Jörg Fischer

Die Frage

„Was soll das heißen?“ Die Frage war ausgesprochen. Und was nun? Ich sehe in das Gesicht meines Gegenübers und versuche zu entschlüsseln, was in ihm vorgeht. Doch ist das überhaupt möglich? Geht das so einfach vonstatten? Ist ein Mensch tatsächlich in der Lage, aus den Zügen eines anderen dessen Emotionen oder gar Gedanken zu lesen?
Ist es nicht vielmehr vermessen, solch göttliche Fertigkeit seinem eigenen Können zuzuschreiben? Und doch vermeine ich, dass die Gesichtszüge meines Gegenübers eine deutliche Sprache sprächen. Mein Blick versucht, jede Kontur im Gesicht des Anderen zu erkennen. Da! Eine Regung! Wenn das nicht... Aber kann das überhaupt sein? Die Frage ist doch vor allem: Was glaube ich? Betrüge ich mich etwa selbst, da ich dies alles in Wahrheit gar nicht einsehe? Aber die Augenbrauen hatten sich erhoben und ich dachte wirklich etwas wie Erstaunen oder gar Verwirrung in seinem Blick gelesen zu haben.
Nun, das mochte reine Einbildung sein. Vielleicht hatte all dies nur stattgefunden, weil ich es mir selbst gewünscht habe, es mir einredete. Doch setzt dies nicht auch voraus, dass ich auch daran glaube? Kann ich mir etwas wünschen, ohne daran zu glauben? Eine weitere Frage, die mir wohl keiner beantworten kann. Wohin soll mich das noch führen? Ich muss diese Gedanken abschütteln.
Mein Gegenüber fährt sich mit der Hand durch die Haare und kratzt sich am Kopf.
Ist dies nicht eine gemeinhin bekannte Geste der Nachdenklichkeit? Ist dies womöglich mein erster echter Ansatz richtiger Deutung? Das kann doch kein Irrtum sein, da so viele Menschen es bereits beobachtet und eindeutig eingeordnet haben. Man schaue nur einmal in einen Roman, wo solcherlei Gesten gerne sprachlich umgesetzt werden. Aber kann man eine von Menschen gemachte Feststellung wirklich als unumstößlich erachten? Dies wäre doch frevlerisches Gedankengut, da der Mensch fehlbar, die Unfehlbarkeit aber nur Gott zu Eigen ist. Ich befand mich also in einer wahrlich misslichen Lage. Was soll ich tun? Komme ich aus diesem Teufelskreis der Gedanken jemals heraus?
Da fährt mir auch schon die nächste Frage durch den Kopf. Was ist, wenn man gar keinen Glauben besitzt, also auch nicht an die göttliche Unfehlbarkeit glaubt? Ist es dann noch vermessen, wenn man sich in der Lage sieht, des anderen Gedanken aus den Gesichtszügen lesen zukönnen? Mit göttlicher Macht vermag man dann nicht mehr in Konflikt zu geraten, oder? In diesem Fall ist man fein raus. Die Gedanken sind frei!

„Wussten sie es etwa noch nicht?“ Die Antwort kommt unvermittelt. Sie reißt mich aus meinen Gedanken. Was war das? Eine Gegenfrage, wo ich doch nur klare Antworten will? Noch mehr Fragen! Stellt den jeder Mensch ständig Fragen ohne eine wirkliche Antwort zu kennen? Aber wenn der Mensch nicht fragen würde...
Ich ertappe mich dabei gedankenverloren auf meine Fußspitzen zu blicken.
Mein Gegenüber und den Inhalt des Gesprächs habe ich mittlerweile vollends vergessen.
Aber diese Frage will nicht aus meinem Kopf, lässt mich keinen klaren Gedanken fassen:
Was wäre, wenn...
„... wenn der Mensch keine Fragen stellen und alles so hinnehmen würde, wie er es vorfindet? Was wäre, wenn der Mensch nichts hinterfragte und alles so beließe, wie es ihm äußerlich erscheint? Dann, mein Freund, würde dies Gespräch nicht stattfinden. Niemand hätte sich mit der Wissenschaft auseinandergesetzt und all die Errungenschaften der Menschheitsgeschichte wären nie entstanden. All das, was menschsein bedeutet, würde nicht sein. Doch noch viel wichtiger will mir scheinen, dass es auch keinen Glauben geben könnte. Und ohne Glauben irren wir durchs Nichts, ohne die Möglichkeit, Halt zu finden.
Ohne Glaube kann der Mensch nicht sein, da dies das Menschsein widerlegt. Denn niemand würde hinterfragen, wenn er nicht an irgendetwas glauben würde.“
Ich blicke mein Gegenüber verblüfft an. Habe ich mich verhört? Es ist ja wohl kaum möglich, dass er meine Gedanken lesen konnte. Oder doch? Ich blickte ihm ins Gesicht. Doch außer einem freundlichen Lächeln war nichts in ihm zu lesen. Vielleicht wollte ich, dass meine Frage Beantwortung fand und wünschte es mir so sehr, dass ich es aus dem Munde meines Gesprächspartners zu vernehmen glaubte. Doch wie auch immer die Antwort auf dieses Rätsel ausfallen mochte, was viel wichtiger ist: Ich glaube. Und nun weiß ich auch, dass ich endlich die Antwort erhalten habe, nach der mein Geist so sehr hungerte. Ja, nickte ich zufrieden. Endlich habe ich die Antwort. Aber ist das wirklich alles? Das scheint mir unmöglich. Denn schließlich gibt es schon die nächste Frage.
So ist es, denke ich. Es wird immer Fragen geben solange es Menschen gibt.

Tja, wenn ich jetzt sagen soll, wie diese Geschichte entstand, so kann ich nur eines sagen: Es kam so über mich! Ich freue mich auf jedenfall über Reaktionen. Viel Spass weiterhin.
Jörg Fischer, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.02.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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