Katharina Kunkel

Der kleine Treber

Weihnachtsfeier im Betrieb: Da muss man nichts zu sagen. Um 22.00 kam ich endlich fort und ging heim. Da saß er dann vor meiner Haustür, zusammengekauert verfroren. Als ich näher kam, stand er auf und schaute mich mit blauen Lippen an. „Was willst Du denn jetzt hier?“, fragte ich und war fast verärgert. „Na, ‚ne Zeit bleiben“ sagte er. Und da war ich verwirrt. Weil es so kalt war, habe ich gemeint „Komm erst mal mit rauf, ich mach uns Kakao“ und so sind wir nach oben gegangen.

Im Sommer habe ich mal auf meiner Decke im Park gelesen; da hat er sich einfach dazu gesetzt und gefragt, was ich lese. So haben wir uns damals kennen gelernt. Er sei vierzehn und „auf Trebe“. Für mich hieß das, er lebte auf der Strasse und war oft allein. Eigentlich hätte er bei seiner Familie sein sollen und zur Schule gehen. Vielleicht auch am Samstag mal tanzen. Er wollte nur über das Buch reden und ich dachte, dass er eigentlich nur ob der geschnorrten Zigaretten bei mir saß. Ich lass Woody Allen – „Allen für alle“ und plötzlich fragte er, ob ich ihm nicht vorlesen könnte. So ging der Nachmittag rum. Um sieben meinte ich, ob er nicht Lust hätte, mit mir noch zu essen, ich würde ihn einladen. Da guckte er mich ganz erwachsen an und sagte, er sorgt für sich selber. Und dann ist er weg.

Ich habe ihn dann wohl sechs Wochen nicht gesehen. So was geht einem nicht einfach aus dem Kopf, so habe ich manchmal an ihn gedacht. Aber einmal, als ich von der Arbeit nach Hause ging, stand er dann im Park, genau da, wo wir damals saßen. „Hallo“ sagte er und er habe auf mich gewartet. „Ich hatte ‚nen guten Job, lass uns ein Bier trinken geh’n“, sagte er und da lachte ich: „Du bist viel zu jung, das darfst Du nicht mal in der Öffentlichkeit“ und da schwenkte er ein Sixpack und grinste und meint, dass wir natürlich zu mir gehen müssen. „Na komm“, sagte ich und wunderte mich, dass ich nicht mal überlegen musste.

Als er vor meinem Bücherschrank stand und goldene Augen bekam, ging mir das sehr nahe. So einer, der muss doch zur Schule. „Liest Du bitte wieder vor?“ fragt er und ich sagte ja, er solle sich etwas aussuchen. Er wollte Kafka, da habe ich die Erzählungen gegriffen und den „Hungerkünster“ vorgelesen. Das fand ich irgendwie passend. Zwischendurch habe ich versucht, ihn zu fragen, warum er so lebt, aber gesagt hat er nichts. Nur weiter lesen sollte ich. Als der Kafka zu Ende war, sagte er „bitte such noch eins raus was schön ist“ und guckte ganz komisch. Da habe ich dann den „Kleinen Prinzen“ vorgelesen, weil der mir so viel bedeutet.

Mein Pa hat, als er siebzehn war, den kleinen Prinzen mal handgeschrieben und die Bilder nachgemalt und die Seiten binden lassen und das Buch meiner Ma geschenkt. Das hat sie noch immer und immer bei sich. Der Prinz ist mir wichtig, nicht nur, weil das ein so wunderbares Buch ist.

Ich habe den „Kleinen Prinzen“ von Anfang bis Ende gelesen. Er lag auf dem Sofa, sah mich an und ich glaube, er fühlte sich wohl. Als das Bier alle war, ging er.

Als wir also nun unseren Kakao tranken, fragte ich, was los sei. „Kalt ist“, sagte er und dass er das nicht mehr draußen aushält. Dass er hier bleiben will, weil es hier warm ist und er nicht wüsste, wo er sonst hin könnte. „Ich denk drüber nach“, dann ging ich in mein Bad und sah in den Spiegel. Wenn ich nein sage, dachte ich plötzlich, dann kann ich nicht wieder in den Spiegel sehen. Das wiegt viel schlimmer als das, was alles passieren könnte, wenn er bleibt.

Es ist jetzt eine Woche her, dass ich ihm sagte, er kann bleiben und auf der Bettcouch übernachten. Vorhin hat er mich gefragt, ob ich ihm das Geld für die Bahnfahrt nach Hause leihe und dass ich es wiederbekäme. Und obwohl ich ein wenig traurig bin, weil er mir fehlen wird, macht mich das unendlich froh.


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.02.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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