Manfred Gries

Als die Welt den Atem anhielt

Vorwort

Ungewohnt erscheint mir über die Gegenwart zu schreiben. Lieber schreibe ich über die Vergangenheit, die ist mir vertraut, ist ein Teil meines Lebens. Trotzdem kann ich nicht umhin, in der Gegenwart zu leben. Und auch da gibt es viele Geschichten, die geschrieben werden wollen in der Zukunft.

Die Geschichte

Kurz bevor Oma Wilhelmine sich verabschiedete, hatte ich noch Gelegenheit über ein wichtiges Thema mit ihr zu sprechen. Ich war damals zehn Jahre alt und saß neben einem Mädchen in der Schule, das irgendwie in meinem Kopf herumspukte. Ich schenkte ihr Schokolade, dachte oft an sie, während sie meine Geschenke ablehnte.
So saß ich eines abends am Küchentisch, schaute zu, wie Wilhelmine die Kruste vom Brot entfernte - sie konnte die nicht mehr kauen - und überlegte vor mich hin. “Woran merkt man eigentlich, dass man einen Menschen gern mag.“ Wilhelmine war inzwischen beim Bestreichen des Brotes mit Butter angelangt. Hin und her folgte das Messer ihrer Hand während ich auf eine Antwort wartete. Wilhelmine antwortete grundsätzlich immer erst nach einer Weile. Sie beendete den Aufstrich und belegte das Brot mit Schinken. Den pflegte sie auf dem Brot in kleine Rechtecke zu schneiden, damit sie ihn nicht mit den Zähnen zerteilen musste. Das Messer begann erneut dem Hin und Her der Hand zu folgen - diesmal strich sie Senf auf den Schinken. “Wenn man einen Menschen trifft, den man für sich gewinnen will, von dem man sich wünscht, dass er für immer bleibt. Dann beginnt eine lange Reise. Aber das ist erst der Anfang. Dass man einen Menschen wirklich mag, weiß man erst am Ende der Reise.“
Mein junges Leben konnte mit dieser Antwort so recht nichts anfangen. Ich hielt das, was in der Schulbank passierte, für Zuneigung. “Aber mag man einen Menschen nicht schon dann, wenn man unaufhörlich an ihn denken muss? Wenn das Herz klopft und die Welt still zu stehen scheint?“ Wilhelmine ´biss´ das erste Stück Brot ab und der Schinken zerteilte sich an den von ihr vorgeschnittenen Stellen. Sie lächelte. “Das ist der Anfang der Reise, kleiner Träumer. Zugegeben, am Anfang scheint alles so, als würde es nie aufhören, als würde der Zug immer weiter fahren. Aber wenn der erste Tunnel kommt und es dunkel wird, dann kann man den anderen plötzlich nicht mehr sehen. Dann spürt man ihn nur noch - oder aber auch nicht.“ Die Verwirrung in mir nahm von Schinkenrechteck zu Schinkenrechteck zu. Ich hatte noch keine Ahnung von der Fahrtstrecke des Lebens - ich dachte, dass sie immer geradeaus durch Felder und Wiesen und Sonnenschein führen würde. “Wie soll ich dir das erklären, kleiner Träumer.“ Wilhelmine begann erneut Kruste vom Brot abzuschneiden, sie war noch hungrig. “Jemanden mögen beginnt mit einer großen Sehnsucht. Die Welt ist plötzlich ein einziger Opernsaal, in dem die schönsten Melodien erklingen.“ Das Messer strich Butter auf die zweite Scheibe Brot. “Aber wenn dann der letzte Takt eines Liedes erklungen ist und der Orchesterleiter den Taktstab für einen Moment niederlegt, dann muss man neu überdenken, ob alles wirklich so schön ist. Kann man dann applaudieren, dann geht es weiter.“ In meinen Gedanken wurde es dunkel. Der Zug rauschte in den ersten Tunnel. Ich sah die Ablehnung des Geschenkes, spürte meinen Schmerz ganz deutlich und überlegte.
“Jemanden mögen hängt nicht davon ab, was der andere tut. Es hängt davon ab, ob man selbst weiter den Melodien lauschen will. Normalerweise bedeutet ein Tunnel oder eine Pause die Gelegenheit, den anderen für eine kurze Zeit aus den Augen zu verlieren. Kann man ihn danach wiederfinden, dann ist der erste Schritt getan.“ Die kleinen Schinkenrechtecke verschwanden erneut in Oma Wilhelmines Mund. Ich überlegte, ob ich mit der Ablehnung meiner Geschenke würde leben können. Nein, wenn sie mich nicht mag, kann ich sie auch nicht mögen. Meine Reise stoppte hinter dem ersten Tunnel - die erste Melodie war gerade verklungen.
Wilhelmine schien in meinen Gedanken zu lesen. “So einfach geht das nun auch wieder nicht“, fuhr sie fort. “Selbst wenn man seine Gefühle für den anderen verliert, kann man nicht sagen, dass man ihn nicht mehr mag. Vielleicht kann man sagen, dass man ihn nie gemocht hat, dass die Gefühle trügerisch waren. Oder man kann sagen, dass man eine Weile Ewigkeit empfand. Aber deine Frage war eigentlich eine andere, kleiner Träumer. Du wolltest wissen, wann man weiß, dass ein Mensch zu einem gehört.“ Ich überdachte meine Frage neu während Wilhelmine einen Schluck Kaffee trank. Etwas überfordert und verwirrt strich ich die Banknachbarin aus meinen Gedanken. Sie gehörte nicht zu mir. Und damit sparte ich mir weitere Fragen für später auf. Kurz danach ging Oma Wilhelmine. Ich war damals, wie gesagt, zehn Jahre alt.

Im Laufe der Jahre habe ich manchen Zug bestiegen, habe mancher Melodie gelauscht und immer wieder begann alles mit dem Wunsch nach Ewigkeit. Die kleinen Schinkenrechtecke, mit Senf bestrichen, verschwanden in meiner Erinnerung in Wilhelmines Mund. Ich weiß, dass sie mich mag, meine Oma Wilhelmine. Und ich wünschte mir immer, dass sie mir damals einen Tipp gegeben hätte, einen Tipp, wie man erkennt, ob jemand zu meinem Leben gehört. Wilhelmine hat dieses Geheimnis aber mit sich genommen. Klar, sie kannte die Lösung. Ihr Ziel war Opa Josef gewesen, bei dem sie schon seit langer Zeit ist.
So bin ich dann in meiner Zeit durch die Tunnel und Melodien meines Lebens gereist, habe immer wieder jemanden gemocht und doch jene Frage nie beantwortet gefunden, die ich eigentlich damals unwissend gestellt hatte. Wann weiß man, dass jemand zu einem gehört. So viele Umsteigebahnhöfe können auch dem größten Träumer irgendwann die Sicht versperren und die verschiedenen Melodien machen es einem nicht leichter, eine Antwort zu finden. Eines aber wurde immer deutlicher - immer fängt alles damit an, dass man einem Menschen Geschenke macht. Geschenke aus Schokolade und Schinkenrechtecken. Und wenn jemand damit etwas anfangen kann, egal wann, dann werde ich das letzte Mal umsteigen. Die Fahrkarte habe ich gerade gelöst. Ich kann nur noch nicht unterscheiden, ob ich einen Menschen einfach nur mag oder ob er zu meinem Leben gehört. Aber es wäre schon genug Antwort, wenn ich ihn einfach nur mag, für den Rest meines Lebens. In der Zwischenzeit hält die Welt den Atem an.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.01.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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