Dietmar Penkert

Unterweltshalle

1. Drei im Bunde

Es war im Jahre 1879. Wir waren nur zu dritt, aber wir passten gut zusammen. Ja, ich denke wir ergänzten uns durchaus in unseren Eigenarten und Fähigkeiten. Arthur hatte mich und seinen Bekannten Ken Decanti überredet, jene wahnwitzige Expedition zu starten, die uns in verbotenes Gebiet führen sollte, das besser verborgen hätte bleiben sollen. Aber abenteuerlustig und ehrgeizig wie wir alle waren ließen wir uns darauf ein. Wir waren jung, ungebunden und frei. Desweiteren besaßen wir die finanziellen Mittel, um diese Expedition zu unternehmen, was in diesen Zeiten nicht vielen jungen Männern unseres Alters möglich war. Es war wohl die experimentellste und waghalsigste Phase unseres Lebens.
Alle drei lebten wir derzeit in der gleichen Stadt, genauer gesagt, in Portsmouth, Südengland. Jedoch war nur Arthur Bencon ein Kollege, den ich bereits aus dem College kannte. Ken Decanti war ein Schweizer, den Arthur in Basel kennengelernt hatte; ich kannte ihn nur flüchtig. Jener exzentrische Schweizer hatte sich nach dem Besuch an der Hochschule für Geographie ganz der Höhlenforschung gewidmet.
Ich denke nicht, daß man uns drei als gute Freunde bezeichnen konnte. Wir hatten viele unterschiedliche Ansichten und Freizeitinteressen. Doch eine Sache hatten wir alle gemeinsam: die Begeisterung für das Unerforschte, und das brennende Bestreben, es zu durchleuchten, Licht ins Dunkel zu bringen, das Neue zu verstehen. Wir befanden uns in einem Zeitalter der Aufklärung und des Fortschrittes. Die Industrielle Revolution hatte wahrscheinlich ihren Höhepunkt. Und der Durst nach Wissen und immer neue Erkenntnisse der Wissenschaften beeinflußten unser Denken nicht minder als das unserer Professoren oder der Forscher. Natürlich ging es in unserer menschenentwürdigenden Gesellschaft vielen recht elend, ein schrecklicher Effekt, der aus der Politik der Industriellen Revolution erwuchs. Aber diese Geschichte, die ich Ihnen hier erzähle, handelt nicht vom Ruhm der Wissenschaft oder von der Depression der Unterklasse. Sie handelt von einem Geheimnis, das verborgen hätte bleiben sollen. Ein uraltes Geheimnis, fern von dem Glanz der Neuen Welt mit ihrer Technik und Industrie.
Da waren also wir, Arthur Bencon, damals Student im sechsten Semester für Anthropologie auf der Universität in Oxford, sein Freund Ken Decanti, der desöfteren England aus beruflichen und privaten Zwecken besuchte, und schließlich ich selber, der wie mein Freund auf der Universität Anthropologie studierte. Wir ergänzten uns durchaus, aber nicht nur aufgrund unserer differenten Studiengänge, sondern auch von anderen Fertigkeiten und Charaktereigenschaften. Eine Sache hatten wir neben unserem Wissensdurst noch gemeinsam, nämlich die nicht unwichtige Tatsache, daß wir aus relativ wohlhabenden Familien stammten, wodurch wir uns auch diese Expedition finanzieren konnten.

2. Aufbruch nach Norden

Der einfache Teil unserer Reise führte erst mit der Eisenbahn bis nach Newcastle. Denn von dort fuhren wir mit einem großen Dampfer weiter. Ich erinnere mich gut, es war ein windiger Tag Ende März, als wir mit dem Dampfschiff Norwegen ansteuerten, das Ziel unserer Expedition. Doch lassen Sie mich kurz die Vorgeschichte schildern, die uns veranlaßte, dieses Vorhaben zu starten.
Der Anstoß zu alldem war eine mysteriöse Höhle einige Dutzend Meilen nordöstlich von Bergen in Norwegen, die von dem Forscher und Ethnologen Bjorn Ørendal entdeckt wurde. Bislang drang nur wenig von seiner Entdeckung an die Öffentlichkeit. Denn der Forscher verschwand unter mysteriösen Umständen. Man munkelte, er habe etwas entdeckt in den Höhlen, und das war nicht nur der Jahrhundertfund unglaublicher Knochen und Grabanlagen aus frühgermanischer Zeit. Aus seinen letzten Briefen an einen vertrauten Professor ging hervor, daß er auf unglaubliche Phänomene gestoßen ist, die niemand für möglich gehalten hätte, da sie jeglicher wissenschaftlicher Thesen widersprachen. Durch günstige Beziehungen geriet uns ein Auszug des letzten Telegramms von Ørendal in die Hände, das er nach seiner Entdeckung an einen seiner ehemaligen Professoren geschrieben hatte. Es lautete:
Prof. Lafonte - gehe am 15.Okt wieder in die Höhle, zerbreche letztes Siegel, das Gang zu Beinhaus freigibt, habe Inschrift übersetzt, laut Legende hier Wächterhof der Hel - unglaublicher Knochenfund beweist bruchstückhaft Wahrheiten d.germ.Mythen - schreibe mehr nach dem Öffnen d. Übergangssiegel zur letzten Halle - Oerendal
Das war alles. Nach diesem letzten Telegramm war der Norweger spurlos verschwunden. Sie fragen sich sicher, ob wir nicht diesen erwähnten Professor Lafonte aufgesucht hatten. Selbstverständlich taten wir das, aber ohne viel Erfolg. Wir fanden zwar heraus, daß es sich wohl um Professor Didier A. Lafonte aus Brüssel handeln mußte, der sieben Jahre zuvor auf der Universität dort unterrichtet hatte, und zu jener Zeit eben auch Ørendal studiert hatte. Jedoch sei dieser laut der Information der belgischen Ämter nicht mehr in Belgien gemeldet und angeblich schon Jahre zuvor nach Tunesien ausgewandert, um dort gewissen Forschungen nachzugehen. Die Spur verlor sich. So mußten wir anderen Quellen folgen. Es gelang unserem schweizer Kollegen Decanti, etwas über die Briefe zu erfahren, die Ørendal dem Professor geschrieben hatte. Es kostete unseren Kollegen viel harte Recherchearbeit und so einige beharrliche Gespräche mit Kollegen oder deren Bekannte. Nun, was dabei herauskam war folgendes: in den Briefen hatte Ørendal berichtet, alte germanische Kultstätten entdeckt zu haben. Angeblich fand er dort außer den unzähligen Gebeinen damaliger Opfer und Bestatteter auch Fossilien, die keiner bekannten Spezies zuzuordnen war. Mehr gaben die Informationen nicht preis. Der norwegische Forscher vermutete weiter, die Stätte stehe vielleicht in Zusammenhang mit der nordgermanischen Schöpfungsmythologie. Denn viele der Inschriften und Runen beschrieben mythologische Wesenheiten und ihre Interaktionen.
Auf diese Hinweise stützte sich unsere Expedition. Mehr hatten wir nicht. Und was den norwegischen Forscher anbelangte, so war sein Verschwinden in der Tat mysteriös. Die Einheimischen bestanden darauf, er sei zurückgereist, wobei auch da unterschiedliche Aussagen gemacht wurden. Einige einsiedlerische Alte behaupteten, Ørendal sei dem Zorn der Riesen zum Opfer gefallen. Eine andere Aussage war, er sei schlichtweg in den Bergen durch Unachtsamkeit verunglückt. Die Wahrheit blieb im Dunkeln. Das schreckte uns allerdings von unserer Expedition nicht ab, obwohl das besser gewesen wäre!


3. Reise nach Bergen

An Bord des Dampfschiffes diskutierten wir oft und besprachen die Ziele unserer Expedition. Wir wollten etwas aufdecken, was bisher nicht gelungen war. Vielleicht wollten wir Ruhm erlangen, vielleicht auch nur unseren Ehrgeiz als engagierte Nachfolger vorangegangener Forscher befriedigen. Schwer zu sagen, unsere Beweggründe mochten sich recht unterschieden haben. Doch wir alle waren motiviert, die Spur aufzunehmen, dem Geheimnis um die Jöredal-Höhlen auf den Grund zu gehen und neue Erkenntnisse in den Volkswissenschaften zu begründen.
„Sagen Sie, Mr. Decanti, wie steht es mit Ihrem Wissen um germanische Geschichte und Volkskunde?”, fragte ich den Schweizer, als wir auf dem Vorderdeck standen, und wir irgendwo zwischen den Shetlandinseln und der norwegischen Küste waren. Der Wind blies kräftig und trug die Gischt über die Wogen der See.
„Sicher nicht mehr wie Sie selber, werter Freund”, meinte Decanti. „Für mich ist es vielmehr die Herausforderung, eine bislang nicht erforschte Höhle und ihr Geheimnis aufzudecken, was den anderen wohl bislang nicht gelungen war. Ich weiß nur, daß die Skandinavier das Wirken der Götter und Riesen in ihre wunderschöne Natur hinein interpretieren. Und so wie ich das sehe, meidet das Volk viele Orte, von denen es glaubt, daß dort irgendwelche Fabelwesen oder Riesen hausen”.
„So ist es”, schaltete mein Freund Arthur sich nun in das Gespräch ein. „Viele skandinavische Völker glauben an Trolle und Riesen, die in der Erde oder in den Bergen hausen und angeblich verantwortlich für Stürme und Gewitter sein sollen. Aberglauben prägt das Weltbild vieler Völker. Vielleicht ist das auch der Grund, warum die Höhle bisher nicht entdeckt und erforscht wurde. Man wagte sich nicht in diese Zone”
„Dann wird es höchste Zeit!”, entgegnete Ken Decanti euphorisch. „Ich brenne geradezu vor Neugier. Vielleicht stoßen wir auf eine der größten Höhlenkomplexe des Skandinavischen Gebirges”.
„Und wenn es stimmt, daß dort Spuren germanischer Zivilisation gefunden wurden”, fügte Arthur hinzu, „dann würde es auch beweisen, von welcher Bedeutung unterirdische Lebensräume für die damaligen Völker waren. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber wenn sich in diesen Höhlen so etwas wie eine autonome Gesellschaft entwickelt hätte, dann müßte man diese gar einer eigenen Kategorie von Menschenstamm zuordnen”.
„Ich denke nicht, daß so etwas möglich ist”, entgegnete der Schweizer. „Wie hätte diese Gesellschaft sich ohne Kontakt zur Außenwelt entfalten und entwickeln können? Die Höhlen sind nicht gerade eine gute Lebensvoraussetzung. Es fehlen Rohstoffe, Licht und Wärme”.
„Nun, zugegeben, es ist auch nur eine gewagte Theorie”, meinte Arthur. „Wenn auch nicht unmöglich”.
„Ja, aber der Punkt ist: was hat Ørendal wirklich entdeckt?”, stellte ich in den Raum. „Und warum ist er verschwunden? - Das ist es doch, was dem Ganzen ein wirkliches Geheimnis verleiht. Vermutlich hat er mehr gefunden, als nur Überreste einer frühgermanischen Volksgruppe. Wir wissen nicht, wie viel man von Gerüchten und den Artikeln über Ørendals Funde glauben soll. Und leider gibt es zu wenige Berichte darüber. Dann sein letztes eigenartiges Telegramm, wo er von urzeitlichen Knochen sprach!”
„Und außerdem brachte er die Schöpfungsmythologie damit in Zusammenhang”, fügte Arthur hinzu.
„Eine gewagte Behauptung”, widersprach Decanti. „Er hat vermutlich nur eine Art Begräbnisstätte gefunden”.
Wir diskutierten eine Weile so weiter. Jeder von uns hegte andere Vermutungen.
Ich würde nicht sagen, daß einer von uns Spezialist in nordischer Mythologie und Volkskunde war. Aber wir hatten uns vorbereitet. Arthur hatte in Portsmouth lange archiviert über skandinavische Bräuche, Aberglauben und Legenden. Ebenso über historische Wendepunkte der germanischen Geschichte.
Das alles waren jedoch nur Hilfsmittel, um vielleicht Hintergründe zu verstehen und bestimmte Stellen der germanischen Schöpfungsmythologie interpretieren zu können. Wir glaubten, daß die Entdeckungen des Forschers Ørendal in engen Zusammenhang damit stand. Er selber hatte geglaubt, Hinweise gefunden zu haben, die Teile der Edda, also der nordischen Schöpfungsmythologie bewahrheiten sollten. Wir hatten aber nur Teile eines Puzzles, und einiges dabei war nicht logisch oder wirkte wie blanker Unfug. Natürlich diskutierten wir auch darüber und versuchten mögliche Deutungen zu Ørendals Entdeckung zu finden; der norwegische Forscher war sich sicher, Ursprungsort der nordischen Unterweltsidee gefunden zu haben. Er deutete die Jöredalhöhlen als Parallele des mythischen Helheim, der Unterwelt, in der die Todesgöttin Hel auf die durch Krankheit und Altersschwäche Gestorbenen wartete. Andererseits aber war von einer Kultstätte die Rede, in der man Opfer dargebracht hatte, was wiederum mit der von ihm angesprochenen Begräbnisstätte in Kontrast stünde (insofern, daß Helheim im Volksmythos nichts mit Opferkulten zu tun hatte, sondern lediglich die damalige Vorstellung von einer nicht erstrebenswerten Nachwelt widerspiegelte, in der die unter natürlichen Umständen Verstorbenen wanderten. Die Edda sollte nicht mißverstanden werden mit einfachen Fabeln und Sagen. Es steckten Parabeln zur menschlichen Gesellschaft darin).
Was Ørendal wirklich gefunden hatte, das galt es weiter zu erforschen. Sicherlich eine archäologisch bedeutende Fundgrube, die einiges Aufsehen erregen würde. Und wir wollten die ersten sein, welche sie an die Öffentlichkeit bringen würden. Nur wußten wir noch nicht einmal, was uns erwartete. Aber wir sahen dabei nicht über die Möglichkeit hinweg, daß der Forscher während seiner Arbeit verstorben war.

4. Die Suche nach einem Bergführer

Der Wind wehte eiskalt, als wir nach dem passieren zahlreicher Fjorde und vorgelagerter Inseln endlich die Küstenstadt Bergen erreichten. Es war der 3.April, aber der Winter hatte Norwegen noch im Griff, obwohl die Einflüsse des Golfstroms in Westskandinavien immer für einen klimatischen Ausgleich sorgten. Mächtige Felsformationen, die teils schneebedeckt waren, zogen an uns vorbei, als wir in den Einschnitt vom Puddefjorden fuhren. Über uns scharfe Wolkenfetzen, die über den Himmel rasten. Einige Schiffe lagen im Hafen von Bergen vor Anker. Ein Dreimaster aus Holland, ein russisches Dampfschiff und viele einheimische Hochseefischerboote. Als wir anlegten war ich froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Ich saugte die frische Luft ein und blickte herum, um die neuen Eindrücke aufzunehmen. Alles war hier so anders als in meiner Heimat, selbstverständlich. Die Leute, die hier herumliefen, waren meist hünenhafte kräftige Männer, viele flachsblond und bärtig. Man beäugte uns neue Ankömmlinge allerdings hier nicht neugieriger als in England. Als wichtige Hafenstadt war Bergen fremde Gesichter wohl gewöhnt.

Wir gingen daraufhin durch Bryggen nahe des Hafens, entlang an all den bunten Holzhäusern, um uns dort nach einer Herberge umzusehen und ebenso nach einem Führer, der uns den Weg zu den Jöredal-Höhlen weisen sollte. Obgleich Ken Decanti bewandert war sowohl im Bergsteigen, als auch in Höhlenforschung, war ein naturkundiger Führer in dieser rauhen Gegend unerläßlich. Unser schweizer Kollege sprach ein wenig dänisch und norwegisch. So gelang es uns nach ersten Grüßen an einige der Einheimischen nach ortskundigen Führern zu fragen. Wir hatten Glück. Schon am nächsten Tag stießen wir in einer Schenke auf einen bärtigen Mann namens Magnus Cristofson. Er war naturkundig und kannte die Gegend sehr gut. Doch von den Jöredalhöhlen habe er nie etwas gehört, so erzählte er. Doch der Mann wirkte wankelmütig und nervös, als wir ihm unser Ziel erklärten. Ich verstand natürlich nichts von dem was er sagte, aber Decanti erklärte es uns darauf. Cristofson hatte zwar bei unserem Kennenlernen erwähnt, daß er die Höhlen nicht kenne, aber am Tag darauf meinte er zu Decanti, daß er uns nur bis zum Dorf Søkna begleiten würde, die restlichen zwei Kilometer zur Höhle müßten wir alleine gehen. Wir hatten ihm nicht gesagt wo die Jöredalhöhlen lagen, und er hatte angeblich noch nie von den Höhlen gehört. Wie konnte er dann wissen, daß sie zwei Kilometer von diesem Dorf entfernt lagen? Also mußte er sie doch kennen, oder schon von ihnen gehört haben! Doch er wollte wohl nicht darüber sprechen, welches Mißtrauen hegte er nur? Leider war auch das norwegische Sprachvermögen von Ken Decanti nicht gut genug, um sich auf eine Diskussion mit dem Bergführer einzulassen bezüglich dieser Widersprüchlichkeit. So konnten wir also nur auf den Vorschlag eingehen, daß wir ab Søkna alleine weitergingen.


5. Der Marsch beginnt - Aufenthalt in Søkna

Am Morgen des dritten Tages brachen wir auf, mitsamt unserer Ausrüstung, die aus Laternen, Seilen, Zelt, Geologenwerkzeugen, Kompassen und anderen wichtigen Instrumenten bestand. Es war bedeckt, aber trocken. Der stürmische Wind fegte tief schwebende Wolkenfetzen über den Himmel. Unser Bergführer Cristofson hatte einen Pferdekarren organisiert, der uns bis zum Berghang im Nordosten bringen sollte, an dem unser Marsch beginnen würde und uns vorerst ins Dorf Søkna führen sollte. Von dort aus würden wir alleine weitermachen. Oder einen neuen Führer finden. Cristofson weigerte sich, uns bis zu den Höhlen zu begleiten. Die Leute hier waren abergläubisch und glaubten an Naturgeister. Das war wohl der Grund, warum die Einheimischen bestimmte Örtlichkeiten mieden, von denen die nordischen Legenden mahnen, es hausen dort Dämonen und Trolle.
Entlang des Fjords führte die schmale Straße nordwärts. Schließlich bogen wir einen kleinen Seitenpfad bergauf, der sich über einige kahle Weiden und an verwitterten Felsen entlang führte. Von dort mußten wir zu Fuß gehen. Der junge Begleiter, der den Pferdekarren gelenkt hatte rief irgendwas auf norwegisch nach, nachdem wir das Gepäck entladen hatten und zusammen mit dem Bergführer den Pfad weitergingen. Dieser schlängelte sich in Serpentinen aufwärts, und war ein nicht ganz ungefährlicher Aufstieg, denn wir mußten einige reißende Bäche überqueren, über welche bloß schmale Hängebrücken führten. Es war dennoch eine faszinierende Landschaft, die man trotz der Anstrengung genießen konnte. Oft gingen die grauen Felswände steil und senkrecht nach oben, an einigen Stellen war der Fels moosüberwuchert, vor allem dort, wo reißende Wasserfälle hinabstürzten. An den flacheren Hängen wuchsen Krüppelkiefern und gelbe Gräser. In den Mulden und Senkungen lag Schnee, ebenso weiter oben an den Hängen. Der schmale Pfad führte über recht steiniges Gelände. Eisengeländer sicherten hier und da die abrupten Übergänge in die Tiefe. Auf einer der Hängebrücken bot sich uns ein atemberaubender Anblick über die tief eingeschnittenen Täler mit klaren, frischen Seen und schneebedeckten schroffen Bergrücken bis hin zum fernen Sognefjord.
Unsere Reise unterbrachen wir in der Ortschaft Vålmordal, als der Abend hereinbrach. In irgendeiner sehr einfachen Gaststätte übernachteten wir in kalten Zimmern und brachen kurz nach Dämmerung wieder auf in Richtung Osten. Das Gelände wurde nun schroffer und bergiger, und von einigen Anhöhen blickten wir in weite Taleinschnitte und enorme Schluchten bis über das gigantische Bergland des Hemsedalsfjella hinweg.
Wir marschierten mehr als fünf Stunden. Cristofson gönnte uns nur zweimal eine Pause, in der wir etwas ausruhten und aus Trinkbeuteln mit Kräuterwasser tranken oder an Trockenfisch kauten. Und am Nachmittag gegen vier Uhr erreichten wir Søkna. Das kleine, malerische Dorf lag am Rande eines Bergeinschnitts, der von Kiefern und grünenden Lärchen gesäumt wurde. Fast nur Holzhäuser bildeten die Gebäude, darunter auch die rostbraune Kirche in der Mitte des Dorfes.
Die Einheimischen beäugten uns mißtrauisch und zugleich neugierig. Cristofson führte uns zu einer Hütte etwas außerhalb. Rauch quoll aus einem Kamin, die Hütte war also bewohnt. Wie Decanti es von dem Bergführer verstand, wohnten hier gute Bekannte von diesem. Hier konnten wir nächtigen, erklärte Cristofson. Denn eine Herberge gab es nicht. Ein graubärtiger Mann mit einem Wollpullover öffnete die Türe. Cristofson grüßte ihn freudig und wechselte in Flüsterton einige Worte mit ihm. Der Mann nickte ernst, musterte uns kurz und begrüßte uns dann wohlwollend. Zusammen mit dem Bergführer wurden wir in die Stube gebeten, die herrlich warm und gemütlich war. Eine hagere Frau in einem Sessel und zwei weißblonde Kleinkinder waren außerdem in der Stube. Wir wurden aufgefordert, es uns gemütlich zu machen. Wir bekamen zum aufwärmen einen Wacholdergeist, und man reichte uns einen deftigen Eintopf. Sie waren gastfreundlich, aber recht schweigsam.
Wir kamen dann auf die Jöredalhöhlen zu sprechen und merkten, wie nervös unsere Gastgeber plötzlich wurden und das Thema wechseln wollten. Doch wir bestanden darauf, mehr von den Höhlen zu erfahren und die Ursache für die Furcht, welche die Norweger offenbar davor hatten. Und auf das Drängen von Decanti hin, den Grund zu nennen, warum Cristofsen zuvor die Existenz dieser Höhlen verleugnete, entstand eine impulsive, aber kurze Diskussion. Arthur und ich hatten nichts von alledem verstanden. Aber am späten Abend erklärte Decanti uns, was er verstanden hatte von den Norwegern. Er schlichtete die Uneinstimmigkeit wieder, und wir aßen still weiter. Fast niemand sprach mehr etwas. Man ließ uns in Ruhe und beäugte uns ab und zu mißtrauisch, so als hätten wir irgendein Gebot gebrochen. Vielleicht hatten wir das auch. Vielleicht. Ähnlich verhielten sich die Leute, als wir auf den Forscher Bjorn Ørendal zu sprechen kamen. Keiner wollte zugeben, ihn gesehen zu haben oder mit ihm gesprochen zu haben. Die Leute schwiegen unnachgiebig oder begannen, schnell das Thema zu wechseln. Es war schon merkwürdig. Ob sie etwas von seinem Verschwinden wußten oder gar damit zu tun hatten? Ich hoffte, wir würden das alles herausfinden können.
Ken Decanti erzählte schließlich, was er in dem Gespräch mit den Einheimischen erfahren hatte. Er sagte, die Norweger in dieser Gegend seien recht abergläubisch und glaubten an die Macht von Riesen und Naturgeistern. Das Gebiet östlich von hier (dort befanden sich die Jöredalhöhlen) mieden die Leute und nannten es Forbudt Område, die ‘verbotene Zone’. Sie sagten, dort verstecken sich Dämonen und bewachen die Eingänge zur Unterwelt. Sie glaubten, jenes Gebiet sei Sitz einer uralten Macht, die man in Ruhe lassen sollte. Solches und ähnliches Geschwätz gaben die Einheimischen von sich, darauf waren wir aber vorbereitet. Der Aberglaube war eben hier allgegenwärtig.
So etwa hatte Decanti es uns erläutert. Wir lächelten etwas darüber, aber Decanti meinte schließlich, daß wir den Glauben der Germanen nicht lächerlich machen sollten, da ja jedes Land seinen Volksglauben hatte. So etwas hat auch kulturelle Wurzeln, die bis in das Altertum zurückgreifen, in denen die Natur noch einen ganz anderen Stellenwert hatte als heute und wissenschaftliche Kenntnisse noch nicht vorhanden waren.


6. Aufbruch zu den Jöredalhöhlen

Der nächste Tag brach an. Wir standen früh auf, denn der Weg zu den Höhlen war noch weit. Die schroffen, grauen Berge waren verhangen von tiefen Wolken und Nebelfetzen, die mit den Felsen oft zu grotesken Bildern verschmolzen. Ich konnte mir gut vorstellen, wie das gemeine Volk deswegen Trolle und Riesen sahen, die Natur wirkte sehr mystisch hier, sie hatte was geheimnisvolles an sich.
Es war klamm und kalt. So marschierten wir nach einem mageren Frühstück los, um den Kreislauf in Schwung zu bringen. Der Bergführer Cristofson nickte nur und blickte uns mit stoischer Miene an, als wir die Hütte verließen, da er ja nicht weitergehen wollte. Decanti hatte vergeblich versucht, ihn noch zu überreden, uns bis zu den Höhlen zu begleiten. Es blieb uns also nichts anderes übrig, als ohne Bergführer weiterzugehen. Wenigstens beschrieb Cristofson den Weg zu den Höhlen recht genau, sodaß wir bis dorthin alleine zurecht kamen. Und ein Glück war zudem, daß Decanti im Bergsteigen gut bewandert war und in der freien Natur stets eine gute Orientierung hatte. Somit konnten wir von nun an gut auf den einheimischen Bergführer verzichten
Cristofson flüsterte noch etwas auf norwegisch als wir uns verabschiedeten und ihn für seine Dienste angemessen bezahlten, was unser schweizer Kollege später erzählte. Es war eine merkwürdige Warnung meinte Decanti, übersetzt hieß es: laßt die Steine schlafen und die Riesen träumen. Schreitet nicht hinter die Grenzen.

So ließen wir Søkna hinter uns. Außer das Meckern einer entfernten Ziegenherde war es still. Die Wanderung führte den kleinen Bergpfad noch weiter bergauf über schroffes felsiges Gelände, das nur von Gräsern und Moosen bewachsen war. Wir überquerten eine letzte Brücke über eine enorme Schlucht, in die sich tosende Bergbäche von den über uns aufragenden Felsen stürzten, bevor ein erneuter Abstieg uns in eine Klamm führte, dort wo die tiefe Schlucht sich verengte, und schließlich - von den hohen Felswänden begrenzt - zu einem klaffenden Riß im scheinbaren Nirgendwo wurde. In dieser Klamm sollten die berüchtigten Höhlen sein.
Wir stiegen die steinernen Stufen aus grauer Vorzeit zu der kalten Klamm hinab. Diese führten dann an dem schmalen Felsgrat die tiefe Schlucht entlang, in der weit unten ein wilder Gebirgsbach toste. Von überall tropfte es, und klamme Kälte drang bis auf die Knochen vor. Es war so finster in dieser glitschigen Schlucht, daß wir eine Laterne benötigten. Im Gänsemarsch gingen wir voran, bepackt mit den schweren Rücksäcken und Seilen an den Gürteln.
Wir gingen eine gute Stunde. Der teils natürliche und teils in den Fels gehauene Pfad führte schließlich durch einen Tunnel und wieder ins Freie. Dann gabelte sich der Bach. Ein Teil von diesem stürzte ostwärts auf der anderen Seite weiter abwärts, während der rechte Arm, an dem wir noch entlang gingen, sich weiter durch die enge Schlucht schlängelte. Irgendwann schließlich ergoß sich der reißende Bach weiter vorne in eine weitere Schlucht, zu der sich von anderen Seiten plätschernde Rinnsale und Wasserfälle ergossen. Diese war vielleicht vierzig Meter im Durchmesser und hatte leichte Trichterform. Ich schätzte die Höhe der steilen Felswände auf über hundert Meter, und von oben drang nur wenig Tageslicht bis nach unten. Die Klamm war hier zu Ende, und der schmale Pfad verzweigte hier einerseits in eine Steintreppe nach oben zur Oberfläche, andererseits gingen recht unregelmäßige Stiegen aus Schieferstein abwärts weiter in die Schlucht, in der sich das Rauschen der vielen Bäche und Wasserfälle zu einem mächtigen Dröhnen vervielfachte. Feine Wassertröpfchen hingen wie Nebelnässen in der Luft und setzten sich in kleinen Perlen auf unserer Kleidung ab.
Durch den dampfigen Nebel sah man nicht auf den Grund der Schlucht, aber offenbar verloren sich die Kaskaden in schroffen Höhlen und Felsspalten, vielleicht zu einem unterirdischen Gewässer; oder zu einem Wasserfall, der sich irgendwo aus einem Berg ins Freie ergoß. Wir wußten es nicht. Die Schieferstiegen, die man kaum mehr als Treppe bezeichnen konnte führten zu den Jöredal-Höhlen. Wir waren wohl fast am Ziel.
Wir zündeten dann eine weitere Laterne an und sicherten uns nun mit Steigeisen und Seilen ab. Eine gähnende Höhle tat sich vor uns auf. Bevor wir eintraten bemerkte unser schweizer Kollege eine Inschrift am nassen Felsen links neben dem klaffenden Eingang. Sie war offenbar mit einem Meißel in den Stein gehauen und war in einer alten Schrift geschrieben, aber nicht in lateinischen Buchstaben, sondern in germanischer Runenschrift Futhark! Es war unglaublich! Decanti als angehender Geologe untersuchte die Art der Kerbung und teilte uns aufgeregt mit, daß dies wohl wirklich ein Werk aus frühchristlicher, wenn nicht sogar vorchristlicher Zeit sein könnte, und keine Nachbildung eines späteren Zeitgenossen, der jemanden in die Irre führen wollte. Erstaunlich, wie professionell er das aus den Kerben und dem Grad der Verwitterung heraus erkennen konnte!
Die Inschrift zu entschlüsseln und zu interpretieren war in so kurzer Zeit nicht möglich. Arthur war ein wenig bewandert in den alten Sprachen und Schriften, aber die Futhark war eine Wissenschaft für sich, und eine genaue Übersetzung war nicht anwendbar. Jedoch konnten wir Symbole wie Chaos, Krankheit, Tod und Nahrung entziffern, das heißt, falls wir die Schriftzeichen wirklich richtig interpretierten. Und in ihrer Kombination zueinander stellten sie wahrscheinlich irgendwelche göttlichen Zusammenhänge dar. Wir machten eine Durchschrift mit Graphit auf einem Papier, um in späteren Studien das Puzzle zusammenzufügen. Vorerst galt es, die Höhle zu erforschen.


7. Eintritt in die Dunkelheit

Mit gewissen Unbehagen, das muß ich zugeben, gingen wir in die Dunkelheit. Wir hielten zwei Laternen und konnten somit einen Lichtkreis von etwa zehn Metern bilden. Die Höhle bestand vorerst noch aus schroffen Kalkfelsen an dessen Wänden Moose und Flechten wuchsen. Vom Boden standen Stalagmiten hervor, und von der Höhlendecke tropfte an vielen Stellen Kalkwasser. Weiter hinten waren erkennbar Stufen in den Felsen gehauen. Also eine weitere Spur menschlichen Einflusses. Deutlich erkennbar war nun ein Höhlengang, der von Hand behauen worden war, obgleich dieser felsige Tunnel wohl natürlich gewachsen war. Wie alt mochte dieses Machwerk sein? Vielleicht tausend Jahre alt? Vermutlich aber sogar viel älter, wahrscheinlich aus vorchristlicher Zeit, als hier noch alte Gottheiten verehrt wurden.
Die tunnelartige Höhle ging abwärts, und immer wieder sahen wir in den Fels gehauene Stufen. An den Wänden waren sogar noch verwitterte Fackelhalterungen zu erkennen. Es war unglaublich! Wir konnten nur ahnen, welche Bedeutung dieser Ort damals haben mochte. Er war ja nicht einfach zugänglich. Die Leute damals mußten vermutlich die gleichen, wenn nicht größere Hürden als wir überwinden, um diese Stätte zu erreichen.
Der Tunnel öffnete sich schließlich zu einer riesigen Tropfsteinhöhle, deren Ende wir nicht sahen. In der Mitte der Höhle war ein großer steinerner Podest, in dessen Mitte eine Steinplatte mit Runen eingefaßt war. Wie der Podest war auch die darin versehene Steinplatte in der Form eines Fünfecks. Das war für uns ein besonders interessanter Hinweis auf die okkult-mystische Funktion dieser Stätte! Es deutete viel darauf hin, daß dies einmal eine geheime Kultstätte gewesen sein könnte, in der man wahrscheinlich auch Opfer darbrachte. Doch zu welchem Zweck war uns noch nicht bewußt. Es galt nur, dieses Geheimnis zu offenbaren und die Entdeckung des norwegischen Forschers fortzuführen, um neue Erkenntnisse ans Licht zu bringen.
Unterteilt war die zerbrochene Steinplatte in fünf Flächen, gebildet und begrenzt durch die Linien vom Zentrum zu den Eckpunkten des Fünfecks. Interessant war auch, daß die fünf verschiedenen Flächen aus verschiedenen Gesteinen bestanden und mit verschiedenen Runen beschrieben waren. Dies alles bedurfte genauerer Studien, wir waren begeistert über dieses Artefakt. Dieser Fund würde die Archäologie und Volkskunde bereichern und vielleicht einige neue Erkenntnisse schaffen. Es war unglaublich!


8. Die Runensiegel

Sie können sich denken, daß wir trotz unserer Neugier und Aufregung recht erschöpft und müde waren. Wir hatten einen langen strapaziösen Marsch hinter uns und mußten ruhen. So beschlossen wir, ein provisorisches Lager aufzuschlagen, aber glauben Sie mir, daß es nur zu fern von gemütlich war! In der klammen, kalten Höhle einen einigermaßen trockenen Platz zu finden war schon recht schwierig. Und ein Feuer zu unserer Erwärmung zu machen, stellte sich als unmöglich heraus. Zwar hatten wir etwas trockenen Zunder und trockenes Stroh dabei, aber weder wollte dieser Stoff brennen, noch hatten wir weiteres Holz zum nähren des Feuers. So mußten wir uns mit den Laternen begnügen, und kauten an salzigen Trockenfisch herum. Keiner von uns fühlte sich wohl. Und der Schlaf kam trotz unserer Müdigkeit zögerlich. Meine Glieder waren klamm und kalt, ich fühlte mich etwas fiebrig. Vielleicht hatte ich mir eine leichte Erkältung zugezogen. Dann siegte doch die Erschöpfung, und ich konnte schlafen.
Irgendwann erwachte ich. Arthur schlief noch fest. Ken Decanti war aber nicht am Lager. Ich sah ihn schließlich weiter unten bei diesem merkwürdigen Fünfeck aus Steinplatten, das wir in der Mitte der Höhle entdeckt hatten. Neben ihm stand eine Öllaterne. Der Schweizer war über die Steinplatten gebeugt, offenbar vertieft in Untersuchungen. Ich ging zu ihm, um zu sehen was er da tat. Ich fand ohnehin keinen Schlaf mehr.
„Haben Sie etwas herausgefunden?”, fragte ich flüsternd, als ich mich Decanti näherte. Er bemerkte mich wohl gar nicht, jedenfalls sah er nicht auf. Doch er murmelte schließlich etwas auf schweizerdeutsch, das ich nicht verstand. Dann sagte er auf englisch:
„Es ist ein Tor”
„Was sagten Sie?”, wollte ich wissen, nicht sicher ob er wirklich mit mir, oder mehr mit sich selber sprach.
„Es führt nach unten”, fuhr Decanti fort. „Diese Steinplatten sind Siegel zu dem Tor. Sie wurden zerbrochen, um den Eingang zu schaffen. Es ist ein Mechanismus, gut durchdacht”.
Sofort wurde ich hellhörig. So wie es aussah, hatte der Schweizer recht. Das war bei unserer kurzen Begutachtung dieses Podestes nicht aufgefallen. Aber offenbar handelte es sich um eine Vorrichtung, die sie wirklich gut durchdacht war. Die fünf Steinplatten waren in einer Weise in sich und mit der Grundplatte verkeilt worden, sodaß sie eine feste Verankerung bildeten, die nicht zu lösen war. Außer mit Gewalt, was in dem Fall ja geschehen war. Jemand hatte die Steinplatten absichtlich zerbrochen, um die Platten von ihrer Verankerung zu lösen.
„Wie spät ist es?”, fragte Decanti.
„Ich weiß es nicht. Aber ich werde Arthur wecken”, verkündete ich aufgeregt, und schickte mich an, um meinen Freund aufzuwecken. „Dieser Entdeckung müssen wir nachgehen!”
„Wir sind alle die ihren, Todgeweihte”, murmelte der Schweizer.
„Was haben Sie gesagt?”, fragte ich und drehte mich irritiert nach ihm um.
„Nichts”, flüsterte Decanti gleichgültig. Aber er hatte es gesagt, ich hatte die Worte deutlich gehört, wußte nichts mit diesem Gestammel anzufangen. Noch nicht.


9. Abstieg in den Schlund

Es war kurz nach sechs Uhr in der Früh, das sagte uns Arthurs Taschenuhr. Nach einer kurzen und kargen Frühstück aus Brot, Ziegenmilch und Trockenfisch untersuchten wir zu dritt den Podest genauer.
Auch hier konnten wir uns gut ergänzen. Unser Kollege Decanti erklärte aus geologischer Sicht die Besonderheit des steinernen Fünfecks, daß es aus Kalkstein, Obsidian, Schluff, Mylonit und Gneis bestehe. Die Runen waren nicht zu übersetzen, jedenfalls nicht mit unserem begrenzten Mitteln und dem beschränkten Wissen. Wir konnten nur mutmaßen über ihre Bedeutung. Wie ich erwähnte war germanische Runenkunde nicht gerade unser Spezialgebiet. Dazu würden Runenforscher nach unserer Entdeckung noch genug Zeit haben. Recht wahrscheinlich aber war, daß diese Platte Tor und Siegel darstellte zu dem, was wir darunter fanden: eine riesige Totenhalle, die dem Mythos zufolge Vorhof des Totenreichs der schrecklichen Göttin Hel war, so wie das der norwegische Forscher vermutet hatte. Die Gottheiten auf den Siegeln waren nicht dem Chaos geweiht, sondern symbolisierten eher die nährenden und schaffenden Kräfte wie Fruchtbarkeit, Jugend und Tapferkeit, - Götter der Asen und Wanen. Götter der sogenannten oberen Welten. Natürlich erlangten wir die Erkenntis erst viel später zu Hause, nach Arthurs Entschlüsselung einiger der Schriften.
Ich möchte hier auch nicht die ganze germanische Mythologie zitieren, aber damit Sie teilhaben können von dem Mysterium der tückischen Höhle und vielleicht dieses Abenteuer glauben können, muß ich die Besonderheiten schildern, mit der wir vor all dem Schrecken in der Höhle konfrontiert wurden. Leider hatten wir all die Warnungen ignoriert.
Es gab also fünf Schutzsiegel, die alle zerbrochen waren. Wie Decanti schon herausgefunden hatte, war es eine ausgeklügelte Mechanik. Es war ein Rätsel, wie die Platte überhaupt angebracht worden war. Alles deutete darauf hin, daß in grauer Vorzeit Druiden mit guten geometrischen und physikalischen Kenntnissen am Werk gewesen waren. Die Germanen waren dafür nicht unbedingt bekannt. Vielleicht besaßen aber einige dieser Druiden das Wissen gelehrter Griechen oder Araber.
Wie gesagt, waren die fünf Teilstücke bereits zerbrochen worden, um die ganze Steinplatte und ihre Basis aus der Verankerung zu heben, um das Tor zu einer verborgenen Höhle zu öffnen. Jemand, der uns zuvor kam.
„Wer könnte die Teilstücke zerbrochen haben?”, warf Arthur mit Recht in den Raum. Wir konnten nur vermuten, daß es der norwegische Forscher Ørendal gewesen war, der die Höhle wiederentdeckt hatte. Was aus ihm geworden war blieb wohl ein Rätsel für ewig. Aber das alles hier war ein Mysterium, das dem Menschen wohl verborgen bleiben sollte. Die Runen auf den Steintafeln waren wie schon erwähnt schwer zu entziffern. Viel später erst nach den letzten Studien zurück in England gelang uns eine gewisse Aufschlüsselung, was ich später erwähnen werde. Doch einiges was wir übersetzen konnten ergab Fetzen unglaublicher Weissagungen und Mahnungen. Alle der Runenschriften zufolge gedeuteten Mahnungen bezogen sich auf eine durch die Steinsiegel gebannte Unterwelt. Die auf die Steinsiegel übertragenen Mächte der Vanen- und Asengottheiten hielten laut den Schriften das Aufbegehren der höllischen Kreaturen in Schach. Vermutlich waren Wächterkreaturen und Lakaien der Göttin Hel damit gemeint. Viel Mythologie jedenfalls.
„Ørendal sprach von einem letzten Siegel, einem Übergangs-Siegel”, erinnerte mein Freund Arthur. „Wo mag dieses sein?” In der Tat hatten wir kein Siegel gefunden, daß dieser Beschreibung angemessen war.
„Und Übergang zu was könnte er gemeint haben?”, schloß ich an.
„Vielleicht zu einer weiteren Höhle”, sagte Arthur. „Andererseits könnte im germanischen Mythos damit auch der Übergang zur Totenwelt gemeint sein. Zum Helheim”.
„Nun, wenn ich mich so umsehe, fühle ich mich jetzt schon wie im Totenreich”, erwiderte ich scherzhaft, worüber indessen keiner lachen konnte.
So begannen wir schließlich, die gebrochene Steinplatte aus der Halterung zu heben. Als wir dies taten strömte ein eisiger Luftzug hervor, der nach etwas uraltem, vergangenem stank. Dazu vernahmen wir ein Heulen, das klang wie fernes Schreien eines gepeinigten Wesens. Der Luftzug hatte diesen sonderbaren Laut wohl hervorgerufen. Dennoch bekam ich unwillkürlich eine Gänsehaut, und auch meinen Kollegen stockte in dem Augenblick der Atem. Das ferne Heulen hielt noch eine schreckliche Weile an und hallte dann langsam seufzend aus.
Unter uns war gähnende Leere, und das Licht der Laterne konnte nur die Wände unmittelbar unter der Öffnung beleuchten, aber nicht diese schiere Dunkelheit dort unten durchdringen. Uns stand der Schweiß auf der Stirn, obwohl es kalt und klamm dort war. Vielleicht war es doch eine schleichende Furcht, die keiner bereit war zuzugeben. Ich kann auch nur für mich sprechen.
Diese unglaubliche Kultstätte hatte uns in ihren Bann gezogen. Wir waren bereit, alles zu tun, um sie vollends zu ergründen. Wir waren die lange Reise hierher gekommen, so wollten wir auch die untere Höhle ergründen. Unser schweizer Freund erklärte sich mit merkwürdigem Eifer bereit, als erster hinabzusteigen in den Abgrund. Wir errichteten aus Zeltstangen und Steigeisen ein Haltekreuz, das wir über dem Loch befestigten und an dessen Mitte wir ein Seil mit Doppelrolle montierten. So konnten wir ihm Seil nachgeben wenn nötig. Das Seil war im Ganzen fünfzig Meter lang, es sollte ausreichen. Auf den Kopf setzte sich Ken Decanti einen Helm mit Leuchte, aber er trug zusätzlich mit einigen Werkzeugen eine Laterne am Gürtel. So konnte er gleichzeitig klettern und hatte dennoch Licht.
Die ersten zehn Meter konnten wir ihn ohne Probleme verstehen, als er uns Bericht erstattete. Danach wurde seine Stimme durch den Echoeffekt und das Hallen immer schwerer zu verstehen.
„Die Wände sind aus Gneis, ich sehe auch hier paar Gravuren”, verkündete Decanti nach einigen Metern Abstieg. „Auch Runenschrift wie oben. Ich bin in einem Schacht, der vielleicht acht Meter im Durchmesser ist. Von irgendwo dringt faulriechendes Wasser durch Spalten oder Löcher im Gestein”.
Wir sahen durch den Schein der Stirnlampe unseres Kollegen, der sich weiter und weiter abseilte, nur ein wenig von den Höhlenwänden. Dann wurde das Licht zu schwach, und wir sahen von Decanti nur noch einen Schimmer. Er war mittlerweile zwanzig Meter in der Tiefe dieses eigenartigen Schachtes, der hoffentlich bald endete. Wir verstanden ihn nicht mehr gut, obwohl er recht laut sprach.
„Ich sehe in Stein gehauene Stufen. Sie führen wie eine Wendeltreppe nach unten. Wartet, da unten hat sich was bewegt!”
„Was ist los? Rede, Decanti!”, rief ich aufgeregt.
„Wahrscheinlich nur Einbildung!”, fuhr der Schweizer fort. „Der Schacht vergrößert sich etwas. Ich glaube ich kann den Grund sehen. Wenn ich mich nicht täusche, dann ist da unten Wasser. Aber stinkt entsetzlich hier!”
Eine zeitlang hörten wir nichts. Wir riefen Decanti zu, daß er weiter antworten solle. Dann berichtete er weiter. Es waren jetzt allerdings nur noch hallende Rufe, die teils enthusiastisch und teils leicht ängstlich klangen.
„Eine riesige Höhle! Sie ist enorm!”, hallte es zurück. „Mein Gott, diese Knochen! Eine Totengrube!”
Mein Herz schlug wild vor Aufregung. Wenn ich das nur sehen könnte!, dachte ich mir neidisch.
Wir konnten aber nicht alle dort hinunter. Jedenfalls nicht alle auf einmal. Einer zumindest mußte oben das Seil absichern. Aber der andere mußte indessen hinabsteigen, um zu sehen, was Decanti entdeckt hatte und vielleicht Hilfe leisten.
Wir waren uns einig, daß zuerst Arthur hinabstieg. Danach würde er wieder hinaufklettern und mich ablösen. Er sollte am Seil ziehen, damit ich wüßte, wann er wieder zurückkommen sollte. So seilte ich meinen Kollegen an und ließ ihn langsam hinunter. Auch seine Stimme wurde aufgeregter, als ich ihn mit dem Seil hinunterließ. Seine aufgeregte Stimme wurde dann zu einem schaurigen Hallen. Ich konnte es kaum erwarten, zu sehen was dort unten lag.
Dann hörte ich einige Zeit nichts mehr und machte mir Sorgen. Die einzigen Geräusche waren das Tröpfeln des Höhlenwassers und das Raunen aus der Tiefe, das schon nach dem Öffnen des Siegels zu hören war. Ich hoffte um alles in der Welt, daß nichts passiert war. Ich wußte ja nicht, was meine Kollegen dort unten vorgefunden hatten, was sie so lange nicht antworten ließ. Oder war die Entfernung nun einfach zu groß?


10. Helheim

Es dauerte eine schiere Ewigkeit, bis mein Kollege endlich am Seil zog. Das war etwa nach einer Stunde. Ich zog Arthur an der Winde hoch. Er war sichtlich außer Atem und aufgeregt. Schweiß stand ihm im bleichen Gesicht, und er zitterte. Das war beunruhigend! Ich kannte Arthur als unerschrockenen jungen Burschen voller Elan.
Es dauerte eine Weile, bis er sich beruhigte und mir erzählte, was sie unten vorgefunden hatten.
„Ørendal hatte recht gehabt, Frederick!”, prustete Arthur noch immer aufgeregt. In seinen Augen war ein merkwürdiger Glanz der Erregtheit, aber auch der Furcht.
„Da unten ist eine riesige Höhle mit Gebeinen und Opfergaben! Da muß es aber noch weitergehen! Nach unten, unglaublich! Da ist eine weitere Steinplatte mit Runen. Frederick, dieser Ort ist bedeutungsvoll! Und die Knochen, Frederick, die Knochen!”
Wo ist Decanti?”, wollte ich von meinem Kommilitonen, der wieder hastig ausschweifte.
„Kommt er auch hoch?”
„Er ist weiter runtergegangen, Frederick!”, rief er verzweifelt. „Er wollte runter und hat das Siegel zerbrochen. Ich glaube er hätte es nicht öffnen dürfen! Nein! Decanti ist eigenartig, er scheint in einem Wahn zu sein, Frederick! Ich habe ein schlechtes Gefühl, ich fürchte-”
„Genug! Ich klettere nach unten”, erklärte ich entschlossen und ungeduldig. Was auch immer dort unten war. Ich mußte es mit eignen Augen sehen. Ich mußte begreifen, was vor sich ging und was meine Begleiter entdeckt hatten. Das aufgeregte Gestammel meines Freundes brachte mir keine Erkenntnis und reizte mich noch mehr zu sehen was sie gesehen haben. Ich war genauso im Bann dieser Stätte wie die anderen beiden. So mahnte ich Arthur, er solle mich hochziehen, sobald ich am Seil ziehen würde.
„Da ist etwas, was Du wissen sollst, Frederick”, mahnte mein Kollege. „Irgendwas dort unten ist toxisch. Vielleicht ein Schimmelpilz oder Faulgase. Ich weiß es nicht genau. Aber mir wurde übel dort unten. Bekam Kopfschmerz und Schweißausbrüche. Bleib nicht zu lange!”
Meine brennende Neugier überwog die Vorsicht und Angst vor giftigen Substanzen in der Höhle. So bereitete ich mich vor und seilte mich an.
„Ich werde versuchen, mich bis zur Wendeltreppe zu schwingen, um von dort die Stufen nach unten zu nehmen”, erklärte ich. Arthur nickte irritiert und meinte, es stelle kein Problem dar mit dem erreichen der Treppe.
Ich stieg hinunter. Nun konnte ich diese Wunder mit eigenen Augen sehen. Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl, als ich hinabstieg. Ich glaube es war Angst. Vielleicht trug auch das Raunen und Heulen dazu bei, das wieder angefangen hatte. Aber es war auch irgendeine Vorahnung, die mich beschlich. Eine Furcht vor der Grösse und Bedeutung dieser Kultstätte, die mehr zu sein schien als eine bloße historische Fundgrube.
Ich konnte mich schließlich nach einigen größeren Pendelbewegungen mit dem Seil bis zu den Stufen schwingen, die sich von der Mitte aus etwa fünf Meter entfernt nach unten wanden. Leider hatte ich keine Zeit und keine Geduld, mich mit den verschiedenen Inschriften an den Felswänden zu beschäftigen. Es würde eine lange Zeit brauchen, um die Runen zu übersetzen und alles in ein Schema zu bringen. Damit würden sich viele Historiker und Philologen auseinandersetzen können, würden wir die Höhle erst einmal der Öffentlichkeit preisgeben und Ruhm ernten. Das ließ mein Herz höher schlagen. Kommilitonen und Professoren würden vor Neid erblassen.
Ich erreichte schließlich den Ort, der bereits die beiden anderen in große Aufregung versetzt hatte. Es war eine Höhle von ungeheurem Ausmaß, die einem riesigen Beinhaus glich. In Nieschen lagen sie, an Haken hingen sie und am Boden waren sie aufgebahrt, die Toten äonenalter Zeiten! Der Boden dieser enormen Gruft war übersät mit Gebeinen und Schädeln, die den steinernen, moosüberwachsenen Weg zur Höhlenmitte freigaben. Auch hier waren Fackelständer Zeugen der alten Zivilisation. Wann mochten sie zum letzten Mal gebrannt haben? Wann mochten die Toten ihren Weg in diese Höhle gefunden haben? Wie waren sie dort hinunter gelangt? All die Fragen blieben offen.
Decanti und Arthur hatten mit Fackeln und Laternen bereits Licht geschaffen, um wenigstens einen Teil der enormen Höhle auszuleuchten. Irgendwie schien es mir aber, als leuchte die Höhle aus einem eigenem unirdischem Licht, als ob die Knochen fluoreszierten. Doch nicht in dem Maße, wie man mit sichtbares Licht bestimmen könnte. Es war mehr die allgemeine Sinneswahrnehmung.
In der Mitte dieses riesigen Beinhauses, das Ausmaße von sicherlich zweihundert Metern in Durchmesser haben mußte, senkte sich eine trichterartige Grube ähnlich einem Amphitheater. An seiner Basis war etwas, das nicht hätte sein dürfen! Ich dachte zuerst, es sei ein grotesker Scherz. Dann aber sah ich, daß es kein Scherz und keine Nachbildung sein konnte, sondern blanke Realität: Knochen verschiedener Größe bildeten eine Art Schrein, ein morbides Konstrukt gleich eines Panthäon mit bogenartigen Durchgängen. Aber das unglaubliche und schreckliche zugleich, das waren die überdimensionalen Knochen, die wie Säulen im Felsen verankert waren. War es eine Laune der Natur? Überbleibsel aus der Zeit der Saurier? Das hatte ich zuerst vermutet. Doch es konnten keine Saurierknochen sein, da die Anatomie eher humanoid war. Im Studium gehörte Anatomie bereits in das erste Semester, so fiel es sogar mir nicht schwer, die Unterschiede auf den ersten Blick zu erkennen. Was ich dort sah war etwas, das der Evolutionsforschung bis jetzt noch bekannt war. Diese Knochen, ich sah auch Kiefer- und Mittelhandknochen, mußten von einem riesenhaften humanoiden Wesen entstammen. Entweder von einem Primaten, oder einem Menschen, was mir allerdings ein wahnwitziger Gedanke zu sein schien, der aller Logik und Vernunft spottete. Und dennoch sah ich es. Das hätte bedeutet, daß diese Wesen über vier Meter groß gewesen sein mußten! Unwillkürlich sträubten sich meine Nackenhaare, und ein Schauer durchfuhr mich. Ich fühlte mich merklich unwohl. Es war nicht nur der Gestank, der mir Übelkeit verursachte. Oder diese morbide Schöpfung der fremdartigen Gebeine. Es war dieser Ort selber, irgendwas an diesem Ort.
Ich war ganz gebannt und erstaunt über diesen Knochenschrein, daß ich den Schweizer erst gar nicht bemerkte, wie er in der Mitte dieses Schreins kauerte. Er war beschäftigt mit einer Steinplatte, die er schon halb aus dem Sockel gehoben hatte. Schließlich sah ich es: da war der Abstieg zu einer weiteren Tiefe. Eine Tiefe, die wir nie hätten entdecken sollen. Es war wieder ein abgrundtiefes Raunen zu hören, wie ein Stöhnen aus den dunkelsten Unterwelten.
„Was tun Sie da, Decanti?”, fragte ich den Schweizer. Der sagte erst gar nichts, sondern strich langsam über die Runen auf der Steinplatte. Fast liebevoll. Er sah mit gläsernen Augen zu mir auf, sein Gesicht war erschreckend blass. Und nicht nur das erschreckte mich. Es lag ein Ausdruck auf seinem Gesicht, den ich einerseits als Furcht deutete. Andererseits war so etwas wie Triumph zu erkennen. Ein gepeinigtes, gequältes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Was ging hier vor?
Ich starrte Decanti verzweifelt an, nahm ihn bei den Schultern und fragte ihn eindringlich, was los sei. Anfangs dachte ich noch, er habe sich vielleicht verletzt. Dann stammelte er irgend etwas unverständliches auf Schweizer-deutsch, wovon ich kein Wort verstand. Sein Tonfall war aufgeregt und schrill. Zwischendurch schien er hysterisch zu lachen (oder war es ein Weinen?)
Irritiert lief ich zu den Treppen, vorbei an den Unmengen an Gebeinen. Ich mußte Arthur informieren, daß etwas nicht stimmte und ich Hilfe brauchte. In Wirklichkeit hatte ich nur Angst und wollte weg. Decanti und sein merkwürdiges Verhalten waren schauderhaft. Wie dieser ganze Ort.
Keuchend lief ich die Treppen hoch, was eine Ewigkeit zu dauern schien. Dann rief ich Arthur zu und berichtete ihm. Seine Stimme hallte nach unten, wie meine wohl nach oben hallte. Er mahnte mich eindringlich, Ken Decanti zur Vernunft zu bringen und aufzuhalten.
„Frederick, was soll ich tun? Decanti will dort hinunter. Er ist tatsächlich wahnsinnig!”
„Versuche ihn aufzuhalten!”, hallte es zurück. „Es ist zu gefährlich, und er phantasiert schon. Es ist diese Höhle, vielleicht ein halluzinogens Gas! Bitte halte ihne auf, und kommt herauf! Ich habe schon eine Graphitabschrift von der Runentafel gemacht! Wir dürfen nicht bleiben!”
Ich sträubte mich, wieder nach unten zu laufen. Es war ein finsterer und mystischer Ort, diese Totenhalle. Doch es war nicht nur die Morbidität dieser Kultstätte. Da war diese krankmachende, einschnürende Präsenz. Eine unerklärbare Aura, die von der Halle ausging und Mark und Bein durchdrang mit Todeskälte. Es war kein Gas oder Schimmelpilz, was derartige Empfindungen und Symptome hervorrief! Ich spürte es wieder, als ich hinabstieg. Als ob der Tod seine Hand nach einem ausstreckte. Ich glaubte nicht an solcherlei Dinge. Aber andererseits glaubte ich nach dieser Entdeckung mehr, als ich zuvor zu glauben vermochte.
Dazu kam noch der üble Gestank nach Verwesung und Alter. Es war kaum auszuhalten. Und es nahm mir schier den Atem weg. Doch stieg ich wieder hinab zu dem schrecklichen Schrein aus monströsen Knochen, in dem Decanti in seinem Wahnsinn gekauert hatte.
Zu meinem Entsetzen sah ich, daß der Schweizer verschwunden war. Die Laterne stand noch dort, und die runde dicke Steinplatte war zur Seite geschoben. Dahinter befand sich eine gähnende Leere und Schwärze. Aber ich sah noch etwas. Da führten moosige kaum noch als Treppe zu bezeichnende Steinstufen abwärts in einen unbeschreiblichen Schlund. Von dort drang das Rauschen von wildem Wasser und wieder dieses merkwürdige Heulen, das ich im Moment nur als Heulen eines Windzuges von draußen deuten konnte.
Mir war schwindelig und fiebrig zumute, was ich dem Gestank zuschrieb. Ich weiß heute, daß es der verfluchte Ort war. Es gab Dinge, an die ich im Lauf der Zeit zu glauben lernte. Mystische Dinge. Und dieser Ort beherbergte die Substanz des Unirdischen. Ich weiß nicht wie ich es sonst ausdrücken soll. All mein Wissen und mein Verstand vermochten dieses Phänomen nicht zu erklären. Und das Schlimme war, daß ich nicht einmal sagen kann, was Wahrheit und was Einbildung war. Wissenschaftlich formuliert würde ich sagen, daß psychologische und biologische Auslöser an diesem morbiden Ort einen pathogenen Effekt auf uns hatten. Sie veränderten unsere Wahrnehmung und unser Wohlbefinden. Mein vegetatives Nervensystem spielte verrückt. Meine Körpertemperatur schien zwischen Fieber und Unterkühlung zu wechseln. Krankheitserreger machten sich in meinem Körper breit und schwächten mich zunehmends. Außerdem halluzinierte ich. Aber es war mehr als nur das alles. Ich hatte das Gefühl hinter eine Grenze getreten zu sein, die ich nicht hätte betreten dürfen. Etwas in mir sträubte sich einerseits, hinter diese Grenze zu treten. Ein anderer Teil wurde magisch angezogen, als befehle eine innere Stimme, weiterzugehen und die Türe ganz zu öffnen. Ich weiß nicht was dahinter verborgen war.


11. Abkehr und Flucht

Wie es geschah, weiß ich nicht genau. Aber ich wandte mich ab von dieser inneren Stimme und schaffte es irgendwie, den Weg zurückzugehen, den ich gekommen war, bis nach oben zu Arthur, der mich hinauf zog. Es schien mir, als schwimme ich entgegen einen reißenden Strom, der mich abwärts ziehen wollte. Und ich mußte meine ganze Willenskraft aufwenden, um mich davon zu lösen. Ich schaffte es trotz der fiebrigen Anfälle, trotz dem Delirium und trotz den Gliederschmerzen, die mich erfasst hatten. Vielleicht waren es die Rufe meines Kollegen, die ich unten noch vernommen hatte, und die mich aus diesem Trancezustand rissen. Ich wäre sonst vermutlich weiter und weiter in die entsetzliche Tiefe hinabgestiegen wie Ken Decanti, der den Verstand verloren hatte und nie mehr aufgetaucht war!

Wir ließen die Jöredalhöhlen hinter uns, diese Stätte unsäglichen Wahnsinns. Wir wagten nicht länger zu bleiben!
Arthur und ich sprachen fast nichts, als wir den Rückweg antraten, den wir irgendwie auch ohne die Hilfe unseres verschollenen Kameraden Decanti schafften. Ein Wunder, daß wir uns nicht verirrten oder der rauhen Natur zum Opfer fielen. Wir waren bis Søkna gewandert ohne große Rast. Und von dort aus brachte uns ein Führer nach Bergen zurück. Und wie Sie sich denken können, fuhren wir schließlich nach Portsmouth zurück. Hinter uns ließen wir ein unbeschreibliches Geheimnis und den Schweizer Ken Decanti. Was in uns blieb war das Gefühl der Trauer um einen verlorenen Kollegen und eine unbeschreibliche Leere. Eine Leere, die uns von innen auszuzehren schien.


Epilog - Späte Memoiren

Zurück in Portsmouth schworen Arthur und ich einen Eid, niemandem von den Jöredal-höhlen und den Entdeckungen zu berichten, für die wir ohnehin keine wissenschaftlichen Erklärungen vorzuweisen hatten. Wir verdrängten das Erlebte, doch nur für eine gewisse Zeit, bis die Vergangenheit uns einholte und das unabwendbare Schicksal seinen Lauf nahm.
Arthur erkrankte zuerst. Es schien erst nur eine Halsentzündung zu sein. Dann wurde es schlimmer; die Ärzte stellten ein Geschwür fest, das sich unerklärlich ausbreitete. Er mußte das Studium abbrechen und wurde ins Krankenhaus eingewiesen. Arthur starb vier Monate danach in einem Pflegeheim in Oxford. In den letzten Wochen schrieb er mir einen Brief, der mir von seinen Recherchen und Auswertungen berichtete, die er nach der Entdeckung der Höhle gemacht hatte. Ich hatte es nicht fertig gebracht, mich weiter mit den Jöredalhöhlen zu befassen. Arthur aber arbeitete wie besessen daran, als wollte er ein Vermächtnis hinterlassen, bevor er sterben würde.

Arthurs letzter Brief:

„Lieber Frederick. Unsere Entdeckung hat ihren Tribut gefordert. Nicht nur der Tod unseres werten Ken Decanti. Wir haben einen verbotenen Pfad beschritten. Wir haben hinter eine Grenze geblickt, die uns nicht gedacht war, offenbart zu werden. Du magst mir nicht glauben. Du magst alles zu verdrängen, wie ich es anfangs auch versucht habe. Aber uns kann nichts retten, mein guter Freund. Denn ich sage dir, wir sind hinabgestiegen in das Totenreich. Nenne es Helheim, nenne es Jenseits, nenne es wie Du willst. Der Tod hat uns berührt, oder sollte ich sagen, die Mythengöttin Hel hat uns berührt? Ich fürchte, diese Tatsache wird dich erschüttern, Frederick, auch wenn Du noch über mich spottest. Ich sterbe bald. Aber auch Du hast den schmalen Grat bestiegen. Decanti hat das Übergangssiegel zum Jenseits zerstört, und damit wohl das Tor geöffnet. Uns kann nichts retten, mein Freund, nur die Gnade Gottes, wenn sie uns zuteil werden sollte. Der Tod streckt seine Finger aus, schickt uns quälende Krankheit und holt uns so schließlich doch noch, da wir mit einem Fuß bereits im Jenseits waren, oder an der Grenze zwischen Leben und Tod.
Vielleicht glaubst Du noch nicht. Doch ich denke, das wirst Du. Ich weiß, daß wohl keiner von euch sich mit den Höhlen so beschäftigt hat wie ich. Und jetzt bin ich zu glauben bereit, was ich zuvor stets abgelehnt hatte. Ich glaube an höhere Mächte, die dort innewohnen. Von den absurden Gebeinen wage ich schon nicht zu sprechen, die doch nur von Übermenschen, also Riesen aus dem Mythos, stammen konnten. Dann diese übermächtige Präsenz. Und wir wurden von Ihrem Hauch berührt, als wir das Beinhaus betreten haben, Frederick. Hast Du es nicht auch gespürt? Die Nähe des Todes selber? - Aber wir haben die Totenwelt beschritten, noch ohne Teil von ihr zu sein. Wir sterben vor unserer Zeit, und der Tod hat uns berührt. Wir hätten sie niemals betreten sollen, diese uralte Leichengrube! Verzeih mir, lieber Frederick! Ich wünschte wir könnten alles rückgängig machen!
Gott sei unserer Seele gnädig. Lebe wohl! - Arthur

P.S. ich habe einen Teil der Runenschriften entziffern können, wenn es dich interessiert. Die Analyse auf den unteren Steintafeln ergab sinngemäß folgende Übersetzung:
Euch begrüsst sie, zu ihr seid ihr gekommen, fruchtlos gebt ihr euch hin. Denn Valhall verweigert Euch, die Kranken, die Ehrlosen, die Verdammten. Doch wer zu Unpflicht die Grenze Helheims überschreitet und einmal ihren Hauch geatmet, verdirbt vor seiner natürlichen Zeit...”

Ich besuchte Arthur einige Monate vor seinem Tod im Krankenhaus. Die schreckliche Krankheit hatte ihn in den Wahnsinn getrieben. Er litt unter qualvollen Schmerzen und wurde zum Schluß unberechenbar. Die letzten Wochen siechte er dahin ohne wirklich noch Leben in sich zu haben. Es war entsetzlich!

Was mich selber angeht, so bin auch ich dem langsamen Sterben geweiht. Mich hat eine seltsame Krankheit ergriffen, die mich geistig und physisch rasend schnell altern lässt. Die Ärzte können meine eigenartige Krankheit nicht deuten, es gibt keine Heilung. Ich bin ein Dreißigjähriger mit dem Körper eines Achtzigjährigen. Arthritis und Gicht sind meine ständigen Begleiter. Und ich fühle den Tod nahen. Vielleicht ist mein Schicksal auch eines des langen Leidens, bis der Lebenshauch aus mir gewichen ist, vielleicht schon in wenigen Wochen.
In meinen Träumen sehe ich alles wieder von damals. Das Schreckliche setzte sich in meinem Unterbewußtsein fest, und alles erlebte sucht mich in den Träumen heim.
In den Träumen sehe ich Decanti die moosigen Stufen hinabsteigen, immer tiefer in den Abgrund, der von einem eigenen unirdischen Schimmer zu glühen scheint. Ich höre das Wasserrauschen, das meine Rufe nach dem Schweizer übertönt. Ich erspähe noch die Gestalt von Decanti, der weiter unten auf schmalen Graten wandert. Abwärts. Ich schreie ihm zu, ich schreie dem tosenden Lärm aus Rauschen und Heulen entgegen. Unten glaube ich einen tosenden, krank schimmernden Fluß zu sehen. Die Wände scheinen aus Knochen zu bestehen und sich zu bewegen. Aus dem Augenwinkeln betrachtet scheinen bleiche Gebeine zu leben, gespenstische Schemen zu flackern. Die Sinne schwinden, und in einem letzten Akt der Willensanstrengung strebe ich dem Ausgang dieses Schlundes entgegen. Im letzten Moment glaube ich ein Wesen zu sehen, das seinen blassen Arm nach mir ausstreckt. Ein Wesen in Form einer unwirklich schönen Frau, aber mit dem verrottenden Unterkörper eines Leichnams! Es ist Hel, und sie sagt mir: mein warst Du auf den Pfaden des Yggrasil, mein wirst Du sein in meinem Reich unter dem Licht.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.02.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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