Matthias Keßler

Aurora Borealis (1. Kapitel)

Als es zu regnen begann dachte man gar nicht darüber nach. Als es nach drei Tagen immernoch regnete begann man sich zu wundern. Als der Regen einige Zeit später immernoch nicht aufgehört hatte sprach man von einem Wunder, einer Katastrophe, einem Zeichen oder einer Prophezeiung. Aber niemand wäre auf die Idee gekommen, dass der Regen allein meinetwegen fiel...



1. Kapitel - Der Panther, der Löwe und die Wölfin



Einmal mehr habe ich geträumt, habe mein eigenes Leben geträumt, habe Menschen und Begebenheiten in mein Leben hinein gedichtet, erschuf meine eigene Welt mit all ihren Phantasien und Unwirklichkeiten. Diese Welt kann einem Vergleich mit der Wirklichkeit nicht standhalten, aber das soll sie auch gar nicht. Ich habe sie für mich geschaffen. Und so erträume ich meine eigene Welt, erfinde sie neu und bin ihr Dichter. Und wenn Sie mir diese Wirklichkeit nicht glauben, dann muss ich mich wiederholen, denn das sollen Sie auch gar nicht, so wenig wie ich ihnen ihre Wirklichkeit glauben kann, so wenig ich in ihr leben und Teil davon sein möchte.
Auch darf man meine Absicht nicht missverstehen, denn führen oder überzeugen kann und will ich Sie nicht, ich kann ihnen nur: erzählen. Und so wie das Schreiben nicht nur ein Prozess der Verarbeitung und Bewältigung, sondern auch ein Preisgeben ist, ist das Lesen nicht nur ein Folgen und mitfühlen, sondern auch ein in Frage stellen dessen, was man liest. Und diese Frage werden sie sich oft stellen: ist es wahr oder nicht? Kann das die Wahrheit sein? Aber was ist die Wahrheit? Die Wahrheit ist, was wir mit dem anfangen, was uns tagtäglich begegnet, denn was wirklich ist, bestimmen wir selbst.
Aber all das wusste ich nicht als ich geboren wurde, auch nicht als meine Eltern mir meinen außergewöhnlichen Namen gaben, ich wusste es nicht bis zum heutigen Tag da ich es schreibe, nein: erzähle.

Der Dichter Salman Rushdie hat einmal gesagt, dass der selbsterkannte Mensch eine profunde Wirkung auf seine Mitmenschen ausübe, aber dass es sein Schicksal sei, die Folgen davon zu tragen, und die Schuld ebenfalls. Diese Schuld ereilt die Menschen jedoch nicht erst in dem Moment der Erkenntnis, nein, die Schuld ist meist schon der Weg dorthin. Ein Mensch den ich einmal kennengelernt habe erwähnte in diesem Zusammenhang den Begriff der Erbsünde. Aber ich beginne mich zu überschlagen,alleszuseinerZeit.br Diese Geschichte der Schuld, meiner Schuld an meinem Schicksal, ist es, die ich ihnen erzählen möchte.
Alles begann damit, dass ich nach einer Weile Leben erkannte, dass ich nicht so war, wie die meisten anderen Menschen. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke so scheint sie mir wohlbehütet und glücklich. Wenn ich mir Fotos aus Kinderzeiten betrachte frage ich mich oft, wie es meine Mutter geschafft hat mich nicht merken zu lassen, dass wir eigentlich arm waren. Vielleicht ist es Luxus, Armut nur von Fotos zu kennen. Aber trotzdem macht mich das betrachten von Fotos aus meiner Kindheit traurig, trauriger als ich es vielleicht zugeben möchte, und ich kann nicht anders, als Hermann Hesses Bezeichnung zu meiner eigenen Beschreibung meiner Kindheit zu machen: Es ist mein Heimwehland. Aber irgendwann kommt für jeden die Zeit, da er sich der Welt stellen muss, und sich selbst.
Manche werden erkennen, dass sie verschieden von der Welt sind, dass die gängigen Werte und Bräuche, die Normen und der Glauben der Menschen nicht dass ist, was in ihnen ist, und dass nach außen will. Die meisten Menschen leben in dem Glauben, als Mensch geboren zu sein, um sein Glück zu finden, und einige wenige glauben, geboren zu sein, um wieder Kind zu werden. Aber ich glaube, wir sind geboren, um Mensch zu werden. Das ganze Leben ist ein Selbstfindungsprozess, der uns zu dem führt, was von Geburt an in uns ist, und dass verwirklicht werden will. Aber ehe diese Persönlichkeit geboren werden kann muss sie erkannt und akzeptiert werden, denn dieses Schicksal zu akzeptieren heißt auch, jenseits des weltlichen zu leben, denn man kann nicht gleichzeitig in der Gesellschaft leben und frei von ihr sein.

Aber wer will das schon, wenn er geboren wird? Wir können uns die Welt nicht aussuchen, in der wir leben, auch die Zeit können wir nicht ändern, es ist nun einmal die unsere. Was man als richtig und falsch beigebracht bekommt ist kein qualitativer Anspruch an Charakter, es ist ein quantitativer, da konsequent das als richtig gilt, was die Masse als solches vorgibt. Und so wird ein jeder Mensch versuchen, sich in dieses System einzuordnen und darin so gut wie möglich zurecht zu kommen.
Und je mehr ich in diese Welt gedrängt wurde, desto mehr begann ich zu realisieren, dass ich anders war, und wie lange habe ich versucht, das zu ändern. Auch wenn ich heute gewissermaßen dankbar bin, dass es mir nie gelang, muss ich eingestehen: Vielleicht ist auch das nur Heuchelei. Vielleicht bin ich es, der sich irrt, vielleicht lebe ich falsch, vielleicht bin ich ein Fehler in der Evolution, vom Aussterben bedroht. Vielleicht ist es eine Eigenschaft der Menschen, sich von den Dingen loszusagen, die man ohnehin nie haben kann, um die Trauer darüber nicht zeigen zu müssen, sie zu missen.
Es gibt viele Wege, die ein Mensch im Laufe seines Weges gehen kann, doch nur einer führt zu sich selbst, und den gilt es zu finden, zu erspüren, zu gehen. Man kann sich natürlich fragen, ob man sein Ziel je erreichen wird, aber wie es bereits Goethe Gott in den Mund legte: „es irrt der Mensch solang er strebt“. Das ist nun einmal Teil unserer Bürde. Ich würde auch in Frage stellen, ob das Ankommen überhaupt wichtig ist, manchmal ist der Weg der schönste Teil der Reise. Aber selbst wenn der Weg beschwerlich ist, ist er dennoch das Maß der Entwicklung unserer Persönlichkeit, und am Ende werden wir vielleicht erkennen, das nicht das Ziel des Weges wir selbst sind, sondern der Weg an sich, das jeder Schritt den wir getan haben unsere Persönlichkeit zu dem gemacht hat, was sie tatsächlich ist. Mir fällt eine Geschichte zu diesem Thema ein, die ihnen vielleicht helfen wird, zu verstehen, was ich meine.
Wie ich ihnen bereits erzählte kommt im Leben eines jeden Menschen die Phase, da er einen Vergleich zwischen sich selbst und seiner Umwelt anstellt, da er zu erkennen sucht, welche Rolle er in seinem Leben einmal einnehmen wird. Und als ich langsam sah und zu verstehen begann, dass ich anders war und nicht so recht in diese Welt passte, deren Dichter es offenbar versäumt hatte, auch mir eine passende Rolle auf den Leib zu schreiben, traf ich auf einen Mann namens Petronius.
Als ich ihn traf war ich noch guter Hoffnung, die Spielregeln des Lebens eines Tages zu lernen. Ich beobachtete das Verhalten meiner Altersgenossen, katalogisierte es, begann es in verschiedene Kategorien zu unterteilen und hoffte so, eines Tages, einer Anleitung folgend, einer von ihnen sein zu können. Es ist so einfach wenn man es sich ansieht, aber wie ein japanisches Sprichwort sagt: Beim Go-Spiel sieht der Zuschauer am meisten. Und in dieser Rolle als stiller Beobachter erkannte ich den Meister des Spiels, einen Mann der dadurch auffiel, dass er es eigentlich in keinster Weise tat, da er sich in vollkommener Harmonie zu seiner Umgebung bewegte. Er beherrschte die Spielregeln auf vollkommene Art und Weise, kannte jede Facette, als habe er das Spiel erfunden. Ich sah ihn eigentlich recht häufig und man hörte fast überall etwas über ihn.

Sie werden sich wundern, wenn ich ihnen erzähle, dass er Bibliothekar war. Mir jedoch gereichte dass sehr zum Vorteil. Da die Bibliothek ohnehin mein liebster Ort war, an dem ich mich aufhielt, konnte ich hier das studieren alter Bücher mit dem Beobachten und Studieren des Verhaltens dieses Mannes verbinden, der all das zu haben schien, was ich so gerne gehabt hätte. Er schien die Menschen ebenso gut zu kennen, wie die Bücher die er hier verwaltete. Keine Frage, auf die er nicht die richtige Antwort wusste, kein Satz, auf den er nicht die richtige Frage parat hatte. Er ging mit allen Menschen die ihm begegneten auf genau die Art und Weise um, wie diese es brauchten und wollten. Was er zu ihnen sagte war für die Menschen wie das Wasser, das man dem Durstigen reicht. Und man gab ihm das zurück, was auch ich so gerne gehabt hätte: Ein Lächeln, ein wenig Aufmerksamkeit und Interesse an der eigenen Person. Das Gefühl, dass man an einen denkt, auch wenn man gerade an einem anderen Ort ist. Und so sehr ich ihn beobachtete, sein Verhalten studierte und es in Regeln formulierte, so sehr war ich mir darüber im Klaren, dass ich diese Regeln nie beherrschen würde. Es war das Lachen, das mir den Eintritt in seine Welt verwährte.

Und dennoch konnte ich nicht loslassen, musste mehr über diesen Mann erfahren, herausfinden, wer er ist. Ich begann ihn zu beschatten, erkundigte mich hier und dort über ihn, sein Charakter und sein Leben waren für mich zu einem Puzzle geworden, dass es zu vervollständigen galt. Und so setzte ich Stück an Stück, erfuhr, dass er alleine lebte, nur dann und wann eine Geliebte hatte. Bald wusste ich wo er wohnte, was für ein Auto er fuhr, wie er sich zu welchen Anlässen kleidete. Ich erfuhr, dass er, trotz erfolgreichem Studium in mehreren Fächern, Bibliothekar geworden war, weil Bücher seine Leidenschaft waren. Er war finanziell scheinbar unabhängig, jedenfalls schien es nur wenige Dinge zu geben, die er sich nicht leisten konnte, und er war offenbar in der Lage, ein unbekümmertes und sorgenfreies Leben zu führen.
Aber zeichnet all das, was ich hier über ihn geschrieben habe, einen Menschen aus? Sein Beruf und seine Kleidung, sein finanzieller Wohlstand und das Maß an Bildung, das er erfahren hat? Natürlich nicht, aber so sehr ich mich bemühte, mir gelang es nicht herauszufinden, was für eine Art Mensch er war. Sein Charakter offenbarte sich mir nicht, so sehr ich ihn beobachtete und so sehr ich andere Menschen nach demselben befragte. Jeder Mensch beschrieb ihn als das, was er selbst gerne wäre, keine zwei Aussagen waren gleich, jeder schien etwas anderes in ihm zu sehen oder zu erwarten. Seine Persönlichkeit war formbar wie Wasser, je nachdem mit wem er verkehrte, und sein Charakter schien mir ungreifbar, undefinierbar. Und so war es mir das größte Rätsel, herauszufinden wie dieser Mensch war. Mir, der ich unzählige Menschen analysiert hatte, war es scheinbar unmöglich, selbiges bei diesem Mann zu tun. Die einzigen Teile, die in diesem gigantischen Puzzle noch fehlten waren die, die seinen Charakter beschrieben. Und so war ich mir darüber im Klaren, dass ich selbst Kontakt zu diesem Mann aufnehmen musste, dass mir keine Erzählung eines anderen helfen konnte, mein Ziel zu erreichen. Und davor hatte ich Angst.

Ich wusste, dass ich nicht geübt im Umgang mit Menschen war, und nun hatte ich vor, den, der diesen Umgang so glänzend beherrschte, mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen, das zu erfahren, was er anscheinend nicht preis geben wollte, oder konnte. All die Menschen die ich nach ihm befragt hatte wussten zwar allerhand über ihn zu erzählen, bestritten jedoch näheren Kontakt zu ihm zu haben oder gar mit ihm befreundet zu sein. Und ausgerechnet mir sollte das gelingen? So grübelte ich Tag um Tag, beobachtete ihn nach wie vor, verbrachte gar noch mehr Zeit als schon gewöhnlich in der Bibliothek, und war schon kurz davor, mein Vorhaben aufzugeben, da mir dieser Mann zu unnahbar schien.
Da saß ich eines Tages im ersten Stock der Bücherei, von wo aus man die Lobby am besten im Blick hatte, grübelte, war in Gedanken versunken, und schrieb folgende Worte auf ein Blatt Papier, ohne groß darüber nachzudenken oder mir über deren Bedeutung im klaren zu sein:



Ich gehöre weder zu Dunkel,
Noch gehör ich zum Licht.
Ich suche die Mitte,
Aber finde sie nicht.

Wenn keiner einen kennt
Wird man von keinem gehasst,
Aber auch das Streben nach Liebe
Lässt einem keine Rast.

Einmal in Frieden leben,
Einmal ruhn,
Einmal keinen Schritt mehr tun.
Das wär mein Traum, das wär mein Glück.
Doch ich weiß weder vor,
Noch weiß ich zurück.



Nachdem ich das geschreiben hatte blickte ich auf, las den Text kurz und flüchtig. Dann legte ich das Blatt Papier in die erste Seite des Buches, dass ich zuvor gelesen hatte, und klappte es zu. Es war eines meiner Lieblingsbücher, in dem ich ein wenig gelesen hatte, und als ich nun den Titel auf dem vor mir liegenden Buch lesen konnte, kam mir eine Idee. Wenn dieser Mann Bücher tatsächlich so sehr liebte wie ich es tat, war das vielleicht der beste Weg Kontakt zu ihm herzustellen. Obwohl ich das Buch bereits dutzende Male gelesen hatte beschloss ich, es auszuleihen und ein Gespräch mit ihm zu beginnen. Ich nahm das Buch, begab michindasErdgeschossderBibliothekundgingandieTheke.Erwarnichtda.br
Resigniert aber auch ein wenig erleichtert sah ich mich nach ihm um, konnte ihn jedoch nirgends sehen, als eine junge Frau, die offenbar als Aushilfe in der Bücherei angestellt war, auf mich zukam, um das Buch zu vermerken, das ich mir ausleihen wollte. Ohne dass ich es bemerkte schlug sie das Buch auf, um das Rückgabedatum darin einzutragen und da sah sie das Gedicht, das ich soeben geschrieben hatte, und las es. Als sie es zuende gelesen hatte trug sie schnell das Datum ein und gab mir das Buch zurück. Wenn sie es mir später nicht erzählt hätte, hätte ich weder erfahren, dass sie die erste war, die dieses Gedicht gelesen hatte, noch, was für einen tiefen Eindruck ich bei ihr hinterlies. Aber all das erfuhr ich erst sehr viel später. Da ich Petronius, denn das war der Name des Mannes von dem ich ihnen erzählt habe, in der Bücherei nirgends finden konnte, ging ich davon aus, dass er in einem bekannten Lokal in der Innenstadt sei, in dem er sein Mittagessen einzunehmen pflegte. Das Lokal hieß Philantrophie, und ich beschloss ihm heute dorthin zu folgen, um ihn kennen zu lernen.
Ich hatte bisher nie versucht, ihm so nahe zu kommen, aus Angst, er könne meine ständige Anwesenheit bemerken. Ich verlies die Bibliothek und ging schnellen schrittes durch die Stadt zu besagtem Lokal.
Als ich dort ankam standen zwei Männer in Anzügen vor der Eingangstür die Zigarette rauchten, sich unterhielten und ständig über irgendetwas lachten. Ich ging die Treppe zum Eingangsbereich nach oben und als ich das Philantrophie gerade betreten wollte, hielt mich einer der beiden Männer am Arm fest und fragte mich, was ich vorhabe. Da mich dieser Übergriff sehr verwunderte antwortete ich ihm, dass ich lediglich das Lokal betreten wolle, worauf er antwortete, ich könne darin nicht zu Mittag essen, da keine Plätze mehr frei seien. Durch die geöffnete Tür konnte ich sehen, dass das gelogen war, und ich sagte ihm, ich wolle gar nicht zu Mittag essen, sondern nur einen Freund besuchen, der sich hier aufhalte. Der Kerl der mich immernoch am Arm hielt gab dem anderen einen Wink, woraufhin der im Lokal verschwand und einen Augenblick später mit einem anderen, älteren Mann herauskam, der offensichtlich der Vorgesetzte der beiden war. Er sagte: „Kann ich ihnen irgendwie behilflich sein?“ Ich antwortete ihm, dass ich einen Freund besuchen wolle. Er grinste mich auf eine herablassende Art und Weise an und sagte: „Wie sie ohne Zweifel sehen können ist keiner unserer Plätze frei, so dass wir sie hier nicht bedienen können. Aber darüber hinaus sage ich ihnen, und ich gedenke nicht, mich zu wiederholen, dass ihre Anwesenheit hier nicht erwünscht ist, noch jemals erwünscht sein wird. Bitte gehen Sie jetzt.“ Der Mann verschwand wieder im Inneren des Gebäudes, seine beiden Lakaien lachten leise und ich drehte mich und ging fort.

Ich weiß heute und ich wusste es bereits damals, dass man mir mit dieser Behandlung unrecht getan hatte, und obgleich ich mich zutiefst gedemütigt fühlte, hatte ich die Ahnung, dass das was passiert war, so und nicht anders hatte passieren dürfen, auch wenn ich nicht begriff, warum man mir den Einlass verwehrt hatte.
Enttäuscht von der rabiaten Behandlung die man mir hatte zukommen lassen, wollte ich vorerst von meinem Vorhaben Abstand gewinnen, Petronius kennen zu lernen. Wenn man mich bereits an der Tür zu einem, wenn auch sehr angesagten, Restaurant so abblitzen ließ, würde er vielleicht ähnlich mit mir verfahren.
Und so geschah es, wie es immer geschieht. Wenn man davon Abstand gewinnt, die Dinge um einen herum, sein eigenes Schicksal und die ganze Welt, zwingen zu wollen, kommt alles von ganz alleine so, wie es nicht anders kommen kann. Als ich einige Tage nach diesem missglückten Annäherungsversuch in der Buchhandlung war, um hier und dort ein wenig zu stöbern, stand er plötzlich neben mir. Wir standen vor demselben Regal, lasen die Titel auf den Rücken der Bücher, nahmen das eine oder andere heraus, um den Klappentext und vielleicht die ersten ein oder zwei Seiten zu lesen, und stellten die Bücher dann zurück oder auch nicht, merkten uns den Namen des Buches oder taten es eben nicht. Als ich diese Situation, da ich das erste Mal mit ihm sprechen würde, wieder und wieder in meinem Kopf durchgegangen war, ahnte ich immer, dass ich sehr nervös sein würde, wenn es tatsächlich soweit sei. Aber dem war nun nicht so. Ich hatte wohl bereits einige Sekunden zu ihm herüber gesehen, als er seinen Kopf in meine Richtung drehte und mich ebenfalls ansah. Ich müsste lächeln. Lächeln darüber, wie einfach die Dinge werden, wenn man sie einfach gehen lässt, darüber, wie wenig es einem bringt, ewig über zukünftiges nachzudenken. Es kommt eben doch immer anders als man denkt. „Sie arbeiten doch in der Bücherei, nicht wahr?“ fragte ich ihn. Es wirkte als sei er für einen kurzen Moment benommen, aber dann antwortete er: „Ja. Kennen wir uns?“ „Ich bin recht häufig dort, in der Bibliothek meine ich.“ „Daher kam mir ihr Gesicht bekannt vor. Wie heißen Sie?“ Ich sagte ihm meinen Namen und er musste lächeln als er ihn hörte. „Kennen Sie die Bedeutung ihres Namens?“ „Nein. Ich wusste nicht, dass er überhaupt etwas bedeutet.“ „Es ist der Name des Schutzpatrons derer, die die Wahrheit suchen. Er hilft ihnen stark zu sein und diese Wahrheit zu leben. Es ist ein sehr außergewöhnlicher Name. Ich kenne keinen Menschen außer ihnen, der so heißt. Ich heiße übrigens Pet! ronius“ Wir reichten einander die Hände, und ich sagte „Ja“. Ja zu ihm, ja, weil ich seinen Namen bereits kannte, aber auch ja zu der Welt, die er mir zeigen würde. Ja zu allem, außer der Wahrheit. Dass ich seinen Namen schon kannte verschwieg ich. „Suchen Sie ein bestimmtes Buch?“ fragte ich, und er antwortete: „Nein, das tue ich eigentlich nie. Vielleicht wundern Sie sich, dass ich überhaupt nach Büchern schaue, die ich mir kaufen möchte, wo ich doch jedes nur erdenkliche Buch in der Bibliothek stehen habe. Aber es ist ein Unterschied, ein Buch nur gelesen zu haben, und es zu besitzen. Jedenfalls ist das bei guten Büchern so. Denn wirklich gute Bücher versuchen nicht, dem Leser die Eindrücke und Meinungen, ja, die ganze Welt des Autors aufzuzwingen, nein, sie führen den Leser Stück für Stück in seine eigene Welt und zu sich selbst zurück. Ein solches Buch einfach zurück zu geben wenn ein bestimmtes Datum überschritten wird, wäre so, als ob man einen Teil von sich selbst verliert. Natürlich gibt es wenige solcher Bücher. Aber es sind die Ausnahmen, die zählen, und manchmal ist es ein einziger Satz auf tausend Seiten, der den Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Buch ausmacht.“
„Und wenn sie mir ein solches Buch empfehlen würden, welches wäre das?“ Er dachte kurz nach, und dann nannte er mir den Namen eines Buches.
„Sie werden lachen“ sagte ich, „das ist mein Lieblingsbuch. Ich habe es erst diese Woche aus der Bücherei ausgeliehen.“ „Sie haben es erst diese Woche aus der Bücherei ausgeliehen und es ist schon ihr Lieblingsbuch? Haben Sie es denn überhaupt schon zu Ende gelesen?“ Ich war ertappt worden. „Ja, ich habe das Buch schon ein dutzend mal gelesen bevor ich es mir ausgeliehen hatte. Ich habe es mir nur ausgeliehen weil, naja...“. „Ja, ich kann mir schon denken, warum.“ sagte er und lächelte. Nun fühlte ich mich noch mehr ertappt als vorher und ich denke dass man mir das auch ansah.

„Was haben Sie da in ihrer Tasche, wenn ich fragen darf?“ „Ein paar Bücher.“ „Dachte ich mir. Was halten Sie davon wenn ich Sie einlade was trinken zu gehen und sie mir zeigen, welche Bücher das sind. Vielleicht kenne ich das eine oder andere noch nicht.“ Wir gingen in ein nahe gelegenes Café, dass er kannte und suchten uns einen ruhigen Sitzplatz. Er nickte der Bedienung zu und ich dachte, sie werde gleich an unseren Tisch kommen, um die Bestellung aufzunehmen. Aber als Sie kam brachte Sie uns schon unsere Getränke, lächelte ihn an und auch mich, und verschwand dann wieder so unauffällig wie sie gekommen war. Ich begann meine Tasche auszupacken um ihm die darin befindlichen Bücher zu zeigen, als er sich gleich das erste mit Begeisterung nahm und darin zu blättern begann. Plötzlich hielt er inne. „Sie haben hier ja eine Stelle markiert.“ Ich wusste gar nicht, was er meinte, als er zu lesen begann:

„Ich beginne mit der Enthüllung“, sagte der Oberst.„ Hör gut zu, Tochter. Dies ist das oberste Geheimnis. Hör zu. Liebe ist Liebe, und Spaß ist Spaß. Aber es ist immer sehr still, wenn die Goldfische sterben.“

Ich kam mir etwas dumm vor. Ich wusste schon gar nicht mehr mit Gewissheit, warum ich diese Stelle im Text markiert hatte und konnte auch Petronius keine Antwort darauf geben, als er mir diese Frage stellte.
„Es ist schon interessant“, sagte er, „dass du ausgerechnet diese Stelle im Text markiert hast. Das oberste Geheimnis von dem hier die Rede ist, das ist sozusagen so etwas wie das Lebensmotto, oder wie auch immer man das nennen mag, für mich und einige andere Menschen die ich kenne. Wir glauben, dass dieser eine Satz das Geheimnis des Lebens enthält; wer ihn versteht, hat das Leben verstanden.“
„Was seid ihr? Eine Art Club oder sowas?“ Er musste lachen. „Man würde uns auslachen wenn wir uns Club nennen würden. Wir sind so wenige, wir dürften uns eigentlich nicht mal ein Paar nennen. Ich kann dir nicht mal die Nachnamen der anderen Mitglieder nennen, da ich sie nur sehr flüchtig kenne, vielleicht würde ich sie nicht mal auf der Straße erkennen. Wir nennen uns zwar die Philantrophen, aber das hat eher mit Essgewohnheiten als mit einer Überzeugung zu tun. Unser Lieblingslokal heißt...“ „Ja ich weiß“, sagte ich. „Philantrophie.“
„Ahh, du kennst es? Aber ich habe dich dort noch nie gesehen.“ „Ich kenne es nur vom Sehen, aber ich war noch nie drinnen. Es wäre mir auch zu nobel glaube ich.“ Vielleicht ist es eine Eigenschaft der Menschen, sich von den Dingen loszusagen, die man ohnehin nie haben kann, um seine Trauer darüber nicht zeigen zu müssen, sie zu missen.

So oder so ähnlich gestaltete sich mein erstes Treffen mit Petronius, und so sehr ich mir erhofft hatte, dass er mich in meinem Leben weiterbringen und bereichern würde, so sehr hätte ich nun enttäuscht sein können. Ich hatte so etwas wie einen Oscar Wilde der Neuzeit erwartet, einen Menschen der zu nahezu allem etwas zu sagen hat, dass sich zumindest so anhört als sei es geistreich, einen Menschen der einen unterhält, dessen Beliebtheit und Akzeptanz zumindest gerechtfertigt sind. All das war Petronius scheinbar nicht. Er fiel eben dadurch auf, dass er es eigentlich in keinster Weise tat. Dennoch war ich in seinen Bann gezogen. Nun war es nicht mehr sein Puzzle, dass ich vervollständigen wollte, jetzt war es ich selbst, der vervollständigt werden sollte. Und Petronius schien mir die Eintrittskarte in diese Welt zu sein, in der ich mich selbst finden wollte.
Nachdem sich an diesem Tag unsere Wege getrennt hatten, versuchte ich krampfhaft, hinter das Geheimnis der Philantrophen und deren Lebensmotto zu kommen. Liebe ist Liebe, und Spaß ist Spaß. Aber es ist immer sehr still, wenn die Goldfische sterben.
Das Geheimnis des Lebens, in diesem kleinen Satz, den ich nicht verstand. Petronius unergründlicher Charakter war nebensächlich für mich geworden, und längst war die Motivation ihn kennenzulernen eine andere. Und vielleicht war gerade das die Genialität dieses Mannes: Auch mir hatte er genau das gegeben, was ich eigentlich haben wollte. Er sagte mir, wenn du diesen einen Satz verstehst, verstehst du die ganze Welt. Verstehe diesen einen Satz und werde einer von uns, werde Philantroph, werde, was du immer schon sein wolltest: normal. Und hinter diesem scheinbaren Geschenk verbirgt er wieder sich selbst, er lässt keinen an sich heran und baut eine Grenze auf, die man nicht einmal erkennt. Denn: dass er mich in so kurzer Zeit von meinem ursprünglichen Vorhaben so fehlleitete begriff ich freilich erst später.
Denn wer gibt sich schon die Mühe, die Seele eines anderen Menschen zu ergründen, wenn er statt dessen nach seinem eigenen Glück greifen kann? Und so griff ich danach. Für mich bedeutete das in erster Linie, begreifen lernen. Wie kann das ganze Leben in einem so kurzen Satz Platz finden?

Ich recherchierte ob Goldfische in irgendeiner Art und Weise symbolisch für einen anderen, sinnvolleren Begriff stehen konnten, aber fand keinen. Ich versuchte mit allen Mitteln der Vernunft und der Logik hinter das Geheimnis dieses Satzes, hinter das Geheimnis des Lebens zu kommen. Vielleicht suchte ich auf die falsche Weise, oder vielleicht suchte ich etwas, das gar nicht existierte, aber so oder so: ich wurde nicht fündig.
Vielleicht war dies der Punkt in meinem Leben, an dem ich begriff, dass dies vielleicht die einzige Möglichkeit war, das Leben so schnell erfassen und begreifen zu können, und diese Möglichkeit hieß Petronius. Es gab keinen anderen Weg in seine Welt als den durch ihn. Bei unserem letzten Treffen waren wir auf unbestimmte Zeit freundschaftlich miteinander verblieben. Keine weiteren Treffen waren geplant oder besprochen worden. Ich verbrachte einige Zeit mit Warten. Ich mied die Bibliothek, da ich hoffte und erwartete, dass Petronius den ersten Schritt tue, ein weiteres Treffen zu vereinbaren. Und an dem Tag, da mich das stetige Warten soweit gebracht hatte, doch die Bücherei aufzusuchen, fand ich in meinem Briefkasten einen handgeschriebenen, kleinen Zettel, von Petronius an mich. Er lud mich zu einem Treffen in seine Wohnung ein und ich hoffte, bei diesem Treffen über den Sinn der Worte aufgeklärt zu werden, die das Motto der Philantrophen waren.
Bereits im Vorfeld hatte ich diesen Abend in meinem Kopf zu etwas besonderem gemacht, zu einer Art Schlüsseldatum, an dem sich mir die Mysterien dieses einen Satzes und der Welt, die ich nicht verstand, offenbaren würden. Das Gespräch an diesem Abend sollte so etwas wie ein Zeichen der Initiation werden, ein Aufgenommenwerden in die Welt, den Club, die Philantrophen. Dann kam besagter Abend. Ich ging zu Petronius Wohnung, achtete darauf, weder zu früh noch zu spät zu kommen, klingelte, und als er mir öffnete war die Feier bereits in vollem Gange.
Ich dachte, ich sei der einzige, den er heute Abend eingeladen hatte, aber ich war nur einer von vielen. Er bat mich herein und ich folgte ihm in seine Wohnung. Das Stimmengemurmel und die Musik wurden immer lauter, und dann, in seiner Wohnung schien mir der Himmel auf den Kopf zu fallen als ich diese Menschenmasse sah. Nie hätte ich gedacht dass so viele Menschen auf so engem Raum Platz finden würden.
Ich sah Petronius an, ich war enttäuscht von ihm, doch er schien durch mich hindurch zu sehen. Er sah sich in den Räumlichkeiten seiner Wohnung um, sah all die Menschen die nur seinetwegen hier waren und genoss es, das Stimmengemurmel und die ausgelassene Heiterkeit, als sei es eine Bestätigung seiner selbst. Aber was sollte ich hier?

Ich war gekommen, das Geheimnis des Lebens zu erfahren, das Motto der Philantrophen zu erlernen und vielleicht selbst einer zu werden. Er sprach ein oder zwei unbedeutende Sätze mit mir, sagte mir wo ich meine Jacke ablegen könne und dann ging er, verschwand in der Menge und ging den Tätigkeiten nach, denen man eben nachgehen muss wenn man will, dass alle auf ihre Kosten kommen. Ich behielt meine Jacke an, mir war kalt und ich wusste nicht, ob ich in zehn Minuten nicht schon wieder verschwunden sein würde.
Ich suchte mir einen Ort im Raum, an dem ich mich hinstellen und alles beobachten konnte, ohne jedem im Weg herum zu stehen. Es ist so einfach, in einem menschenüberfüllten Raum einsam zu sein. Um ehrlich zu sein: Die Momente in meinem leben in denen ich mich am einsamsten fühlte waren immer die, in denen ich mich in einer Menschenmasse befand. Ich war nur selten einsam, wenn ich alleine war.

Ich sah mich um und suchte nach Menschen, die ich vielleicht kannte, zumindest vom Sehen. Nach einer Weile erkannte ich das Mädchen, das Petronius und mich bedient hatte, als wir in dem Café etwas trinken waren. Sie schien mich nicht zu erkennen, aber das wunderte mich nicht. Was ich nicht wusste: Das Mädchen, das als Aushilfe in der Bibliothek arbeitete, die ohne mein Wissen mein Gedicht gelesen hatte war an diesem Tag auch hier. Sie erkannte mich. Ich war es, der sie nicht bemerkte, obwohl ich sie schon hunderte Male gesehen hatte. Sie fiel einfach nicht auf in der Menge.
Und so verging die Zeit, die Musik änderte sich von Zeit zu Zeit, die Gespräche wurden mal leiser und mal lauter, die zehn Minuten waren längst vergangen und ich war immernoch hier, ohne mit einem Menschen gesprochen zu haben. Mir schien es sogar, als sei ich nicht ein einziges Mal von einem anderen Menschen berührt worden, seit ich hier bin. Nicht einmal ein zufälliges aneinander streifen, und das, obwohl man kaum genug Platz zum Atmen hatte. Als sei ich von ihnen abgeschirmt.
Ich wusste nicht, warum ich noch nicht gegangen war. Vielleicht war es die Hoffnung, einer der vielen Menschen in diesem Raum könnte auf einmal zu mir kommen und mich aus meiner Einsamkeit fortreißen. Denn obwohl ich von allen Menschen in diesem Raum der wahrscheinlich unscheinbarste war, hatte ich das Gefühl, als müssten alle Augen auf mich gerichtet sein. Ich dachte ich müsse in dieser Menschenmenge auffallen. Jeder, der den Raum betrat müsste mich doch zuerst sehen. Aber dem war nicht so, und die einzigen Augen, denen ich an diesem Abend keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, waren die, die mich nicht außer acht ließen.
Und ich beobachtete nicht nur das Geschehen in diesem Raum, ich beobachtete auch die Entwicklung in allem, was hier vor sich ging und versuchte es in meinem Kopf zu ordnen und zu erklären. Welche zwei Menschen sich an diesem Abend näher gekommen waren, welche Pärchen plötzlich miteinander verschwanden, wo Blicke getauscht wurden, die mehr besagten, als ich in meinem ganzen Leben in Worte fassen könnte, die Kellnerin war umworben von gleich mehreren Männern die ein schnelles Abenteuer suchten: Unter Tischen wurden Bande geschlossen und ein Zwinkern genügte, um eine Verabredung zu treffen um den Rest der Nacht miteinander zu verbringen.
Als mir klar wurde wie weit abseits ich mich von diesem Trubel dieses Erdenlebens befand, wurde mir beinahe übel und ich beschloss zu gehen. Ich ging zur Eingangstür und als ich mich umdrehte um im stillen „lebwohl“ zu sagen, stand Petronius vor mir. Lebwohl, das Wort das man sagt, wenn man einen Menschen den man liebt für immer verlässt.

Dieser Moment, das war mir klar, würde ausschlaggebend für den Rest meines Lebens sein. Jetzt kam es darauf an, sich zu entscheiden! Ich sah Petronius in die Augen, dann sah ich in den menschenüberfüllten Raum und sah das fröhliche Treiben und die ausgelassenen Gesichter, sah das Tanzen und hörte ihr Lachen, sah ihre Küsse und Umarmungen und musste mit den Tränen kämpfen, da ich wusste, dass es wahrscheinlich doch nicht meine Entscheidung war, die mir diese Welt verschloss, zumindest nicht die, die ich hier und jetzt treffen würde. Es schien, als ob ich mich vor langer Zeit, vielleicht im Moment meiner Geburt oder auch schon einige Zeit davor, gegen diese Welt und alles was damit zusammenhängt, entschieden habe. Aber zugunsten von was?
Wieder sah ich Petronius in die Augen, und diesmal sah er nicht durch mich hindurch. Er sah alles, jeden Gedanken den ich jetzt dachte, den ich an diesem Abend gedacht hatte: Petronius sah alles, sah in meine Seele und erkannte meine Verzweiflung. Sein Blick wurde sehr ernst, ich erkannte Mitleid in seinen Augen als er sich vornüber beugte und begann, in mein Ohr zu flüstern: „Ich weiß, weswegen du hier bist. Ich weiß, weswegen du so verzweifelt bist. Es ist das Geheimnis der Philantrophen, dass dich nicht zur Ruhe kommen lässt, das Geheimnis des Lebens. Du kannst an nichts anderes denken, als an diesen einen Satz, hab ich recht?“
Ich nickte.
„Pass auf, hör gut zu, ich werde dir hier und jetzt das Geheimnis dieses einen Satzes, das Geheimnis des Lebens erklären. Willst du das?“
Wieder nickte ich, er kam ein Stück näher zu mir heran, und ich hörte wie er etwas sagte, aber ich konnte es nicht verstehen. Das Gemurmel und die Musik die den Raum füllten waren zu laut geworden, obwohl ich alles was er vorher im Flüsterton gesprochen hatte problemlos verstanden hatte. Nach ein paar Sekunden hörte er auf zu reden und fragte mich als es wieder leiser geworden war, ob ich ihn verstanden habe.
Und ich weiß nicht warum, aber ich sagte: „Ja, das hab ich.“ Ich hatte kein Wort von dem gehört, was er gesagt hatte, aber vielleicht war ja das das Geheimnis der Philantrophen und die Mystik des Lebens: Ja zu sagen. Vielleicht reichte das, um Philantroph zu werden. Um das Leben so leben zu können, wie es alle anderen hier auch taten reichte es vielleicht aus, das Leben zu bejahen, auch wenn man es nicht verstand, nicht soviel nachzudenken. Vielleicht musste man dazu in der Lage sein über sich selbst und die ganze Welt zu lachen. Einfach loslassen und den Tanz des Lebens lernen.

Und ich tanzte. Ich drehte mich im Kreis und stampfte mit den Füßen, schwang meine Hüften und wackelte mit dem Kopf, ich tanzte wie ein tanzender Stern der aus dem Chaos geboren wird. Ich geriet beinahe in Ekstase so befreiend war dieses Gefühl, die Musik und der Rhythmus, die Melodie und überhaupt alles gingen mir in Fleisch und Blut über als sei ich der Seismograph meiner Umgebung.
Ich kam von einer Tanzpartnerin zur nächsten, tanzte mit der einen zu jener Musik und mit einer anderen zu dem nächsten Lied das gespielt wurde. Jede von ihnen schenkte mir ihr schönstes Lächeln, jede sprach mit ihrem ganzen Körper zu mir und diese Sprache kannte kein Wort der Ablehnung oder der Verneinung. Mit einem Mal fand ich mich in den Armen der strahlend schönen Kellnerin wieder, tanzend zu einem langsamen Lied in einem mittlerweile fast menschenleeren Raum. Die meisten anderen Gäste waren bereits gegangen, der Gastgeber selbst war bereits mit einer anderen Dame irgendwohin verschwunden. Ehe ich es richtig bemerkt hatte küsste mich das Mädchen mit dem ich so eng umschlungen tanzte, so als sei es das natürlichste auf der Welt und eine logische und ganz natürliche Folge der Geschehnisse dieses Abends. Ich küsste sie zurück. Küsste sie und das Leben, küsste meinen scheinbar neuen Platz in der Welt. Und so wie das Geheimnis der Philantrophen zum Tanzen führt und das Tanzen zum Küssen, führte das Küssen mich und das Mädchen nach Hause in ihre Wohnung.
In dieser Nacht begann es zu regnen, aber das bemerkte ich natürlich nicht. Ich tanzte im Schein der Sterne.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.02.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Den Wind jagen: Haiku von Heike Gewi



Alle Haiku-Gedichte in "Den Wind jagen" von Heike Gewi sind im Zeitraum von Januar 2008 bis 2012 entstanden und, bis auf einige Ausnahmen, als Beiträge zur World Kigo Database zu verstehen. Betreiberin dieser ungewöhnlichen Datenbank ist Frau Gabi Greve. Mit ihrer Anleitung konnte das Jemen-Saijiki (Yemen-Saijiki) systematisch nach Jahreszeitworten für Bildungszwecke erstellt werden. Dieses Jahr, 2013, hat die Autorin die Beiträge ins Deutsche übersetzt, zusammengefasst und in Buchform gebracht. Bei den Übersetzungsarbeiten hat die Autorin Einheimische befragt und dabei kuriose Antworten wie "Blaue Blume – Gelber Vogel." erhalten. "Den Wind jagen" heißt auch, Dinge zu entdecken, die sich hoffentlich nie ändern. Ein fast unmögliches Unterfangen und doch gelingt es diesen Haikus Momente und zeitlose Gedanken in wenigen Worten einzufangen und nun in dieser Übersetzung auch für deutschsprachige Leser zugänglich zu machen.

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