Wilfried Heise

Das Bewerbungsgespräch

We’re only in it for the money
Frank Zappa


Das Bewerbungsgespräch

Noch zehn Minuten. Verstohlen warf ich einen Blick auf das Gebäude am Ende der Straße. Ein Bürohaus mit terrakottafarbenem Verputz und getönten Glas an der Vorderfront. Oben ein flaches Dach. Keine verspielten Formen, keine Kunst am Bau. Schlichtweg Sachlichkeit. Gebaut in den siebziger Jahren, so schätzte ich. Im Gründer-Boom der High-Tech-Firmen, für die man an der Peripherie von München eigens Industrieparks angelegt hatte.

Sollte ich schon hineingehen? Wie beim Vorsprechen am Theater, dachte ich amüsiert. Hatte ich die Rolle gut gelernt? Den Vers richtig betont? Erwartungsvoll stieg ich die Treppe empor. „Johannes Heidecker“, stelle ich mich der Empfangsdame vor. „Ich habe einen Termin mit Herrn Grabowsky. Fünfzehn Uhr.“ Sie blickte auf ihren Kalender. „Wie war der Name?“, fragte sie noch einmal. „Heidecker“, wiederholte ich, mit etwas mehr Nachdruck in der Stimme. „Wie der Philosoph, nur mit ‘ck’ in der Mitte.“ Ohne etwas zu erwidern, langte sie zum Hörer. Die Sekretärin von Herrn Grabowsky würde mich gleich abholen.

Ich strich erst im Foyer herum, um meine Unruhe zu verbergen, und ließ mich dann in einen Besuchersessel fallen. Die Minuten vergingen. „Herr Heidecker?“, kam plötzlich eine Dame im grauen Kostüm auf mich zu. „Grüß Gott. Schreiber. Herr Grabowsky erwartet sie bereits.“ Hochgeknotetes Haar und strenger Blick, war mein erster Eindruck, als ich ihr zum Aufzug folgte. „Hatten Sie eine angenehme Fahrt?“, ergriff sie das Wort und trotzte sich ein Lächeln ab. Ich bejahte. Wir fuhren ganz nach oben. Beim Aussteigen blickte ich aus dem Fenster auf eine Welt im Miniaturformat. Hier hat er nur noch den Himmel über sich, dachte ich spöttisch. Ihn gar schon betreten? Doch für solche Fragen war jetzt nicht die Zeit.

Frau Schreiber ging voran. Wir erreichten das Ende eines Korridors, wo eine Tür halb offen stand. Sie klopfte an und steckte den Kopf hinein. „Herr Grabowsky, Ihr Besuch ist da“, rief sie mit heller Stimme. Stille. Mir blieb kaum Zeit zu überlegen, was diese verräterische Ruhe bedeuten mochte, als ich plötzlich hinter mir ein Geräusch vernahm. Ich drehte mich um und sah einen Mann - mittelgroß, schätzungsweise Ende fünfzig - auf mich zustürmen. Er trug einen marineblauen Zweireiher, dazu ein blau-weiß gestreiftes Hemd mit gestärktem Kragen und eine buntgewürfelte Krawatte. Auf den ersten Blick machte er den Eindruck einer Dampfmaschine, die ihr eigener Qualm vor sich hertrieb. „Grabowsky! Guten Tag, Herr Heidecker.“ Er reichte mir die Hand, dann bat er mich hinein. Frau Schreiber brachte Getränke und verschwand.

Grabowsky setzte sich hinter seinen Schreibtisch, der wie ein aus Holz geschlagenes Monument den hinteren Teil des Raumes beherrschte. Ich ließ mich in den mir angebotenen Drehsessel fallen, der mit braunem Leder bezogen war. Etwa eine Armlänge vor mir stand ein silberner Füller mit Goldverzierungen auf einem Onyxsockel. Daneben lag ein aufgeschlagener Terminkalender. „Wie geht es Ihnen?“, fragte er als erstes. Routiniert hob er seinen Füller vom Sockel. Natürlich gut. „Sie sind ja jetzt freigestellt. Was machen Sie den ganzen Tag?“ Ich zögerte einen Moment und überlegte. Seitdem ich arbeitslos war, lebte ich in einer Art von Vorruhestand. Meistens schlief ich bis zum Mittag, dann besorgte ich mir eine Zeitung, ging in ein Café, wo ich ältere Damen mit ihren Hunden beobachtete, kehrte nach Hause zurück, studierte die Post, machte vielleicht einige Anrufe, um irgendwelchen Leuten vom Glück des Müßiggangs zu erzählen, las ein Buch, das vor allem spannend sein musste, schaltete das Kabel-TV ein und zappte mich durch die Programme, rettete am Computer das Universum oder entdeckte Amerika, ging abends aus, berichtete anderen Leuten von meinem Tag, hörte mir ihren Tag an und schlief wieder ein. So ging das in den letzten Wochen ziemlich regelmäßig.

Grabowsky wartete auf eine Antwort. „Ja ... also im Moment beschäftige ich mich mit Multimedia.“ Er sah mich fragend an. „Zur Weiterbildung!“, fügte ich leicht verlegen hinzu. Schon hatte ich das Zauberwort gefunden, über das in unserer Branche alle redeten. „Die Computerindustrie wird mit der Telekommunikation und Unterhaltungselektronik zu einem Markt mit neuen Produkten und Dienstleistungen zusammenwachsen“, dozierte ich selbstbewusst. Ihn befriedigte diese Auskunft nicht. „Werden Sie konkreter“, bohrte er nach. Ich tat begeistert und wollte gerade zu einem Vortrag über Online-Dienste, Pay-TV und Tele-Banking ausholen, da unterbrach er mich schon nach wenigen Sätzen. „Und was halten Sie persönlich davon?“ Meine Rede stockte. Ich erkannte das Dilemma, in dem ich steckte. Sollte ich ihm die Wahrheit sagen und zugeben, dass mir diese Innovationswut ziemlich suspekt war? Die soziale Isolation würde wachsen und die Menschen ohne wirklichen Kontakt zur Außenwelt in High-Tech-Höhlen verdämmern. Grabowsky spürte meine Zurückhaltung. „Nun?“ „Man sollte aufpassen, dass die Leute keine ... keine Phobie bekommen. Vor den neuen Technologien!“, machte ich einen Vorstoß. Sein Gesicht umwölkte sich. Er blickte vom Gipfel des Berges ins Tal und sah schlechtes Wetter heraufziehen. „Wie meinen Sie das?“ Ich nannte ihm meine Befürchtungen. Mit einer abwehrenden Handbewegung fuhr er sich über die Stirn. „Gehört das auch zu Ihrer Art von Weiterbildung? Dieser Pessimismus?“ Ich wartete auf seine Sicht der Dinge oder wenigstens einen Wink dazu. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen schrieb er irgend etwas in sein Notizbuch. Setzen! Sechs, dachte ich beschämt.

Plötzlich schnitt er ein ganz anderes Thema an. „Sind Sie verheiratet?“ Warum wollte er das wissen? „Das hat sich noch nicht ergeben“, erwiderte ich. „Ihre Lebensgefährtin wollte nicht? Oder wollten Sie nicht?“ argwöhnte er. Ein langer Moment, in dem er mich unentwegt anstarrte, verstrich. „Ja, also ... ich habe keine Lebensgefährtin“, antwortete ich zögerlich. „Typischer Einzelgänger, was?“, platzte er heraus. „Wohl sozial unverträglich?“ „Bedenken Sie die Vorteile“, warf ich zaghaft ein. „Keine Scheidung ...“ „Was heißt hier: keine Scheidung, Mann“, entrüstete er sich. „Übernehmen Sie erst einmal Verantwortung, bevor Sie solche Kommentare abgeben!“ Also gab ich keinen weiteren Kommentar ab und hüllte mich in Schweigen. „Wollen Sie nun heiraten oder nicht?“, herrschte er mich an. „Ja, ähm, nein. Ich meine ... Herr Grabowsky, können wir nicht die beruflichen Dinge ...“ „Ich versuche, mir ein umfassendes Bild von Ihnen zu machen! Verstehen Sie das nicht?“ Ich schwieg weiter. „Was tun Sie in Ihrer Freizeit?“, fuhr er fort. „Ich interessiere mich für tiefenpsychologische Phänomene. Vornehmlich in der Literatur, meine ich.“ „Was sonst noch?“ „Moderne Musik macht mir auch Spaß.“ „Techno, was?“, verzog er das Gesicht. „Aber das ist doch der Rhythmus, der zu unserer Branche passt. Hart und schnell“, konterte ich geschickt. „So?“ Er schüttelte bloß den Kopf und machte wieder Einträge in sein Notizbuch.

Draußen brach ein Gewitter los. Drinnen prasselten Grabowskys Worte wie große Tropfen an mein Ohr. Er fragte kreuz und quer. Ausdruckslos starrte ich auf die weiße Wand hinter ihm, während mein Mund gebetsmühlenartig Antworten ausspuckte. Ich stellte mir vor, ihn augenblicklich in einen Frosch verwandeln zu können. Da saß er nun vor mir und glotzte mich an. Quak! Ich würde Frau Schreiber rufen. ‘Was macht dieser Frosch hier? Und wo ist Herr Grabowsky geblieben?’ ‘Das ist er’, würde ich antworten. ‘Ich erzählte ihm gerade von paranormalen Erlebnissen ... und dann passierte es!’ In ihrem Gesicht wechselten Fassungslosigkeit und Entsetzen. ‘Was sollen wir tun?’, würde sie entgeistert fragen. ‘Ich glaube, als erstes braucht er einen Outfit-Berater. Und dann einen kleineren Schreibtisch.’

Grabowsky war aufgefallen, dass ich plötzlich lachte. „Na, auf einmal so vergnügt?“ Ich zuckte zusammen. „Na gut, lassen wir es dabei. Möchten Sie noch etwas von m i r wissen?“ Nein, ich war bedient und redete mich mit einigen Floskeln heraus. „Sie hören von mir“, waren seine letzten Worte, bevor er mich zur Tür brachte. Schnell verabschiedete ich mich, um endlich das Weite suchen zu können. Am Treppenabsatz machte ich noch einmal kehrt. „Für Rückfragen stehe ich gern zur Verfügung“, rief ich nach hinten. Doch ich hörte nur irgendwo einen Drucker rattern. Mechanisch rannte ich die Treppe hinunter. Jeder ist zu etwas gut, und sei es nur als abschreckendes Beispiel, dachte ich atemlos. Soviel stand fest: Unter der Knute dieses Herren würde ich mein berufliches Tagewerk nicht verrichten.

Vor der Tür atmete ich die frische Abendluft ein. Das am Empfang bestellte Taxi kam nach fünf Minuten. Endlich im Zug angekommen, fand ich ein leeres Abteil und ließ mich genervt auf den Sitz fallen. Auch hier war es mir zu eng. Vielleicht sollte ich lernen, mich allseits passförmig zu machen? Dann sitzt man bequem auf jedem Stuhl. Kurz darauf musste ich eingenickt sein, denn als der Zug hielt, waren wir schon in Augsburg. Bienenartig schwärmten die Berufspendler über den Bahnsteig der Unterführung zu. Teilnahmslos schaute ich ihnen nach. So reist man durchs Land, dachte ich melancholisch. Wie ein Spieler dem Glück hinterher, das ebenso launisch wie unberechenbar seine Gunst nur widerwillig verteilt. Schon morgen könnte man ihm begegnen. Doch der Konjunktiv als Lebensform ist eingebildetes Kapital, das keine Zinsen abwirft. Die Realität hasst selbstgefällige Sonntagsreden, sagt die Erfahrung. Draußen begann es zu dämmern. Wenigstens der Zug hatte ein Ziel, und beruhigt darüber schlief ich wieder ein.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.02.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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