sein Ohr. Aber er verspürte kein Verlangen nach ihnen, keinen Durst nach Blut, keinen Hunger. Er hatte heute Nacht schon getrunken. Es wäre falsch gewesen, zu sagen, dass er satt war, aber er war zufrieden, und der größte Durst gestillt. Außerdem war er müde und fühlte sich ausgelaugt.
Und noch dazu fühlte er sich wie ein Verräter, dachte er, als er um die nächste Ecke bog. Er fühlte sich wie ein Verräter wegen weil er seine Prinzipien verraten hatte, seinen Stolz und irgendwie sich selbst.
Er erinnerte sich noch gut daran, wie er von ihrem Blut getrunken hatte. Es war nicht nur so unglaublich süß gewesen, wie kein Tropfen je zuvor, sondern es hatte ihn auch auf eine andere Weise berauscht. Dieses Gefühl, ihren Herzschlag in seinen eigenen Ohren zu hören, zu fühlen, wie es kämpfte. Auch wenn er sie hätte leer trinken wollen, wäre es ihm wohl kaum gelungen. Dieses Herz war so stark, wie keines davor, es klammerte sich ans Leben. Er erinnerte sich an ihren eisernen Willen, der in ihrem Körper lebte, an ihre starke Seele.
Plötzlich hörte er die Geräusche eines näher kommenden Menschen. Er musste noch ein ganzes Stück weg sein, doch seine Vampirsinne nahmen bereits nicht nur den Wiederhall seiner Schritte war, sondern auch das Schlagen seines Herzens, das Pochen seines Blutes in den Adern und wie der atmete. Ohne weiter groß darüber nachzudenken verzog er sich in den Schatten der engstehenden Häuser, schlug den Mantelkragen hoch und ging weiter. Er wollte nicht gesehen werden. Keine fünf Minuten später begegnete ihm tatsächlich ein Mensch: Ein betrunkener Mann in mittleren Jahren, der schwankend versuchte erfolgreich ein Bein vor das andere zu setzen. Der Mann schwankte an ihm vorbei, ohne ihn überhaupt wahr zu nehmen, so dicht verschmolz der Vampir mit den Schatten um ihn herum. Die Alkoholfahne, die den Kerl umgab, stach ihm empfindlich in die Nase und er konnte den Schweiß auf seiner Haut riechen. Und über all dem thronte der himmlische Geruch seines warmen, süßen Blutes, das ihm verführerisch in die Nase kroch. Für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen und zählte bis zehn. Eigentlich wäre es das beste, jetzt sofort von hier zu verschwinden. Der Morgen war schon gefährlich nahe und er hatte für heute schon genug getrunken. Aber andererseits war "genug" ein Wort, dessen Bedeutung ein Vampir nicht kannte. Als er die Augen wieder öffnete, war die Sache für ihn schon entschieden.
Er brauchte keine zehn Schritte um den Mann einzuholen. Erst als er direkt vor ihm stand und seine unbeholfenen Schritte stoppte, bemerkte der Betrunkene seine Gegenwart. Verdutzt sah er ihn aus wässrigen, trüben Augen an. Er bemerkte, dass der Mann ein Blaues Auge hatte und beinahe die gesamte rechte Hälfte seines Gesichts dick angeschwollen war. Wohl eine Kneipenprügelei, fuhr es dem Vampir durch den Kopf, aber er beschäftigte sich nicht näher damit.
Er hatte ihn plötzlich so schnell gepackt, dass der Betrunkene erst gar nicht wusste, wie ihm geschah. Er hielt ihn in seinem eisernen Griff und legte die Arterie frei, die verlockend pochte, während der Mann nun versuchte sich vergeblich von ihm zu befreien. Seine Augen waren vor Angst geweitet und der Vampir wusste, dass er noch nüchtern genug war, um zu verstehen, dass er sterben musste. Mit dem Geschick von unzähligen Jahren stieß er seine tödlichen Fangzähne in das menschliche Wesen vor ihm.
Sein Blut schmeckte scharf, prickelnd und seltsam voll und üppig. Es war gewürzt mit all dem Wein, dass der Mann getrunken hatte und den Kräutern seines Abendessens. Kraft durchströmte ihn, pure Energie, Leben. Der Vampir sog sein Blut Zug für Zug in sich hinein, froh und stolz über die Tatsache, dass sein Opfer auf die Knie gesunken war, und er ihn immer noch fest umschlungen hatte, und dass er die Arme zu Hilfe nehmen musste, um zu versuchen sich zu befreien. Natürlich gelang es ihm nicht, aber der Vampir in ihm genoss diese letzten Versuche des Mannes, sein Leben zu retten, das sowieso gleich zu Ende sein würde.
Er trank von dem Betrunkenen bis seine Arme zitternd an ihm herunterbaumelten und seine Füße ein letztes Mal strampelten. Der Herzschlag seines Opfers wurde immer langsamer, bis er schließlich endgültig zum Stillstand kam.
Langsam setzte er den Toten ab und fuhr sich noch einmal mit der Zunge über die Zähne, um sicherzugehen, dass er keinen Tropfen verpasst hatte. Dann ließ er sich erschöpft und zufrieden zugleich auf das Pflaster der Strasse sinken. Der Himmel über ihm war schwarz, geschmückt mit hell glänzenden Sternen. Er hielt den Blick darauf gerichtet und atmete einige Minuten lang schwer ein und aus. Das Blut des Mannes erfüllte ihn mit Wärme und er hatte das Gefühl, als würde er innerlich brennen. Die vertraute Trunkenheit und die Schwere begann sich schon über ihn zu legen, und die Verlockung, hier einfach auf der Strasse sitzen zu bleiben, wurde immer größer. Aber er war nicht dumm. Auch wenn es ihm schwer fiel, stand er auf und sah noch einmal auf den toten Körper des Trunkenboldes vor ihm. Es war keinerlei äußerliche Einwirkung zu erkennen, an der der Mann hätte zu Tode kommen können; die beiden kleinen Bisswunden am Hals waren auf den ersten Blick nicht zu sehen. Trotzdem würde der Tod des Mannes eine kleine Aufruhr mit sich bringen, wenn man ihn am morgen entdeckte. Die Menschen hier waren aufmerksamer und auch abergläubischer als in einer größeren Stadt. Auch deshalb war es wahrscheinlich sinnvoll von hier zu verschwinden. Sowieso war er schon viel zu lange hier.
Er seufzte tief, dann wand er sich von der Leiche ab und ging weiter die Gasse hinab, wie er es auch schon vorher getan hatte. Während er eine immer größere Distanz zwischen sich und dem toten Mann brachte, musste er wieder an sie denken. Sie war immer noch der Meinung, dass ihr das Leben nichts mehr geben konnte. Doch was versprach sie sich von der Unsterblichkeit? Wie sollte er ihr nur klar machen, dass sie das, was sie im Leben nicht finden konnte, auch nicht von der Ewigkeit bekam. Sie hatte ein völlig falsches Bild von seinem Dasein, und das obwohl er ihr versucht hatte, es ihr zu erklären. Irgendwie musste er, wenn er daran dachte, den Kopf schütteln und leise auflachen.
Vielleicht war es ja nur eine dumme, blitzartige Idee, die sie da gehabt und die sie ausgesprochen hatte, ehe sie darüber nachdachte. Wenn sie ein wenig Zeit hatte um sich alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen, dann würde sie vielleicht doch von alleine wieder vernünftig werden. Am besten sie wurde vernünftig bevor er seine Vernunft verlor.
Er konnte ihr diesen Wunsch einfach nicht erfüllen! Er würde sich auf ewig dafür hassen, und sie würde ihn ebenfalls hassen, sie würde sich von ihm entfremden und dann würde er sie verlieren und all das, was er ihr angetan hatte, wäre umsonst gewesen. Nein! Das wollte er nicht. Solange noch irgendwo tief in ihm genug Menschlichkeit vorhanden war, um selbstständig entscheiden zu können, solange er sich nicht von seinem Raubtierinstinkt besiegen ließ, würde er es nicht tun. Und eines war für ihn sicher, um keinen Preis der Welt würde er ihr die Unsterblichkeit verleihen. Lieber würde er sie sterben lassen, als sie an die Ewigkeit zu binden.
Die Ewigkeit hielt nicht das, was sie versprach. Das war die Wahrheit und die Wahrheit war schwer zu ertragen und oft noch viel schwerer zu verstehen.
Jedoch war die Wahrheit auch etwas, was für ihn irgendwie fremd war. Vielleicht lag es daran, dass er mit der Zeit zu abgestumpft, zu leer und zu sehr daran gewöhnt worden war, die Realität als nichts viel mehr als lauter Fetzen kleiner, nichtssagender, farbloser Träume zu sehen. Und jetzt, jetzt war endlich ein helles Licht in seine dunkle Welt getreten - und er wusste nicht, wann er es wieder verlieren würde. Aber nein, er musste aufhören an sie zu denken, sie nicht loszulassen!
Seufzend ging er um die nächste Ecke. Er war bereits an den Ausläufen der Stadt angelangt und die Häuser standen hier nicht mehr so dicht beieinander. Irgendwo bellte ein Hund. Er drehte sich nicht einmal um. Seine Gedanken waren zu sehr beschäftigt, kreisten zu sehr um sie. Der Mann in der Gasse war schon fast vergessen.
Am liebsten hätte er den Teufel, der im Innersten seiner Seele wohnte und nur darauf wartete ihn zu verschlingen, in Ketten gelegt. Aber welche Ketten waren stark genug um diesem Teufel stand zu halten? Und auch wenn es ihm gelänge, dieses Untier seiner Seele in die hinterste Ecke seines Geistes, in eine dunkle Kammer mit schweren Schlössern, zu verbannen, wer konnte schon sagen, wie lange er es dort würde halten können?
Fragen über Fragen, und nach Antworten zu suchen war für ihn wie das sprichwörtliche Suchen nach der Nadel im Heuhaufen. Nur dass seine Nadel so tief vergraben war, dass es Jahrhunderte dauern würde, sie zu finden.
Für ihn war sie ein Gewinn, eine Bereicherung seines elenden Daseins gewesen, und nun drohte er sie tatsächlich wieder zu verlieren. Wie konnte das nur sein, dass es nichts gab, was er wirklich halten konnte? Alles musste ihm stets aus den Händen gleiten. Wo war das Glück, die Liebe, die Freude? Wie fühlte es sich überhaupt an, glücklich zu sein? Er wusste es schon nicht mehr, so lange war es her, dass er es das letzte mal gefühlt hatte. War er überhaupt schon einmal glücklich gewesen, richtig glücklich? Was war wahres Glück? War es etwas, was nur guten Menschen zu teil wurde, oder war es etwa nichts weiter als eine Erfindung der Menschen um sich vom Leid abzulenken?
Während seines sterblichen Lebens hatte er viele Dinge getan, für die allein er es verdient hätte, auf ewig in den Feuern der Hölle zu schmoren. Es gab sehr, sehr vieles, von dem im Grunde gar niemand etwas wusste - jedenfalls niemand der noch am Leben war - und ihn störte das auch nicht. Manchmal war er so naiv zu glauben, dass er alles Unangenehme aus seiner fernen Vergangenheit wegsperren konnte um nicht mehr daran zu denken, sodass es dann im Nichts versank und aufhörte zu existieren: Doch das war natürlich Schwachsinn und das wusste er auch. Egal, wie weit die Vergangenheit auch zurück lag, sie hörte nie auf zu existieren. Niemals.
Warum, zum Beispiel, hatte er den betrunkenen Kerl in der kleinen Gasse töten müssen? Hatte er sich so wenig im Griff, dass er sich auf alles Lebendige stürzte und es zerfleischte? Er hatte keine Ahnung. So einfach war das. Er wusste für nichts eine Antwort.
Es war wirklich das beste, wenn er von hier fort ging und nie wieder zurück kehrte.
Warum hatte er sich auch in ein Menschenkind verlieben müssen?




ENDE

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.12.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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