Michael Speier

Blutrache

Der Mann hatte Tränen in den Augen als er sein schwarzes Roß im November des Jahres 1356 den schmalen Bergpfad hinaufführte. Es war neblig und zudem wurde der matte Vollmond von schweren Gewitterwolken komplett verhüllt. Aber das machte nichts, denn sein treues Pferd setzte langsam und sicher ein Bein vor das andere. Der Mann hatte es nicht eilig. Noch vor wenigen Stunden hatte er sich abgehetzt nach der langen Seereise zurück zu seiner geliebten Eleonora zu kommen, viel zu lange waren die Beiden getrennt gewesen: Als er aus der Kutsche ausgestiegen war und das letzte Stück zu Fuß zurücklegte packte ihn die Vorfreude und er rannte voller Euphorie los. Er sprang förmlich durch die Eingangshalle, warf seinen Mantel leichthändig über einen Stuhl und rief nach Eleonora, aber er hatte keine Antwort bekommen. Das Haus schien tot zu sein. Es brannte zwar Licht und auch im Kamin brannte ein Feuer, aber von Eleonora fehlte jedes Lebenszeichen. Als er sie endlich in der schmalen Halle in der er seine Waffen lagerte gefunden hatte war keine Wärme mehr in ihrem zarten, kindlichen Körper und der letzte Lebensfunken war bereits vor einiger Zeit erloschen. Vincent verstand die Welt nicht mehr. Seine geliebte Eleonora war tot, brutal ermordet von einer Bestie von der er schon zuviel gehört hatte als daß er die Zeichen nicht erkannt hätte. Er nahm einen Säbel von der Wand, warf seinen Mantel über den er vor weniger als zehn Minuten erst abgelegt hatte, rannte wutentbrannt zu den Stallungen, sprang auf sein Pferd und preschte los.

Jetzt hatte alle Zeit der Welt. Jetzt gab es niemanden mehr der auf seine Rückkehr wartete. Er hatte sein Pferd bereits nach wenigen Meilen gezügelt und ritt jetzt langsam und ruhig durch die Stockdunkle Nacht. Er konnte kaum etwas erkennen, aber sein treues Pferd fand einen sicheren Weg. Anfangs wußte er nicht einmal genau wo er hinwollte, doch jetzt hatte er ein Ziel. Er sann auf Rache, doch er wußte auch das ihm die Bestie die er für Eleonoras Tod verantwortlich machte weitaus überlegen war. Der Blinde Rachedurst war nun aus seinem Geist gewichen und hatte Platz für seinen Realitätssinn gemacht. Selbst wenn er diese Bestie stellen könnte, selbst wenn es zum Kampf käme, er würde unterliegen. Es gab nur eine einzige Möglichkeit für ihn. Ein alter Mann über den man in dem kleinen rumänischen Dorf nur mit Vorsicht und hinter vorgehaltener Hand sprach. Ein Hexer, so sagte man, der mit den Mächten der Finsternis und der Hölle paktierte. Und genau dieser Mann würde heute abend noch Besuch von ihm erhalten.

Der Reiter hatte sein Ziel erreicht. Er konnte bereits die Umrisse des Anwesens erkennen als ihm zu frösteln begann. Er brachte sein Pferd zum Stehen und blickte aus seinen blutunterlaufenden, tränenden Augen zu seinem Ziel hinauf. Jetzt da er es erreicht hatte war er sich gar nicht mehr so sicher ob er es überhaupt erreichen wollte. Er hatte schon zu viel von dem Mann gehört als das er einfach an die Tür klopfen und auf ein Schwätzchen eintreten konnte. Der Mann war in diesem Teil des Landes bekannt wie ein bunter Hund, auch wenn ihn bisher noch niemand zu Geschicht bekommen hatte und keiner genau wußte wie er aussah. Während der Mann noch auf dem Pferd saß und überlegte ob er wirklich absteigen und an die Tür klopfen sollte wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Die gewaltige Ebenholztür wurde geöffnet und im Türrahmen stand ein Mann der höchstens dreißig Jahre alt zu sein schien. Sein Umriß zeichnete sich scharf von dem Schein der hellerleuchteten Eingangshalle ab. Er war hochgewachsen und schlank, seine Haare waren lockig und hingen ihm auf die Schultern herab. Er blickte dem Reiter in die Augen, er konnte es nicht genau sehen aber dafür um so besser fühlen. Eine Angst packte ihn. Angst, daß die Gerüchte über diesen Mann wahr sein könnten, und als er gerade die Zügel ergriff um das Pferd zur Umkehr zu bewegen, sprach der Mann ihn mit einer unerwartet freundlichen Stimme an. “Ich habe euch bereits erwartet, Vincent Delakay.“

Delakay war nicht wohl zumute als er seinem Gastgeber gegenübersaß. Seine Befürchtungen daß die Gerüchte die man sich über den Mann erzählte der hier oben ganz alleine auf dem Berg in seiner burgähnlichen Behausung lebte schienen nicht nur wahr zu sein, sie waren womöglich sogar untertrieben. Irgend etwas konnte hier nicht stimmen. Man erzählte sich die wildesten Geschichten über den Alten der hier oben lebte, Vincent hatte sie bereits als kleines Kind gehört, und eben genau da lag der Knackpunkt. Dieser Mann dem er hier gegenübersaß war zweifellos genau derjenige Alte Hexenmeister über den er all die Geschichten gehört hatte, aber der Mann schien keinen Tag älter zu sein als er. Offenbar war er wirklich ein Hexenmeister, aber das war ja auch der Grund warum Vincent ihn aufgesucht hatte.
“Was wißt ihr über die Bestie die eure geliebte Eleonora getötet hat, Vincent Delakay?“
Dieser Satz riß Vincent wieder zurück in die Gegenwart. Ja, was wußte er überhaupt? Nichts weiter als Gerüchte, aber Gerüchte hatten in diesem Teil des Landes eine weitaus höhere Bedeutung als Andernorts. Ohne diese Gerüchte wäre er überhaupt nicht hier, und auch sein Gastgeber und alles was er im Moment sehen, fühlen und riechen konnte waren bis vor wenigen Minuten ebenfalls nur Gerüchte gewesen.
“Ich glaube man nennt sie Lykantrophen, Wesen die sich bei Vollmond in eine blutgierige Bestie verwandelten, Menschen auf bestialischste Weise in Stück rissen und sich bei Tagesanbruch wieder zurückverwandelten.“
“Arme Kreaturen denen ihr Handeln nicht bewußt ist“, berichtige der Hexer ihn.
“Ja. Mörder in Wolfsgestalt. Monster. Bestien.“
“Aberglaube, Delakay, meint ihr nicht?“
Vincent zuckte mit den Schultern.
“Ihr glaubt nicht recht was ihr zu wissen glaubt. Aber eines kann ich euch sagen, es ist alles wahr. Aber das ist nur sehr oberflächlich. Ihr hegt einen Groll gegen den der euch das angetan hat, und wenn es nach euch ginge, dann würdet ihr ihn auf die schmerzhafteste Weise töten die euch möglich ist, nicht wahr Delakay?“
Vincent nahm einen tiefen Schluck aus dem Weinglas das sein Gastgeber ihm gereicht hatte. Er nickte langsam aber entschlossen. Tränen schossen ihm in die Augen. “Ja!“ stöhnte Vincent mit unterdrückter Wut.
“Und ihr glaubt daß euch das eure geliebte Eleonora zurückbringt?“ Der Mann lachte kehlig als Vincent ihn aus seinen blutunterlaufenen Augen ansah.
“Nein, sie ist euch genommen worden, und nichts auf dieser Welt kann sie euch zurückbringen. Nicht einmal der Tod dieser Bestie. Aber wenn ihr euch etwas in den Kopf gesetzt habt, dann werdet ihr es auch in die Tat umsetzen, koste es was es wolle, habe ich nicht recht? Ich kenne euch, Vincent Delakay, ich kenne euch vielleicht sogar besser als ihr euch selbst kennt. Nur aus diesem Grunde seid ihr hier. Denn ich weiß auch daß ihr mich fürchtet. Es hat euch Überwindung gekostet hierher zu kommen.“
“Und doch habe ich es getan.“
“Weil ihr glaubt das ich euch helfen kann, weil ihr selbst es nicht könnt. Wut und Verzweiflung haben euch hierher getrieben.“
Delakay nickte.
“Und welche Art der Hilfe habt ihr von mir erwartet, Vincent Delakay.“
Delakay zuckte mit den Schultern. Jetzt wo er darüber nachdachte wußte er selbst nicht wie der Fremde ihm helfen sollte.
“Man erzählt sich ihr wäret ein Hexenmeister.“
“Ich weiß man sich über mich erzählt. Aber glaubt mir, nur die Hälfte davon ist wahr.“
“Selbst diese Hälfte wäre genug.“
“Und wenn es die falsche Hälfte wäre?“ Der Mann grinste diabolisch.
“Die Hälfte ist vielleicht weitaus schlimmer als die Menschheit verstehen könnte. Aber eines glaubt mir, mit Hexerei habe ich nichts zu tun.“
“Das spielt keine Rolle wenn es stimmt was man sich von euch erzählt. Man sagt, ihr wäret sehr mächtig.“
“Du sagst es.“
“Und ihr könntet diese Bestie dafür bezahlen lassen was sie getan hat, nicht wahr?“
“Natürlich könnte ich das.“
“Und das ist alles worum ich euch bitte, Meister.“
Der Fremde sprang aus seinem Stuhl und war mit einem Satz bei Delakay. Er beugte sich zu ihm in den Stuhl herab und starrte ihm voller Haß in die erschrockenen Augen.
“So, das ist also alles worum ihr mich bittet“, verspottete der Fremde Vincent. Er starrte ihm tief in die Augen und Vincent merkte das ihm langsam aber sicher die Sinne schwanden.
“Worum ihr bittet ist nichts geringes als Blutrache“ zischte der Mann verächtlich. Vincent wurde ohnmächtig. “Aber keine Sorge, ihr werdet eure Rache bekommen. Doch der Preis den ihr dafür zahlen werdet wird euch nicht gefallen.“

Vincent erwachte in seinem Bett. Die Sonne stach ihm in den Augen und brannte auf seiner Haut. Schlaftrunken wankte er aus dem Bett auf die hohen Fenster zu und ergriff die schweren Vorhänge um sie zuzuziehen. Als er dies getan hatte schleppte er sich wieder ins Bett und ließ sich auf die dicke Matratze sinken. Minutenlang lag er einfach nur da und starrte an die hoch über ihm liegende, verzierte Zimmerdecke. Sein Kopf fühlte sich an als hätte er die ganze Nacht durchgezecht, dabei hatte er lediglich ein halbes Glas Wein getrunken. Krampfhaft versuchte er die verlorenen Erinnerungen zurückzugewinnen. Er wußte nicht mehr was passiert war, nicht einmal wie er hierher gekommen war. Das letzte woran er sich erinnerte war das Schiff. Die Kutsche, der Heimweg, die Freude seine geliebte Frau wiederzusehen... Langsam dämmerte es ihm wieder. Er sog die trockene, staubige Luft seines Schlafgemachs ein. Er roch die kalte Asche im Kamin und die Aromen des Weins der in einer Karaffe auf dem Tisch stand. Auf dem Tisch im Nebenraum! Sein Geruchssinn schien über Nacht um ein tausendfaches empfindlicher geworden zu sein, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Nach und nach kamen Fetzen seiner Erinnerung zurück. Er hörte wie das Blut durch die Venen der Pferde gepumpt wurde als sie die Kutsche zogen. Er hatte die Kutsche verlassen und die restlichen Meter zu Fuß zurückgelegt. Er fühlte den Kies unter seinen Stiefeln, spürte die Kälte in der Luft und hörte die Schneeflocken sanft herabrieseln. Nein, das war keine Erinnerung, es war die Gegenwart. Draußen schneite es, und Vincent konnte den Schnee fallen hören. Auch sein Gehör schien empfindlicher geworden zu sein, viel empfindlicher noch als das eines Tieres. Vor seinem geistigen Auge ging er durch die Eingangshalle, sah den Kamin, rief nach seiner Eleonora, bekam jedoch keine Antwort. Er warf seinen Mantel auf den Lehnstuhl in der Eingangshalle, schritt durch die Flure auf der Suche nach seiner Frau. Er ging durch sämtliche Räume seines Anwesens. Er nahm einen Geruch wahr der ihm vorher noch nie bewußt in die Nase gestiegen war. Instinktiv wußte er daß die Quelle dieses Geruchs der ihn fast um den Verstand brachte seine Suche nach Eleonora beenden würde. Er lag noch immer auf dem Bett und starrte an die Decke, ganz ruhig lag er da, aber sein Herz begann zu rasen. Er folgte in Gedanken dem Geruch und gewann Stück für Stück seine Erinnerungen zurück. In dem Schmalen Raum der ihm als Waffenkammer diente fand er Eleonora. Ihre Bauchdecke war aufgerissen, ihre Kehle war zerfetzt und ihr Gesicht zu einer grauenvolle Fratze erstarrt. Vincent stieß einen lauten Schrei aus und schoß in die Höhe. Er atmete schwer, er schwitzte, und das wenige Licht das durch die dunklen und dicken Vorhänge in das Zimmer drang schien den Raum so hell zu fluten das er dachte das Haus stünde lichterloh in Flammen. Jetzt fiel ihm alles wieder ein. Der ganze Abend war plötzlich wieder da. Alles, jede Einzelheit. Er wurde wütend. Er wurde immer wütender, und dann brüllte er es lauthals heraus.
“WAS HAST DU MIR ANGETAN, DU VERDAMMTER HEXENMEISTER!“

All seine Sinne schienen aufs äußerste angespannt zu sein. Wie am Vorabend saß er auf seinem Roß und ritt den schmalen Bergpfad zu dem Anwesen hoch, allerdings deutlich schneller und entschlossener als am Abend. Außerdem trug er wieder seinen Säbel, aber dieses Mal nicht um damit gegen die Bestie anzutreten die seine geliebte Eleonora getötet hatte, sondern um den Hexenmeister zu vernichten der ihn getötet hatte. Er fühlte ganz deutlich den Wind auf seiner Haut, obwohl seine lederne Kleidung überhaupt keinen Wind durchließ. Er hörte die wenigen Schneeflocken herabrieseln und selbst die Schritte der Insekten konnte er hören. Seine Sehstärke machte ihm zu schaffen, denn die Sonne die hoch am Himmel stand stach ihm in den Augen und blendete ihn so extrem das er sogar fast weniger sehen konnte als in der letzten Nacht. Wieder war er auf die Sehstärke seines Pferdes angewiesen. Er roch und schmeckte das Salz das vom Meer herwehte, und das obwohl es meilenweit weg war. Auch konnte er die Brandung an die Klippen schlagen hören, hörte wie die Bäume wuchsen und sich der Sonne entgegenreckten. Der Duft der Bäume und Pflanzen stieg ihm in die Nase obwohl es tiefer Winter war und nichts aber auch gar nichts blühte. Der verdammte Hexer hatte ihn irgendwie verzaubert, das wußte - spürte - er, wie sonst konnte man erklären was mit ihm geschehen war. Darum hatte er ihn nicht gebeten. Er erreichte das Anwesen des Fremden und sah das der Mann in der Türe stand und auf ihn wartete, genau wie am Vorabend, nur daß er dieses Mal erheitert lachte. Vincent zügelte sein Pferd, sprang herab, zog seinen Säbel und rannte auf den Hexer zu. Er riß die rasiermesserscharfe Waffe zum Hieb hoch, doch als er sie gerade auf den Schädel des Mannes herabsausen lassen wollte schnellte die Hand des Hexers hoch, packte die Klinge mit spielerischer Leichtigkeit, und bremste so Vincents Schlag ab. Vincent hatte Kraft, und dieser Schlag hätte den Schädel des Mannes sicherlich in zwei Hälften gespalten, aber dennoch hatte er den Schlag mit der bloßen Hand gebremst. Der Hexer machte eine kurze Drehung mit dem Arm und Vincent verlor die Waffe auf der Hand. Ungläubig starrte er den Mann an der da mit der Hand in die Klinge gepackt und ihm die Waffe abgenommen hatte.
“Schön das du wieder da bist, auch wenn dein Anliegen scheinbar anderer Natur ist als ich gedacht hatte. Ich hätte dich besser gewähren lassen, dann hättest du gesehen daß dein Schlag mir nichts angetan hätte.“
Vincent bückte sich und nahm die Waffe wieder auf. Der Hexer stand vor ihm und hob beide Hände in die Höhe.
“Na los, versuche es wenn du möchtest.“
Vincent überlegte kurz und stach dem Mann die Klinge mit einer derartigen Geschwindigkeit in die Brust daß das bloße Auge es nicht einmal wahrnahm. Doch die erwartete Reaktion blieb aus. Anstatt leblos zusammenzusinken lachte der Mann Vincent nur ins Gesicht. Ungläubig und wie gelähmt sah Vincent zu wie der Mann an Vincents Gürtel griff, den Dolch löste und ihn ihm in die Brust rammte. Vincent packte sofort nach des Hexers Arm, doch dieser war wie aus Stein gehauen. Vincent erwartete den Tod, doch er schien nicht einzutreten. Als er den Dolch wieder aus Vincents Brust zog ließ der Schmerz auf der Sekunde nach. Merkwürdigerweise schien die Wunde jedoch nicht zu bluten. Wie erstarrt sah er wie auch der Hexer den Säbel wieder aus seinem Körper zog und ihn Vincent reichte der es jedoch nicht wagte ihn wieder entgegenzunehmen. Der Hexer nickte.
“Ja, du mußt noch viel lernen wie du sicherlich auch gemerkt hast. Und ich muß ich dir noch viel beibringen, mein Schüler.“

Auf allen Vieren hetzte Duncan durch den Wald. Getrieben wurde er nur von seinen Instinkten und der puren Gier in ihm. Es war wie immer bei Vollmond. Duncan Romanoja, der edelmütige, sanftherzige junge Bauer verlor die Kontrolle über seinen Körper und seine Sinne, wurde nur noch getrieben von niederen Instinkten. Er hetzte durch den Wald, blieb kurz stehen weil er etwas witterte, drehte seinen Kopf und sah nur noch das Aufblitzen von kaltem Silber das im Halbkreis auf seinen Schädel zusauste. Dann wurde es schwarz. Duncan wurde wieder zu dem edelmütigen sanftherzigen jungen Bauern der er gewesen war, nur war er jetzt toter als vor der Verwandlung. Aus dem Schatten trat ein junger Mann, seine langen schwarzen Haare hatte er zum Zopf zusammengebunden und in der rechten Hand hielt er einen Armlangen Säbel an dessen mit Silber überzogenen Schneide jetzt Duncans Blut klebte. Er stand ganz ruhig da und blickte auf den sich zurückverwandelnden Bauern herab dessen warmes Blut jetzt in das grüne, sommerliche Gras sickerte. Es war dunkelste Nacht, aber Vincent sah so deutlich als wäre es zwölf Uhr mittags. Hinter einem Busch ertönte ein langsames, leises Händeklatschen. Vincent drehte seinen Kopf ganz langsam und erblickte seinen Meister hinter dem Busch. Er trat langsam hervor und ging auf Vincent zu der noch immer reglos dastand. Er hatte nicht einmal geblinzelt.
“Wirklich gut mein Schüler, wirklich gut. Du bist schnell, du bist leise, du bist tödlich. Ich habe dich gut unterrichtet.“
Vincent deutete ein Nicken an und senkte seinen Blick wieder auf den toten, mittlerweile völlig zurückverwandelten Duncan. Er sah auf das entsetzte Gesicht des Mannes, empfand aber nicht die geringste Spur von Mitleid.
“Eines mußt du jedoch noch lernen, Vincent.“
Vincent zwinkerte, sah jedoch nicht auf.
“Du hast ein Menschenleben ausgelöscht, aber du scheinst nicht einmal die kleinste Spur von Reue zu empfinden.“
“Reue?“ Vincent sprach das Wort aus als würde er seinem ärgsten Feind ins Gesicht spucken.
“Wie soll ich Reue empfinden für eine derartige Kreatur.“
“Glaubst du etwa daß du etwas besseres bist, Vincent? Glaubst du etwa dein Leben wäre mehr wert als das dieser bedauernswerten Kreatur?“
“Wie kannst du mich mit diesem Monster vergleichen?“ fauchte Vincent seinen Meister an.
“Ja“, flüsterte der Meister leise. “Ihr seid sehr verschieden, du und dieser Mann da. Er tötete aus Instinkten, weil ihm keine andere Wahl blieb als zu töten. Er hatte keine Kontrolle über sein Handeln. Du hingegen weißt genau was du tust.“
“Und Gott ist mein Zeuge, ich werde damit weitermachen.“
“Gott?“ Der Meister schüttelte den Kopf. “Mit Gott hat das nichts zu schaffen. Du hast deine Rache bekommen, Vincent, der Mörder deiner Eleonora ist tot...“
“...aber Seinesgleichen beschmutzen noch immer diese Erde“, unterbrach Vincent seinen Lehrmeister schreiend.
“Seinesgleichen, Deinesgleichen, Meinesgleichen. Monster, allesamt, nichts weiter.“
“Du wagst es so über uns zu reden?“
“Was bist du denn, Vincent Delakay? Was? Eine Bestie, genau wie dieser Mann, nur noch schlimmer.“
“Du hast mich zu dem gemacht was ich bin“, schrie Vincent trotzig. “Und jetzt verfluchst du mich dafür.“
“Du kanntest den Preis für deine Rache. Du warst so blind daß du bereit warst ihn zu bezahlen. Nun ist es soweit. Deine Rache hast du bekommen, aber der Preis ist so hoch das du immer weiter bezahlen wirst. Immer weiter, bis in alle Ewigkeit.“
Vincent schüttelte den Kopf.
“Man kann dich nicht töten, Kainskind. Du wirst weder Krankheit noch Tod erleiden, aber auch weder Liebe noch Wärme. Du wirst gehaßt und verfolgt werden, bis in alle Ewigkeit.“
Langsam kam der Meister näher und als sein Mund ganz dicht vor Vincents Ohr war flüsterte er: “Und jetzt frage ich dich, Vincent Delakay, war dieser Preis nicht zu hoch für deine Rache?“
Vincent drehte seinen Kopf und starrte in die toten Augen seines Meisters. Er schüttelte den Kopf.
“Du wirst schon noch erkennen wie hoch der Preis den du zahlst in Wirklichkeit ist.“
Mit diesen Worten drehte der Meister sich um und verschwand im Wald. Vincent starrte ihm noch eine Weile hinterher, doch er würde ihn vermutlich nie wiedersehen. Seine Lehre war vorbei. Er war nun selbst ein Meister. Und er würde die Werwölfe, die er für den Tod seiner Liebe und seines eigenen Lebens verantwortlich machte, auf Ewig verfolgen und vernichten. Das schwor er. Aber er hatte keine Ahnung wie lange die Ewigkeit dauern würde.

- E N D E -

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.01.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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