Drei Minuten vor zwölf
- Ich hasse ihn! Verdammt. Sieh weg. Sieh weg!
Er sieht weg. Es ist kalt auf dem Bahnsteig. Der Zug kommt – auf dem gegenüberliegenden Gleis. Verbitterte Blicke.
Er sieht weg.
Der Wind ist kalt, ärgert sie. Der Rock ist zu kurz, jetzt.
Die Kälte scheint den Minutenzeiger zu bremsen. Bahnhofsuhren laufen immer zu langsam.
Noch drei Minuten.
Der Schal steht ihm nicht. Supermillionär. Macho. Was macht er hier? Seine Freundin besuchen. Er hat keine. Sie auch nicht.
Sie haben nicht denselben Geschmack.
Ihre Füße tun weh. Neben ihm auf der Bank ist noch frei. Aber im sitzen würde sie frieren. Zigaretten liegen dort. Welche Marke? Keine Ahnung.
Seine Lippen müssen warm sein vom Rauch. Sie kennt die Art wie er ihn ausstößt. Wieder Wind, eiskalt. Der Rauch ist weg.
Gänsehaut am Nacken.
Der Minutenzeiger hinterlässt ein leises ticken während er sich der zwölf nähert.
Noch zwei Minuten.
Einmal hatte ihre Oma gesagt: „Mensch Mädchen, ich hätte mir so was in deinem Alter nicht erlaubt.“ Mit todernstem Gesicht, auf den roten Fleck an ihrem Hals deutend, hatte sie hinzugefügt: „Ich hab da immer ein Tuch drum gemacht.“
Sie zieht den Schal fester. Sie sieht ihn an, direkt. Das erste mal.
- Das weißt du wohl nicht mehr, was?
Sein Profil hat sich nicht verändert. Es ist nur älter geworden, schärfer, bewusster.
Wie ist das, unverletzbar zu sein.
Hinter ihr schreit ein Kind. Er dreht den Kopf. Seine Augen rammen sie in den Boden. Stille. Ein schmerzendes Ticken.
Noch eine Minute.
Sie sieht an ihm vorbei, dem Zug entgegen.
Ihr wird erst wieder warm, als sie ihm gegenüber platz nimmt und er ihr eine Zigarette anbietet. Aber im Abteil darf nicht geraucht werden.
Sie streicht über den langen Stoff ihres Rockes.
Sieh nicht weg!
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.01.2005.
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