Günther Würdemann

So wurde ich zum sexy Lehrer

Aus der pädagogischen Bildungsreihe
„Lehrer in Deutschland“ oder „Erlebte Schulwirklichkeit“
ein Reality–Beitrag von einem, der auszog, das Lernen zu lehren

Eine Schule in Deutschland. Irgendwo im Norden. Die Klasse besteht im Wesentlichen aus Sitzenbleibern der vorigen achten Klasse und Rückläufern aus der Realschule. Insgesamt sind es 18 Schülerinnen und Schüler. (Eine Traumzahl, wenn man bedenkt, dass eine HS - Klasse lt. Erlass maximal 26 umfassen darf.) Aber die Anwesenheit aller Schüler und Schülerinnen wurde nur einmal erreicht. Am ersten Tag des neuen Schuljahres. Danach wurden es immer weniger. Einige sind dauerkrank, manche manchmal, andere haben einfach keinen Bock auf Schule. Mittlerweile, ein Vierteljahr später, gelten 12 Schüler schon als 100 %. Ein herrliches Arbeiten, könnte man denken. Ja schon, wenn der Nullbock nicht wäre. Der Stundenplan weist Mathematik aus. 10 Schülerinnen und Schüler haben sich vorgenommen heute anwesend zu sein. Der Lehrer, in dieser Stunde fällt mir das Amt zu, wird meistens von zwei bis drei Schülern in den Klassenraum geleitet. Ich habe häufiger betont, dass das nicht nötig sei. Ich habe den Raum immer noch selbst gefunden. Bisher hat es nicht gefruchtet. Also werte ich das diesbezügliche Schülerverhalten als voraus schauende Vorsichtsmaßnahme. Bestandsschutz. Ich könnte vielleicht sonst die Eingangstür verfehlen oder anderweitig verloren gehen. Beim Betreten des Raumes nehmen höchstens drei bis vier Schüler von meinem Erscheinen Notiz, obwohl ich mit meinen 1,78 m nicht unbedingt zu übersehen bin. Rechts malt ein Schüler weiter an einem in Umrissen vorgedruckten Bild. Mit Filzstiften natürlich. Dabei lernen die Schüler schon in der Grundschule, warum es besser und vor allem gesünder ist, mit Buntstiften zu malen. Aber das interessiert hier niemanden. Hinten am Fenster sind zwei Mädchen noch sehr intensiv in ein Gespräch vertieft. Ein kurzer Blick nach vorne, wo ich stehe. Und dann Gesichter mit Augenaufschlag zur Zimmerdecke, die mir sagen wollen: Ach, der schon wieder. Lieber Gott, verschone uns von dem Übel. In solchen Situationen werden manche Schüler eben religiös. Meiner wiederholt geäußerten Bitte, zu Beginn der Stunde die jeweiligen Fachmaterialien und entsprechendes Schreibwerkzeug auf dem Tisch präsent zu haben, hat bei gerade drei Schülern Gehör gefunden. Einige behaupten auf Nachfrage, sie hätten immer noch keine Bücher. Das läge am neuen Ausleihverfahren. Ihre Eltern hätten leider den festgesetzten Termin für die Entrichtung der Leihgebühren verpasst. Kein Geld, keine Bücher. So einfach ist das. Man könnte die benötigten Seiten natürlich kopieren. Aber das wäre nicht gerecht, denn dann unterstützt man ja diejenigen, die den Überweisungstermin verschlafen oder verpasst haben und deren Kinder jetzt zur Belohnung sozusagen im Gegensatz zu den pünktlichen Eltern die Unterrichtsmaterialien kostengünstiger als beim Ausleihverfahren erhalten. Was also tun?
Hausaufgaben aufzugeben ist fast unmöglich. Auch wenn mancher sie machen würde. Es geht nicht, wenn er kein Buch hat. Aber dem können wir ja kurzfristig abhelfen. Die besitzenden Schüler verleihen ihre Bücher an die Bedürftigen, so dass mindestens zwei ein Buch vor sich liegen haben. Um mir einen Eindruck von der Leistungsfähigkeit eines jeden Schülers zu verschaffen, ist die Erledigung eines Tagesplans angesagt. Trotz eines gemeinsamen Buches getrenntes Bearbeiten und Lösen der Aufgaben. So weiß ich bei der Durchsicht der gerechneten Aufgaben, wo einzelne Schüler Schwierigkeiten haben. Und kann dann an diesen Stellen nachhaken und individuell fördern. Das Problem allerdings liegt auf der Hand. Statt vorwiegend allein an der Lösung der gestellten Aufgaben zu arbeiten, bilden sich jetzt mindestens Zweiergruppen. Das erspart mir als Lehrer natürlich, an mehreren Tischen gleichzeitig Hilfe zu geben. Aber das Wahre ist es nicht. Denn: Man kupfert ab. Dadurch lassen sich Ergebnisse, ob richtig oder falsch, nicht mehr eindeutig zuordnen. Pech nur, wenn der vermeintlich intelligentere Nebenmann oder die Nebenfrau auch keine Ahnung hat. Für mich wird es in einem solchen Falle wieder einfacher. Ich weiß dann, dass beide noch Förderbedarf haben. Ganz hinten in der Ecke hat jemand einen Knopf im Ohr. Aha, der hört unerlaubt Musik. Als ich ihn anspreche, beweist er mir, dass er lediglich das dickere Ende des Ohrhörerkabels im Ohr hat. Kein Anschluss an irgendeinen Cassettenrecorder oder CD-Player. Vielleicht eine vorausschauende modische Variante? Oder --- ich wage gar nicht daran zu denken --- etwa ein Geburtsfehler? Wahrscheinlich ist er mit dem Knopf im Ohr schon zur Welt gekommen? Aber dann hätte mich doch seine Mutter bei einem unserer ersten Telefonate schonend darauf aufmerksam gemacht. Nun denn --- gegen solche Geburtsfehler kann man schlecht etwas machen. Ich versuche es trotzdem. Auf meine Bitten, den Fremdkörper aus seinem äußeren Gehörgang zu entfernen und ihn der Büchertasche anzuvertrauen, reagiert er erst nach mehrmaliger Aufforderung und immer noch sehr zögerlich. Kunststück – mit einem Knopf im Ohr hätte ich mit dem Hören sicherlich auch Probleme. Übrigens --- Knopf im Ohr? Das gab es doch schon mal in anderem Zusammenhang. Aus der Werbung ist mir so etwas bekannt. Aber bitte --- hier ist nicht der Ort für Werbung. --- Was soll ich mich weiter darüber aufregen. Natürlich kann der Schüler mit Knopf im Ohr (aber auch ohne) kein Mathe machen. Wieso nicht? Weil er mir lapidar mitteilt, dass er keine Lust habe, überhaupt in dieser Richtung arbeitsmäßig tätig zu werden. Ihn interessiere der ganze „Scheißdreck“ nicht. Keine Lust auf Unterricht im Allgemeinen und auf Mathematik im Besonderen. Und im Übrigen könne er das schon alles. Den Beweis dafür ist er mir allerdings in den bisherigen Arbeiten schuldig geblieben. Aber es gibt ja auch versteckte oder schlummernde Talente, die erst in kommenden Jahren zum Vorschein kommen. Wenn überhaupt… Die Hoffnung stirbt zuletzt. Also hoffe ich … Manchmal wird mir Angst und Bange, wenn ich daran denke, dass diese Jugend unseren Staat wieder flott machen soll. Dass diese Schüler unsere Renten und Pensionen finanzieren sollen. Unsere Jugend ist unsere Zukunft. Oder so…
Noch zehn Minuten bis zum Ende der Stunde. Die Tür des Klassenzimmers geht auf und herein treten drei Schülerinnen. Zwei marschieren direkt zu ihrem Platz und lassen sich gelangweilt auf einen der Stühle fallen. Eine der beiden hat sich für einen Schulbesuch übermäßig farbenfroh geschminkt (dabei steht heute gar nicht „Tuschen“ auf dem Stundenplan) und modisch überdreht gekleidet. In ihrer auffälligen Aufmachung ähnelt sie mehr einer Bordsteinschwalbe denn einer wissbegierigen Schülerin. Statt einer Büchertasche wedelt sie mit einem kleinen weißen Handtäschchen und bewegt sich wie ein Model auf dem Laufsteg. Aus diesem Mädchen kann noch was werden. Auch ohne gute Zensuren und ohne Schulabschluss. Dazu müsste sie noch nicht einmal unbedingt einen Lehrberuf ergreifen. Die dritte im Bunde entdeckt mich auf dem Weg zu ihrem angestammten Sitzplatz als im Raum anwesend und teilt mir als Entschuldigung mit: “Ich habe den Gong zur Stunde nicht gehört.“ Nanu, das war immerhin bereits vor 35 Minuten. Aber na ja, wenn man vom Busbahnhof langsam Richtung Unterrichtsraum geht, immer zwei Schritte vor und einen zurück, dann kann das schon möglich sein. Dann war das eigentlich immer noch fast zeitgerecht. Gut, was soll ich mich darüber aufregen. Diese drei sind selten anwesend. Soll ich mich doch freuen, dass sie überhaupt gekommen sind. Man wird als Lehrer immer genügsamer. Man freut sich in dieser Klasse schon über positive Kleinigkeiten, so genannte pädagogische Häppchen. Da fällt mir ein, dass zwei der Schülerinnen noch ihre Mathematik – Arbeit nachschreiben müssen. Das könnten sie doch gut in dieser Stunde schon mal in Angriff nehmen. Ich meine, wenn sie schon mal da sind. Und wenn sie sowieso kein passendes Arbeitsmaterial mithaben. Den Rest sollten sie dann in einer der nächsten Stunden erledigen. Ein bis zwei Kugelschreiber bin ich noch bereit zu opfern. Also lege ich ihnen die Arbeitsblätter hin. Aber ein solches Blatt reicht noch nicht, die müden Gliedmaßen in Schwung zu bringen. Mir wird ganz deutlich mitgeteilt, dass beide in keiner Weise daran dächten, diese Arbeit zu schreiben. Sie hätten keinen Bock auf Mathe und im Übrigen sei dieses Fach sowieso Sch… . ( Ach ja, das hatten wir doch schon!) Man muss eben mit allem rechnen, nicht nur in der Mathematik. Ich jedenfalls kann in diesem Falle nicht mit einer fristgerechten Erledigung des Arbeitsauftrags rechnen. Damit steht eine weitere Zensur für das nächste Zeugnis fest. Aber das interessiert die Schülerinnen überhaupt nicht. Mit dem Gongschlag verlassen alle Schüler den Raum und begeben sich zur Pause auf den Hof. Meine drei Zuspätkommerinnen haben auf dem Weg nach draußen ihre Büchertaschen in der Hand. Auf meinen Hinweis, sie hätten doch noch 4 Stunden Unterricht in diesem Klassenraum, erhalte ich zur Antwort, sie nähmen aus Sicherheitsgründen immer ihre Büchertaschen mit auf den Hof. Und das schon seit Jahren. Obwohl der Raum immer abgeschlossen wird. Na denn, sie sollen tun, was sie nicht lassen können. Vielleicht haben sie wirklich triftige Gründe für ihr in meinen Augen etwas seltsames Verhalten. Ich denke mir nichts weiter dabei. Ich will ja schließlich nicht auch noch in den Pausen geistig gefordert werden. Erst nach der Pause zur nächsten Stunde findet sich eine Erklärung für dieses seltsame Benehmen. Alle drei wurden an diesem Tag nicht mehr in der Schule gesehen. Ich meine, groß genug sind die Schüler in diesem Alter ja schon. Und wenn man so groß ist, dann kann man letztlich doch selbst entscheiden, wann man der dauernden Überforderung durch Schule entrinnen möchte. Man will sich ja nicht dadurch den ganzen Tag versauen. 10 Minuten Unterricht täglich sind genug. Jeder gestalte sich sein eigenes Leben. Denn nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir. Das erste Kapitel beherrschen sie jedenfalls bereits ganz gut. Und was haben wir in dieser Stunde gelernt? Fünf von 13 Schülern und Schülerinnen haben ihren Tagesplan erfüllt und mir den Zettel mit den Ergebnissen abgegeben. Das ist immerhin eine Erfolgsquote von 38,4%. Und das gibt´s in der heutigen Zeit nicht mal auf der Sparkasse.
Spätestens bei dem Erhalt der Zeugnisse und dem Blick auf die Zeugnisnoten ist der Lehrer an allem Schuld. Aber wie soll ich die Schülerinnen bewerten, wenn sie dauerhaft unentschuldigt fehlen. Bei denen sogar die Mütter morgens zur großen Pause in die Schule kommen, um mal mit ihren Töchtern zu sprechen, weil die sich tage- und nächtelang nicht zu Hause haben sehen lassen. Also wie soll ich diese Schülerinnen (und auch Schüler) bewerten, von denen ich keinerlei Leistungsnachweise erhalten habe. Ich werde in dieser Klasse eingehen in die Annalen --- so viele Sechsen musste ich in meiner ganzen Dienstzeit (und die dauert schon ziemlich lange!) noch nicht verteilen.

So erwirbt man sich ungewollt den Ruf als sexy Lehrer.





Die von mir erzählte Geschichte ist zwar nicht symptomatisch für diese Schulform und Klassenstufe
(ich habe in meinen Dienstjahren Gott sei Dank auch in der Hauptschule lernfreudigere Klassen und Situationen erlebt), aber dieses einjährige Erlebnis hat mir gezeigt, dass erlebte Wirklichkeit bitterer und frustrierender sein kann als die erahnte Realität.
Wenn man es denn nicht schafft (aus welchen Gründen auch immer), zahlenmäßig kleinere Klassen ein-zurichten und mehr Lehrer einzustellen, um eine Betreuung und Unterrichtung auffälliger Schüler in Kleingruppen zu ermöglichen, gibt es nur zwei Möglichkeiten: 1. Schritt --> Abschaffung der Schulpflicht 2. Schritt --> Abschaffung der Schule
Das bringt uns zurück in vergangene Zeiten und wenn wir Glück haben, zurück zu den Lebensumständen unserer steinzeitlichen Vorfahren. Auf die Bäume ...
Fürwahr paradiesische Zustände.
Günther Würdemann, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.01.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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