Polina Bessange

Warum

-Warum hat sie das getan? Warum?-fragten alle. Sie lag da, mit geschlossenen Augen, die sie nie mehr öffnen würde. Sie waren blau gewesen. Jetzt würde das niemand mehr sehen. Ihr Gesicht war blutüberströmt, das Blut tropfte auf den Boden. Sie hatte einen blauen Pullover an, genau diesen blauen Pullover, den sie so oft trug. “Miss Sixty“-stand darauf geschrieben. Das war ihr Lieblingspulli gewesen, der schönste, himmelblau. Das einzige teure Kleidungstück in ihrer Garderobe. Die Lumpensammlerin, hatten sie sie genannt. Der himmelblaue Pullover, die himmelblauen Augen. Tot. Warum hat sie das getan?-fragten sie. Er wusste, warum. Er hatte es schon lange gewusst. Aber er war nicht da. Und jetzt war es zu spät. Noch vor einigen Minuten hätte er da sein müssen. Er hätte ihr sagen müssen, dass er sie liebte. Und vielleicht wären ihre blaue Augen jetzt nicht für immer geschlossen gewesen. Jetzt würde sie nie mehr erfahren, dass jemand sie liebte.
Sie war ein stilles Mädchen gewesen. Aber kein Mauerblümchen, nein. Komisch, sagte man über sie. Einmalig,-dachte er. Warum hatte er es nie zu ihr gesagt? Sie hatte diese Augen, die einen so allerwissend anblickten. Als könne nichts in diesem Leben sie überraschen, als wüsste sie bereits alles, was man wissen kann. Sie hatte keine Freunde und keine Feinde. Einsam, sie war so einsam. Und wenn sie inmitten vieler Menschen sass, so schwamm sie doch auf ihrer eigenen Insel. Manche sagten, sie sei dumm. Manche sagten, sie sei klug. Viele sahen sie nicht. Ah ja, das ist doch die, mit ihrem ewigen blauen Pullover. Sie konnte witzig sein, manche lachten über ihre Witze. Dann gingen sie weg und sie blieb wieder allein. Niemand fragte nach ihrer Adresse, niemand fragte nach ihrer Telephonnummer. -Willst du wirklich meine Telephonnummer haben?-hatte sie verwundert gelacht, als er sie danach fragte,-weisst du, du bist der Erste Fragende seit zwei Jahren,-und sie lachte, als er sie benommen ansah. Aber sie gab sie ihm doch.
Er wartete auf sie jeden Tag, beobachtete sie aus sicherer Entfernung nach der Schule, traute sich dann doch nicht, auf sie zuzugehen. Sah, wie sie stets allein nach Hause lief.
Einmal wurde eine Party gefeiert und sie wurde eingeladen. Etwas wie Freude blickte in ihren Augen auf,aber als sie zur Party erschien, beachtete sie niemand. Sie fing Gespräche an, machte Witze, stellte sich zu Grüppchen von Menschen hin, die dann gingen und sie stehen liessen. Allein. Oft waren ihre blauen Augen verweint und gerötet. Niemand hatte es gesehen. Nur er. Jetzt fragen sie, warum. Sie trug eine Bombe in sich, eine Bombe der Verzweflung, des Schmerzes und der Einsamkeit. Sie tickte, doch niemand hatte darauf geachtet. Und wie jede Bombe war sie jetzt explodiert. Zu spät. Das Mädchen war tot. Himmelblauer Pullover, himmelblaue Augen. Sie starb an Mangel von Liebe. Er hatte die Bombe ticken gehört und nichts getan. Nichts gesagt. Vielleicht wären es nur drei abgedroschene Worte gewesen. Drei Worte, die sie retten könnten. Drei Worte, die er jetzt zum Himmel hinauf schreien kann und hoffen, dass sie sie hört. Aber sie kommt nie mehr zurück.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.02.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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